Am Jahreswechsel wird mit dem Glück gespielt. An der Schwelle zum neuen Jahr, in der Kultur der Silvesternacht, sind einige kleinere Rituale angesiedelt, die das „Glück des Lebens“ zum Thema machen und ihm Gestalt verleihen. Das Benennen von guten Vorsätzen gehört beispielsweise dazu. Menschen reflektieren, was im neuen Jahr auf sie zukommt und welche guten Ziele sie anstreben möchten. Christian Kern zu Ritualen des Scheiterns.
Auf die Frage, welche Vorsätze man sich vorgenommen hat, erzählt man von seinen kleinen und größeren Projekten, den Vorhaben oder den heimlichen Träumen und bringt so pars pro toto zum Ausdruck, welches Gelingen man sich für die kommende Zeit verspricht und welches Glück man sich darin erhofft. Mit den guten Vorsätzen gehen gute Wünsche einher. Neben „Ein frohes neues Jahr!“ oder „Viel Glück!“ zählt „Einen gut’n Rutsch!“ zu den Klassikern der Neujahrswünsche.
Auch das Bleigießen gehört dazu. Gerade bei Feiern junger Leute zählt es zu den weit verbreiteten spielerischen Ritualen der Silvesternacht. Auf einem kleinen Metalllöffel werden die Bleiklumpen oder Bleifiguren über einer Kerze geschmolzen. Das flüssige Schwermetall wird dann mit einer kurzen Bewegung der Hand in kaltes Wasser geschnickt oder sachte darin eingeträufelt. Im Zischen und Fauchen des Wassers gerinnt das Metall und nimmt bizarre, explosive, anschmiegende oder figürliche Formen an. Dann wird gedeutet, was die Gestalt besagt und für das kommende Jahr verheißen könnte.
Die „Beipackzettel“ der handelsüblichen Sets zum Bleigießen geben dann auch eine „Legende“ an die Hand, um die Zeichen der kommenden Zeit einordnen zu können. Man sieht, was sich zeigt, und deutet es spielerisch fabulierend aus.
In den Ritualen des Jahreswechsels wird aber nicht nur mit Glück gespielt, auch mit dem Gegenteil: dem Unglück. Denn es macht nur Sinn, sich über Glücksvorstellungen auszutauschen, sich Glück zu wünschen, oder sich beglückend überraschen zu lassen, wenn nicht auch das Gegenteil eintreten könnte: das Unglück. Im Spiel mit dem Glück konfrontiert man sich mit dessen Gegenseite. Im euphorischen, beglückenden Licht des Silvesterabends trifft man insgeheim auch auf den Schatten des Lebens. Im ungewissen Neuen des kommenden Jahres zeichnet es sich als Möglichkeit ebenso wie sein Gegenüber ab.
Mit dieser Dichotomie aus Glück und Unglück geht eine zweite einher, jene aus Gelingen und Misslingen bzw. Erfolg und Scheitern. Sie ist mit dem Glück/Unglück verschränkt und darin eingewoben, allerdings ohne mit ihr identisch zu sein. Denn einerseits hängen Lebensglück und Gelingen, Lebensunglück und Scheitern jeweils miteinander zusammen. Das Gelingen der eigenen Vorhaben und das geplante Erreichen der eigenen Ziele – der Erfolg – tragen zum Lebensglücks bei. Ihr Misslingen erzeugt bis zu einem gewissen Maß Unglück.
Andererseits sind Glück/Erfolg sowie Unglück/Scheitern gerade nicht deckungsgleich. Denn zum Lebensglück gehört aller Erfahrung nach mehr als das Gelingen der eigenen Pläne. Es konstituiert sich durch eine Vielzahl von Faktoren, die dem menschlichen Planen nicht unterliegen und sich einer völligen Verfügbarkeit entziehen. Die Erfahrung von Unglück ist ebenfalls nicht allein dem Scheitern der eigenen Handlungen zuzuschreiben. Es gibt die Wechselfälle und „Schicksalsschläge“ des Lebens, die sich der eigenen Verfügung entziehen. Man bekommt es hier mit dem Problem der Kontingenz zu tun, der nonkausalen, unbestimmbaren Fragmentarität und Unverfügbarkeit des Lebens.
