Jugendliche haben in der Pandemie unter den fehlenden Kontakten mit Gleichaltrigen gelitten. Nun sollte eine Option für die Jugend kirchliches Handeln leiten. Von Bernd Hillebrand.
Option für die Jugend
„Nach der Pandemie werden wir feststellen: Wir haben unseren Kindern und Jugendlichen zu viel zugemutet.“ So titelte die Süddeutsche Zeitung vor ein paar Monaten. Egal welche Studie man sich ansieht, in und nach der Coronapandemie fühlen sich viele Jugendliche und junge Erwachsene einsam und/oder beklagen eine seelische Belastung. Der Alltag der Jugendlichen wurde zu einem Warteraum des Lebens, der die Möglichkeiten des Ausprobierens, des Grenzen-Überschreitens oder des Durchdrehens auf ungewisse Zeit verschiebt. Dazu kommt, dass Jugendliche in diesem Raum nicht mit Freund:innen, sondern mit den eigenen Eltern festsitzen. Viele Schüler:innen machen ihr Abitur und haben kaum die Möglichkeit, eine Auslandsreise oder einen Freiwilligendienst im Ausland zu planen. Zentrale Erfahrungs- und Entwicklungsorte für junge Menschen sind also nicht zugänglich, wobei gerade solche Orte notwendig sind, um sich selbst und andere in der Kneipe, beim Sportmachen, im Jugendclub oder im Park zu erleben.
Entscheidende Entwicklungsphase
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, schrieb der Jugendbeauftragte Rainer Maria Rilke. Jugendliche bauen zwar noch kein Haus, aber Wesentliches wird in dieser Phase grundgelegt. Die Pubertät ist entwicklungspsychologisch eine sehr zentrale und einmalige Zeit: Wer direkt nach dem Abitur den Sprung in die Welt nicht schafft, wird es in späteren Jahren vielleicht nicht mehr machen oder wer keine Möglichkeit hat, sich in einer Peergroup zu erleben, wird später Kontaktfähigkeit mühsam erlernen müssen.
Grundlegung der eigenen Identitätsbildung
Auch unabhängig von der Pandemie befinden sich Jugendliche in einer Lebensphase, die wie keine andere von der Grundlegung der eigenen Identitätsbildung geprägt ist. Sind Bindungs- und Beziehungsfähigkeit grundlegende Voraussetzungen für das relationale Wesen Mensch, um das Leben zu bewältigen, dann ist deren Entwicklungs- und Bildungszeitraum in der Jugendphase wesentlich. Seit Jahren weisen Hurrelmann und Quenzel in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung auf Probleme in der Entwicklung der Persönlichkeit im Jugendalter hin. Vor allem die Spannungsfelder von Bindung und Autonomie, von Stabilität und Mobilität, von Verbindlichkeit und Freiheit finden in der Lebenswirklichkeit Jugendlicher zu wenig Raum und zu wenig freigebende Begleitung. Schulsysteme sind geschlossener geworden.
Eltern werden entweder zu den besten Freund:innen, … oder entziehen sich der Nähe und dem Konflikt.
Eltern werden entweder zu den besten Freund:innen, von denen man sich kaum lösen kann, oder entziehen sich der Nähe und dem Konflikt. Selbst die Hochschulen lassen im modularisierten System kaum Spielraum für Individualität. Umso mehr braucht es freie Erfahrungs- und Entwicklungsräume für junge Menschen, die Möglichkeiten der eigenen Identitätsentwicklung durch Begleitung und Ausprobieren garantieren. Stehen ihnen hingegen keine Freiräume und keine Begleitungsangebote zur Verfügung, in denen und durch die sie eine eigene Identität und Beziehungsfähigkeit entwickeln können, sind sie in der Gefahr kein relationales Netz zu entwickeln, das sie persönlich und gesellschaftlich verbindet und trägt. Eine fehlende Möglichkeit zur Identitätsentwicklung hätte gesellschaftliche Exklusionsmechanismen zur Folge.
Vergessene und verlorene Jugendarbeit?
Die Jugendphase bedarf also einer besonderen Aufmerksamkeit, weil sie uneinholbare Entwicklungsschritte ermöglichen muss und ein Ausgangspunkt von möglichen Exklusionen ist. Gegenwärtig stellt sich die Frage, ob junge Menschen in den ökonomischen und demografischen Zwängen gesellschaftlich wie kirchlich nicht immer mehr vergessen werden und verloren gehen. Auch pastorale Mitarbeiter:innen finden in der Fülle ihrer Tätigkeiten immer weniger Spielraum für die Begleitung der kirchlichen Jugendarbeit. Manche Diözesen stellen teilweise Jugendreferent:innen auf Gemeindeebene ein, um dem Auftrag kirchlicher Jugendarbeit noch nachzukommen.
