Im Wiener Stephansdom hängt derzeit ein gigantisches Fastentuch. Jan-Heiner Tück betrachtet es als ein Gewebe menschlicher Leidensgeschichten.
Das 11 x 5 Meter große Fastentuch der slowenischen Künstlerin Eva Petrič (geb. 1983) trägt den Titel „Collective Heart“. Es ist eine Collage aus Hunderten von Spitzendecken und gestickten und gehäkelten Webarbeiten, die zu einem großen Tuch zusammengenäht und verknotet sind. Es verdeckt den frühbarocken Hochaltar des Doms samt dem großformatigen Bild der Steinigung des hl. Stephanus von Tobias Pock.
Die Spitzendecken sind in geduldiger Andacht zumeist von Frauen gehäkelt worden.
Man könnte sagen, dass es sich um einen bunten Stoffteppich handelt, der die vielen kleinen Passionsgeschichten der Menschen zusammenbringt und diese vor Gottes Angesicht trägt – wobei die Semantik des lateinischen Wortes passio bekanntlich sowohl das ‚Leiden‘ als auch die ‚Leidenschaft‘ umschließt. Das Fastentuch kann daher als vielgestaltiges Webmuster gedeutet werden, das menschliche Leidenschaften, Träume und Erwartungen, aber ebenso Leiden, Enttäuschungen und Verzweiflung verknotet und vernetzt. Die Spitzendecken sind in geduldiger Andacht zumeist von Frauen gehäkelt worden. „Das Besondere an dieser Objektgattung ist“, wie Aleida Assmann vermerkt, „ihre Unscheinbarkeit; die Deckchen zieren das Wohnzimmer, sie sind Platzhalter und dienen als Unterlage, und obwohl sie oft äußerst kunstfertig und feingliedrig sind, sind sie kaum je ein Gegenstand der Bewunderung und Wertschätzung.“ Diese kaum je angemessen gewürdigte Arbeit wird sichtbar gemacht, das Unscheinbare öffentlich ausgestellt.
Kleine Fehler im Muster der Näharbeiten – ein Anzeichen für die Fehlbarkeit des Menschen?
In der Erläuterung zum Fastentuch erfährt man, dass die Künstlerin die Spitzendecken und Stoffe auf Flohmärkten in ganz unterschiedlichen Orten der Welt zusammengekauft hat. Die Collage bietet damit so etwas wie eine Kollokation – eine Vernetzung diverser Orte, an denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden und andere kulturelle Codes das Verhalten bestimmen … Oft gibt es kleine Fehler im Muster der Spitzen und Näharbeiten, die der Betrachter oder die Betrachterin mit bloßem Blick allerdings nicht erkennen kann. Ein Anzeichen für die Fehlbarkeit des Menschen, die Umwege, die er geht? Oder Index für die „Wanderdünen“ seines Gedächtnisses, das sich mit der Zeit verändert und verformt, manches nicht mehr wahrhaben will, Lücken und Löcher bekommen kann?
Die konnektive Dimension der Memoria fällt durch die Verknotungen sichtbar ins Auge.
Der Faden der Erinnerung vernäht und verknotet im Fastentuch aber nicht nur diverse Orte zu einer Erinnerungslandschaft, sondern er verknüpft auch unterschiedliche Zeiten zu einer Synopse. Die Stoffe und Näharbeiten, die in der Collage von Eva Petrič zusammengebunden wurden, sind unterschiedlich alt. Kostbare Spitzendecken aus vergangenen Jahrhunderten – gewissermaßen „Reliquien“ verstorbener Näherinnen und deren Lebenswelten – sind ebenso dabei wie farbige Tücher von heute, die dem flüchtigen Wandel der Mode folgen mögen. Die generationenübergreifende Kraft der Erinnerung, die Menschen von heute mit Menschen von damals zusammenbindet, wird durch das Fastentuch eindrücklich visualisiert. Zugleich ist aber auch das wechselseitige Aneinanderdenken und Füreinandereinstehen von Zeitgenossen zum Ausdruck gebracht, die an weit voneinander entfernten Orten leben und ihre Lebensgeschichten miteinander teilen. Diese konnektive Dimension der Memoria fällt durch die Verknotung der unterschiedlichen Decken und Tücher sichtbar ins Auge. Die Nähte und Knoten, die die unterschiedlichen Tücher zusammenhalten und etwas Chaos in die ästhetische Ordnung der wohlstrukturierten Stoffe bringen, machen aber auch Erinnerungswunden und -narben sichtbar, legen Konflikte und Traumata frei, deren Heilung noch aussteht. Dem geläufigen Wort „Die Zeit heilt die Wunden“ setzt das Fastentuch ein filigraner Gewebe entgegen, das die „Wunden der Zeit“ öffentlich ausstellt und dem Betrachter zur Durcharbeitung empfiehlt – ganz im Sinne des Diktums von George Santayana: „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“
… ins Lila der österlichen Bußzeit getaucht…
Nicht ohne Bedeutung für die Installation des Fastentuchs ist die wohl kalkulierte Beleuchtung, die die Künstlerin ihrem Werk gegeben hat. Es wird an einigen Stellen durch elektrische Strahler in lila Licht getaucht – Lila: die liturgische Farbe der österlichen Bußzeit, die den homo viator zur Umkehr und Erneuerung einlädt, den Kompass des Lebens neu auszurichten. Andere Stellen des Fastentuchs hingegen erscheinen in dem Licht, das durch die gotischen Kirchenfenster des Presbyteriums hereindringt und dessen Intensität von der jeweiligen Tageszeit oder Witterung abhängig ist. Die Beleuchtung verbindet so Tradition und Moderne, die durch das Glas gebrochene Lichtarchitektur des Hochmittelalters und die oft grelle Scheinwerfertechnik der Gegenwart.
Das „Collective Heart“ der Menschheit – hineingehalten in die österliche Hoffnung
Das Fastentuch hängt, das darf schließlich nicht übersehen werden, in der Apsis der mittelalterlichen Kathedrale. Es ist damit, wie der Kirchenraum insgesamt, auf Osten hin ausgerichtet. Ex oriente lux. Die aufstrahlende Sonne am frühen Morgen ist das Symbol für den auferstandenen Christus, Zeichen der Hoffnung auf ein Leben, das keinen Tod mehr kennt. Der Flickenteppich der Passionen, der bunte Stoff, aus dem die Geschichten der Menschen gewebt und verknotet sind, wird so hineingehalten in die österliche Hoffnung auf rettende Verwandlung. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir – inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te“, hat Augustinus in seinen Confessiones geschrieben. Ob das am Ende auch für das „Collective Heart“ der Menschheit gilt, das Eva Petrič in ihrem Fastentuch so eindrücklich vor Augen gestellt hat?
Anmerkung: Eine erste Fassung dieses Textes erschien in „Christ in der Gegenwart“.
Bild: Bilder des Fastentuchs © Angela Ringhofer/Erzdiözese Wien/Stephansdom.