Insofern führt das Glückwünschen am Jahreswechsel an die Erfahrung der eigenen Endlichkeit heran. Lebensglück/Lebensunglück hängt an der Frage, wie man sich zu seiner eigenen Endlichkeit verhält, der Unverfügbarkeit des Lebens. Freilich kann man einerseits eine gänzliche Verfügbarkeit des Lebens anstreben und damit auf durchschlagenden Erfolg setzen. Dies wird sich angesichts der Kontingenzerfahrungen vermutlich als utopisch erweisen. Man kann andererseits diese Unverfügbarkeit anerkennen und sich damit eine Art Scheitern an der Verfügbarkeit und Planbarkeit des Lebens eingestehen. Glück wird dann gerade an dieser eigenen Grenze erfahrbar und denkbar. Es ist das, was einem „zufällt“ aus dem Außenbereich der eigenen Verfügung über das Leben und seinen Dingen, als ein Außen, das sich im Innen einstellt.
Um glücklich zu leben, muss man deshalb eine paradoxale Kompetenz besitzen: die Kompetenz, „scheitern zu können“. Sie ist paradoxal, weil sie eine Fähigkeit impliziert, die gerade in einer Nicht- Fähigkeit besteht. Sie verheißt Glück, indem sie Unglück zumutet. Insgesamt wird so ein chiastisch verschränkter Spannungsraum aufgezogen, der aus den Wechselverhältnissen von Glück und Scheitern, Erfolg und Unglück besteht. Glück kommt mit dem Scheitern, Unglück mit dem Erfolg.
Die Rituale zum Jahresbeginn spielen also nicht bloß mit dem Glück, sie spielen insgeheim auch mit dem eigenen Scheitern. Dieses wird in ihnen als eine Grenz- bzw. Differenzerfahrung eingeschleust, die unterschwellig im Spiel ist. Zugleich kaschieren die Rituale das Scheitern, weil sie sich der positiven Erfahrung des Glücks zuwenden und die Hoffnung ausdrücken, dass die Lebensgestaltung gelingt, dass sich Erfolg und Glück decken und man dem Scheitern entrinnen könne. In diesem Sinne betreiben sie eine Mythifizierung ( Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Berlin 32015, z.B. Kap. „Astrologie“, 216-219) des Glücks als Handhabbares.
Man kann das am Bleigießen exemplarisch durchspielen. Das „Bleispiel“ ist ein Beispiel für diese Art des „Glücksspiels“. Wenn sich das Blei auf dem Löffel verflüssigt hat, wird es ins Wasser gekippt. Die Spieler tun das auf ganz unterschiedliche Weise. Die einen schnicken es schwungvoll hinein, andere gießen es vorsichtig aus, andere lassen es langsam eintröpfeln. Es gibt Strategien und Taktiken des Bleigießens. Sie versuchen, das Unberechenbare und Offene zu beherrschen und eine Ordnung zu erzeugen, die möglichst dem eigenen Willen zum Leben und Gestalten entspricht. Sie zielen auf Erfolg ab.
Auf der anderen Seite aber wartet das Unberechenbare und Unverfügbare: Das Blei fließt und reagiert wie es will. Es nimmt entweder schnell und explosionsartig seine Formen an, oder langsam und zähflüssig. Gestalten entstehen, die so nicht vorhersehbar waren.Die Reaktionen und Gestaltungen im Wasser entziehen sich. Die Produktionsbemühungen der Gießenden scheitern – wenigstens graduell – am Unberechenbaren des auskühlenden Bleis im Wasser.
Das Bleigießen spielt mit dieser spannenden Differenz aus Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, es spielt mit fortune. Nach dem Gießen und Auskühlen beginnen die Spieler dann einen zweiten Prozess: Jetzt wird interpretiert, was zu sehen ist. Meistens sind keine klaren Formen erkennbar. Aber genau deshalb setzt das geronnene Blei jetzt spannende Interpretationsprozesse frei. Die Lust am Scheitern wird kreativ. Rund um den unförmigen Klumpen oder die nichtssagenden Tropfen entspannen sich Konstruktionen, die deuten, was sich gezeigt hat, und aussagen, was es enthalten könnte. So nimmt das unförmige Blei ganz besondere Formen an und entwirft eine mögliche Identität als Fabel. Das Bleigießen spielt – analog wie die andern Glückrituale des Neujahrs – mit dem Scheitern. Das Gießen und Wünschen wird zu einem Differenzzeichen des Lebens. Es spielt mit dem Erfolg, es spielt mit dem Scheitern und es verbindet spielerisch die Frage nach dem Glück des Lebens mit seinem Ernst.
Semantik des Scheiterns
Die Molybdomantie, das Bleigießen, in der Art wie sie in den Silvesternächten praktiziert wird, ist streng genommen keine Mantik. Mantiken deuten die Zeichen und verheißen darin ein Vorausbild der Zukunft. Dem Mantiker wird dabei die Autorität zugeschrieben, in den Zeichen das erst noch Ankommende zu antizipieren und zu erkennen. Es mag nun auch in der Silvesternacht Menschen geben, die daran glauben, dass die Formen des Bleis tatsächlich Einblicke in die Zukunft eröffnen. Das Gros der Bleigießer jedoch sieht das (nach allem, was man auf Silvesterfeten erleben kann,) nicht so.
Das Bleigießen ist für sie kein Fenster in die Zukunft. Sie betreiben keine Mantik und keinen Aberglauben. Vielmehr dient das Bleigießen – wie auch die anderen Glücksrituale der Silvesternacht – der gegenwärtigen Lebenssituation der Akteure an der Schwelle zum neuen Jahr. Es ist keine Technik der Zukunftsvision, sondern eine Technik der Selbstsorge (epimeleia heautou, Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Dits et Ecrits IV. Schriften 4, 1980-1988, Frankfurt a.M. 2005, 966-999) im prekären Moment zwischen den Zeiten.
Das Zeichen des Bleigießens konfrontiert in diesem Sinne mit der Unverfügbarkeit, in der das Material im kalten Wasser gerinnt. Es konfrontiert darin zeichenhaft mit der Endlichkeit der eigenen Planungsbemühungen und ihrem möglichen Scheitern. Es reicht hinein in die Unverfügbarkeit und Offenheit der Zukunft. Man setzt sich im Bleigießen dieser Unverfügbarkeit aus und erlebt bzw. erleidet sie exemplarisch im Kleinen. Aber gerade indem man das tut und sich im Bleigießen auf die Unvorhersehbarkeit einlässt, gibt man ihr eine Gestalt. Man erfasst sie und formt sie. Die Unvorhersehbarkeit und Unverfügbarkeit des Lebens werden darin als solche verfügbar. Das Bleigießen gibt zeichenhaft Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Rund um den Neujahrstag gibt es ein ganzes Bündel solcher Praktiken. Sie alle befassen sich in analoger Weise mit der offenen Zukunft. Was für das Bleigießen exemplarisch gilt, trifft auch auf die anderen Glücksrituale und -wünsche zu: Sie geben dem Formlosen eine Form, sie ermöglichen eine Verfügbarkeit des Unverfügbaren, sie lassen ein Begreifen des Nicht-Begreifens zu. Sie sind insofern Zeichen, denen es gelingt zu scheitern, indem sie erfolgreich das Unverfügbare fassen.
Wer solche Rituale praktiziert, übt sich spielerisch in den Umgang mit dem Unvorhergesehen der Zukunft ein. Man stabilisiert sich in ihnen angesichts einer unverfügbaren Offenheit, indem man diese von außen verinnerlicht und umstülpt. Die Unverfügbarkeit wird zur Möglichkeitsbedingung einer Selbstkonstitution. In genau diesem Sinne sind die Glücksrituale am Jahresbeginn Techniken der Selbstkonstitution und der Selbstsorge im spielerischen Umgang mit den Kontingenzerfahrungen des Lebens und dem Scheitern der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Glücksrituale sind kein Glaubensbekenntnis an eine antizipierte Zukunft, sondern Selbstbekenntnisse in der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Sie artikulieren insgeheim die Hoffnung, dass die kommende Zeit lebbar und gestaltbar wird. Sie wissen um die Prekarität und Arbitrarität ihrer Konstruktion.
Darin liegt schließlich auch etwas Transformatorisches. Im Ritual beginnt man, das Unvorhergesehene zu erwarten. Man stellt sich bewusster darauf ein und nimmt so eine Haltung ihm gegenüber an. In diesem Sinne verändert man sich, um in den anstehenden Veränderungen zu bestehen. Die Veränderung konstituiert. Im Bleigießen wird es sinnfällig: Wie das flüssige Blei äußerlich eine feste Form annimmt, so nehmen die Gießenden innerlich eine Haltung an, die sich gerade angesichts des unfassbaren Kommenden bildet.
Die Rituale berühren dabei ein Lebensgefühl bzw. eine Lebensbedingung von Menschen der späten Moderne, die liquidity. Wie sich das Blei auf dem Löffel über der Kerze verflüssigt und wie das Wasser bereits flüssig ist, welches das Blei beim Gießen auffängt, so verflüssigen sich auch die Rahmenbedingungen des Lebens. In diesem Sinne hat Zygmunt Bauman von der „flüssigen Moderne“ (liquid modernity) gesprochen, also von gesellschaftlichen Transformationsprozessen, in denen sich stabile Referenzrahmen der Lebensgestaltung aufheben und verflüchtigen. Wie auch im Blei liegt darin etwas Giftiges, weil das Verflüssigen und Verdunsten die Lebensgestaltung erschwert und zerrinnen lässt. In den Glücksritualen wird diese liquidity des Lebens berührt und ein spielerischer Umgang damit gesucht.
Ulrich Beck zufolge führt die Auflösung gesellschaftlicher Referenzrahmen zu einer erhöhten Reflexivität, die den Individuen aufgetragen ist. Weil sich das Selbstverständliche und Ordnungsstiftende verflüchtigt, muss man mehr reflektieren, um zu wissen, wer man ist und welche Gestalt man annehmen kann. Individualisierte Reflexivität wird deshalb groß geschrieben. Vielleicht aber gibt es eine andere Schlüsselkompetenz, die in flüssigen Zeiten gefragt ist. Und vielleicht ist die Reflexivität nicht das Erste, was gefordert ist. Von der Schwelle der Jahreswechsel her betrachtet scheint es vielmehr die Frage zu sein, wie man sich mit der Endlichkeit der eigenen Reflexivität, zur Endlichkeit der eigenen Intelligibilität und Handlungsfähigkeit verhält; zur eigenen Schwäche.
Die Frage nach dem Umgang mit Scheitern, nach dem „Scheitern können“, stellt sich damit erneut und vertieft. Sie ist mit der Frage nach der eigenen Gestalt, die reflexiv erfasst wird, zwar verbunden, geht in ihr aber nicht auf. Sie reicht vielmehr über sie hinaus, weil sie an die Grenze des Eigenen führt und danach fragt, wie hier etwa Anderes erwartet werden kann, das nicht erfasst, reflektiert oder projektiert wird, sondern lediglich empfangen werden kann. Es fällt einem eben „zufällig“ zu und wird nur als Nicht-Handhabbares greifbar. Glück hängt an der paradoxalen Fähigkeit, scheitern zu können, sich an die Grenzen der eigenen Endlichkeit zu begeben und darin eine nicht abschließbare Offenheit auszuhalten. Selbstkonstitution, Selbsttranszendenz und Selbsttransformation durchdringen sich hier gegenseitig. Man hat es mit einer Form insgeheimer Spiritualität zu tun.
Spiritualität des Scheiterns
Auch in christlichen Kulturen gibt es rund um den Jahreswechsel Rituale, v.a. Segensrituale. Dazu zählen beispielsweise Haussegnungen und Kindersegnungen, der Segen in der Neujahrsmesse und in besonderer Weise die Segnung der Häuser, die durch die SternsingerInnen vorgenommen wird. Die Segensrituale praktizieren etwas sehr Ähnliches wie die spielerischen Glücksrituale rund um Neujahr. Sie konfrontieren mit der Schwelle zum neuen Lebensjahr, sie konfrontieren darin mit dem Unvorhergesehenen und Kommenden. Über die Glücksrituale hinaus machen sie „Gott“ zum Thema. Sie behandeln die Frage, wie sich „Gott“ zum Neuen verhält, das kommt, und wie er mit dem Unwägbaren zu verbinden sei. Stellt er einen Faktor der Stabilisierung dar, eine Art Rettungsanker in fremden Gezeiten, oder führt er in einen Aufbruch in unbestimmtes Weite, mit der Zusage, anderswo antreffbar zu sein?
Die Segensrituale betreiben eine Art topologische Dogmatik. In ihnen wird Gott ein spezifischer Platz zugewiesen. Der Ort, der ihm zugewiesen wird, ist die Endlichkeit des menschlichen Lebens, das Scheitern der menschlichen Bemühungen um eine völlige Planbarkeit und Organisation des Lebens. Segensrituale an Neujahr machen die Endlichkeit und die damit verbundene Erfahrung des Scheiterns zu einem locus theologicus. Es ist also gerade nicht der Erfolg, mit dem Gott in Verbindung gebracht wird, sondern das Gegenteil.
Würde Gott in Verbindung gebracht mit Erfolg und Gelingen, würde er zu einem Faktor der Stabilisierung des Lebens und seiner Beherrschbarkeit. Er würde zu einem Machtfaktor. In einer solchen Theologie des Erfolgs würde „Gott“ damit aber zu einer sekundären Größe. Er diente der Erfüllung der menschlichen Plänen und wäre dem Erfolgsstreben nachgeordnet. Gott wäre darin eine Größe, die menschliche Erfolgs-, Ordnungs- und Stabilitätshoffnungen sekundär bestätigte. Wenn sich diese nicht erfüllten, geriete Gott in Erklärungsnot, es drohte eine Krise seiner Glaubwürdigkeit (Theodizee-Problem).
Die Segensrituale weisen Gott einen anderen Platz zu, eben nicht den Erfolg, sondern das Scheitern. Sie führen an die Grenze der eigenen Verfügbarkeit und Endlichkeit des Handeln und der Erkenntnis, in die Erfahrung der letztgültigen Unverfügbarkeit des Lebens angesichts einer offenen Zukunft; und in die Ohnmacht, die darin gegeben ist. An dieser Grenze wird Gott angesprochen und angerufen. Mit dieser Grenze begibt man sich zugleich in eine Überschreitung. So wie ein Ort nur zum Ort wird, wenn man ihn in den Raum überschreitet, so wird die Grenze erst als Grenze gesetzt, wenn man über sie hinausgeht.
Bei dieser „Arbeit an der Grenze“ (Certeau, Michel de: Der gründende Bruch, in: GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009, 181-185) gelangt man aber nicht über sich hinaus, indem man das Jenseits der Grenze zu beherrschen beginnt oder darüber verfügt. Man gelangt vielmehr darüber hinaus, indem man offen wird für das, was einem von dort her möglicherweise entgegenkommt und „zufällt“. Es „ergibt“ sich, wenn man das Eigene überschreitet und eröffnet. Der Moment dieser Erfahrung ist das Scheitern. Es wird zum Ort der Öffnung für die Ankunft eines Anderen. Die Segensrituale qualifizieren dieses „Andere“ spirituell: als Raum einer möglichen Insistenz Gottes, als Erfahrung seines Außen im Innen des Lebens.
Das ist durchaus riskant: Denn das Andere, was da kommt, kann eine unendliche Leere sein, ein Nichts. Es kann aber auch als etwas Erfülltes daherkommen, was Leben anders erschließt und anders möglich macht, als es vorher der Fall war. Es wäre dann der Anstoß einer Transformation und die Entdeckung eines überraschend anderen Raums. Die Ankunft des Anderen im Entschwinden des Eigenen würde dann zum Segen, statt zum Fluch.
Auf diese Option setzen die Segensrituale. Sie gehen an die Grenze des Eigenen und des Selbstverfügbaren. Sie öffnen an diesem Ort den Raum für ein Wagnis: Sich der Ankunft eines Anderen auszusetzen. Es ist ein Wagnis des Glaubens und das Wagnis einer Entscheidung.
Die Segensrituale am Jahreswechsel sind deshalb Glaubensrituale. Sie markieren den Ort des Scheiterns menschlichen Handelns und Planens an einer letztlichen Unverfügbarkeit des Lebens. Sie setzen darin auf einen Gott, der Leben anders möglich macht. An der Grenze des Scheiterns erwarten sie die Ankunft eines anderen, eine Zukunft. Segensrituale am Jahreswechsel sind deshalb Techniken der Selbstkonstitution mit einer Glaubensdimension. In ihnen wird ein Umgang mit der eigenen Endlichkeit möglich. Sie ergreifen das Nicht-Begreifbare. Sie formen das Nicht-Formbare. Sie ermöglichen einen Umgang mit dem Unverfügbaren des eigenen Lebens, ohne es aufzuheben. Sie ermöglichen deshalb eine Selbstkonstitution in der Begegnung mit dem unverfügbaren Anderen, das als Außen das Innen ihres Selbst wird. Wer sich am Jahresbeginn segnen lässt, wird selbst im Anderen.
Segensrituale haben dabei immer eine soziale Dimension. Mindestens zwei Menschen sind beteiligt. In den Segensritualen rund um Neujahr sind es meist Gruppen oder ganze Mengen, die zusammenkommen. In diesem Sozialraum verschränken sich die Abwesenheit des Erhofften und die Anwesenheit der anderen. Der Sozialraum ist konstitutiv für den Segensraum. Denn die anderen, die im Segensritual da sind, erfüllen eine repräsentative Funktion. Sie werden zu RepräsentantInnen des Anderen. Sie sind da, nicht einfach nur identifizierbar als „Menschen“, oder als dieser und jener, sondern in der jeweiligen Art zu sein, so verschieden wie sie jeweils sind. In ihnen begegnet man dem Geheimnis der Fremdheit und der Andersheit. Sie repräsentieren etwas Anderes und machen es damit als Abwesendes anwesend.
Sie verkörpern und bezeugen in ihrem Dasein damit ebenfalls die Möglichkeit, dass ein ganz Anderes eintrifft. Sie erfüllen es nicht, können es aber vertreten. Ihr Dasein hat eine repräsentative Funktion und eine konstitutive Funktion in der Erkenntnis des Segens: Sie räumen als anders Anwesende dem anderen Abwesenden Platz ein und verweisen darauf. In diesem Raum kann man sich segnen lassen, indem man sich an seine Grenze begibt, um dort erhoffend etwas zu empfangen. Der Raum des Sozialen und der Raum der Überschreitung durchdringen sich und öffnen den Raum der Selbstkonstitution. Die Begegnung mit den anderen verweist auf diese Zukunft des Anderen; und umgekehrt. Es geht nicht ohne sie. (Certeau, ebd., 176-178)
Segensrituale lassen sich also ganz ähnlich wie Glücksrituale verstehen. Sie sind Techniken der Selbstkonstitution angesichts der kontingenten Wechselfällen des Lebens. Sie sind Rituale, die mit Endlichkeit spielen und einen Umgang damit ermöglichen. Über die Glücksrituale hinaus thematisieren sie die Frage nach Gott und verbinden diese mit den anderen Anwesenden als Repräsentanten und Zeugen der Ankunft dieses unverfügbaren Anderen. Sie wecken Hoffnung und stiften Solidarität am Ort des Scheiterns.
Ekklesiologisches zum Scheitern
Nicht bloß die Segensrituale berühren die Erfahrungen des Scheiterns und der Endlichkeit. Es gilt für die Kirche insgesamt. Sie ist insgeheim ein Ort des Scheiterns. Denn sie thematisiert die Endlichkeit menschlicher Bemühungen beim Aufbau und Ordnen des Lebens. Sie bezeugt zugleich an der Grenze des Scheiterns die Hoffnung und die Ankunft eines stets Anderen, der über diese Grenzen hinausführt und im Inneren ein Glück schenkt, das nicht erwirkbar, nur erwartbar ist. Es ist eine Art „felix naufragium“.
Man könnte, um das zu vertiefen, einschlägige Bibeltexte konsultieren (Joh 18,25-27). Oder die sakramentalen Riten befragen. Gerade sie thematisieren alle implizit das Scheitern und spielen mit ihm. Sie konstituieren Subjekte und Relationen in der Auseinandersetzung damit. Die Taufe beispielsweise führt rituell-symbolisch an die Grenze des Todes im Ertränken. In den Fluten des Lebens wird ein Mensch fortgerissen und kann in dieser Grundlosigkeit nicht bestehen. „Es gibt kein Land mehr“ (Nietzsche). In dieser Ohnmacht setzt die Taufe auf den Einbruch eines gänzlich Anderen, der Glück und neuen Lebensraum verheißt, der aufatmen lässt. Die bei der Tauffeier Anwesenden bezeugen (ob sie nun explizit glauben oder nicht) dieses Über-sich-hinaus des Lebens, wenn es am Tod scheitert. Alle gemeinsam begehen das Ritual einer transformativen Selbstkonstitution in der Begegnung mit einem unverfügbaren Anderen.
Kirchliches Leben ist durchzogen von diesen Zeichen des Scheiterns. Sie markieren prekäre Orte, an denen Leben ersehnt wird. Sie werden im Verlust zum Aufbruch in einen anderen Raum, in dem man alles erhofft.
Die Glücks- und Segensrituale am Jahresende können deshalb Impulse geben, die Scheiternsgehalte kirchlichen Lebens und kirchlicher Verkündigung neu zu entdecken. Das gilt für die Techniken der Selbstkonstitution im Umgang mit Brüchen insgesamt. Sie sensibilisieren Theologie und Verkündigung für die eigenen Bruchstellen, das Unverrechenbare und Offene, und stellen die Frage nach der Kompetenz, selbst „scheitern zu können“.
Dies ist ein kritisches Desiderat. Dies fällt einer Kirche mitunter schwer. Denn mit dem Selbstverständnis als societas perfecta, sind in ihr identitates perfectae etabliert – Lebensformen, die über Stärke definiert sind und aus denen Scheitern strukturell ausgeschlossen ist. Dadurch gerät sie rasch in eine Art Selbstwiderspruch zu den faktisch vorhandenen Erfahrungen und Gehalten des Scheiterns im eigenen Leben und in der eigenen Lehre. Sie wirkt dann mitunter unglaubwürdig und unbarmherzig.
Wird demgegenüber das Scheitern von kirchlichen Akteuren entdeckt und aus dem Schatten seines Tabus befreit, ermöglicht es einen neuen, andersartigen Anschluss des Glaubens an eine liquid modernity sowie einen Zugewinn an Authentizität. Glaube bietet dann Räume an, sich selbst anders zu konstituieren und zu solidarisieren, in der Auseinandersetzung mit der unverfügbaren Offenheit des Lebens und den Risiken, die es birgt. Er wird zu einer offenen Ressource für die Lebensgestaltung von Menschen in spätmodernen Zeiten. Er wird glaubwürdiger, weil er Autorität im Ringen mit der Kontingenzbewältigung erfährt, und authentischer, weil er nicht auf glanzvolle Repräsentation, sondern auf pragmatische Daseinsbewältigung im Wissen um die eigene Endlichkeit setzt.
Ein solcher Weg bedeutet ein Risiko und einen Verlust an Sicherheit: Bisherige Glaubensformen und Gottesvorstellungen werden abgeklärt und umgeschmolzen. Gott wird nicht am Ort der Macht entdeck, als Größe, die Erfolg erzeugt, indem er Leben ordnet und diszipliniert. Sondern er wird am Ort der Schwäche und des Scheiterns gefunden, in der damit angerissenen Vulnerabilität und Gefährdetheit des Lebens, als stille Gabe, die erhofft und empfangen wird.
Es ist eine Frage der Zeit, ob der Bleiklumpen des Glaubens sich auf dem Löffel löst und ins liquide Wasser der Spätmoderne fällt. Welche Form könnte er darin annehmen? Welche Gestalt könnte ihm in der Passage des Scheiterns zufallen?
Text: Christian Kern Bild: Joujou / pixelio.de Gute Fahrt ins 2010