Jugendarbeit in Zukunft nur noch auf Dekanatsebene begleitet
In Kirchenentwicklungsprozessen spielt Jugendarbeit jedoch selten eine Rolle. Der Fokus liegt meist auf der Neugestaltung von Pfarreigrenzen und der Garantie von liturgischen Angeboten. So hat vor kurzem eine Diözese im Rahmen ihres Entwicklungsprozesses entschieden, dass Jugendarbeit in Zukunft nur noch auf Dekanatsebene begleitet werden soll. Dem Auftrag der Würzburger Synode eines personalen Angebots, das für die Ermöglichung eines Beziehungs- und Begegnungsgeschehens von und mit Jugendlichen steht, kann unter diesen Umständen nicht mehr nachgekommen werden.
Besonderes Primat für die Jugend
Wenn Jugendliche auch zu den Bedrängten und Vergessenen unserer Zeit gehören, kommt ihnen entsprechend GS 1 eine besondere Aufmerksamkeit zu: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst besonders der Armen und Bedrängten aller Art, also auch der Jugendlichen, sind die der Jünger:innen Christi. Müsste den Jugendlichen entsprechend der Armen ein besonders Primat der Orthopraxie im Sinne einer Option für die Jugend zukommen? Papst Franziskus stellt in EG die Frage des Primats: „Wenn die gesamte Kirche diese missionarische Dynamik annimmt, muss sie alle erreichen, ohne Ausnahmen. Doch wen müsste sie bevorzugen? Wenn einer das Evangelium liest, findet er eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr die reichen Freunde und Nachbarn, sondern vor allem diejenigen, […] die häufig verachtet und vergessen werden.“ (EG 48) Dürfen die Jugendlichen angesichts ihrer prekären Lage vor den Familien und Älteren bevorzugt werden?
Affirmative action … soll einer gesellschaftlichen Benachteiligung durch gezielte Vorteilsgewährung entgegenwirken.
In der gesellschaftspolitischen Theorie findet sich die sogenannte affirmative action, die an dieser Stelle hilfreich sein kann. Sie hat ihre Verortung in der Bürgerrechtsbewegung der USA und soll einer gesellschaftlichen Benachteiligung durch gezielte Vorteilsgewährung entgegenwirken. Erstmals eingeführt wurde das Konzept von Präsident John F. Kennedy. In einer executive order wurde festgelegt, dass Menschen nicht aufgrund von Ethnizität, Hautfarbe, Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer Nationalität diskriminiert werden dürfen. Durch Quoten wurde eine affirmativ action konstituiert. Analog dazu könnte das Evangelium als affirmativ action gegen die Normalität der Ausgrenzung oder Benachteiligung von Jugendlichen in der Kirche und darüber hinaus herangezogen werden. Ähnlich wie bei der Option für die Armen wäre eine Option für die Jugendlichen keine Begrenzung, sondern eine Entgrenzung der universalen Liebe Gottes zu allen Menschen. Sie „ergibt sich geradezu mit Notwendigkeit aus der universal gültigen Zuwendung Gottes, weil diese Zuwendung Gottes die Würde jedes einzelnen […] Menschen begründet und folglich vorrangig diejenigen der Zuwendung bedürfen, deren […] Lebensmöglichkeit am meisten unterdrückt ist.“ (Haslinger, Diakonie, 391) Umgekehrt wird daran deutlich, dass die Annahme eines bedingungslos liebenden Gottes eine Option für die Jugend theologisch begründet. Insofern würde eine Option für die Jugend aus einer gewissen Apathie der Jugend gegenüber wachrütteln, die in Kirche und Gesellschaft in der Gefahr steht, vergessen zu werden und aus dem Blick zu geraten.
Konkretionen einer Option für die Jugend
Lange Zeit haben sich die Jugendlichen in der Corona-Krise untergeordnet. Sie brauchen nun Unterstützung in ihrem Schrei nach Erfahrungs- und Entwicklungsräumen. Sowohl innerhalb der Kirche als auch vonseiten des Staates braucht es Menschen, die Jugend und ihre Anliegen stark machen und umsetzen. Gerade auch in der Aufarbeitung der traumatischen Folgen der Pandemie brauchen Jugendliche Unterstützungsformate, sie sie stärken und fördern.
Kooperationsmöglichkeiten mit Jugendhilfeeinrichtungen und kommunaler Jugendarbeit
Kirchlicherseits sind Kooperationsmöglichkeiten mit Jugendhilfeeinrichtungen und kommunaler Jugendarbeit zu prüfen und zu initiieren. Kirchentwicklungsprozesse sollten einen Fokus und eine besondere Aufmerksamkeit für die Jugend haben. Eine so gedachte Option für die Jugend braucht Freiräume und Beziehung, was nicht ohne zusätzliche Ressourcen möglich ist. Personales Angebot für kirchliche Jugendarbeit in territorialer Erreichbarkeit müsste als fixe Größe eines Mindestdeputats garantiert werden. Durch beides werden junge Menschen in ihrer Entwicklung gefördert und unterstützt.
Die Türe aus dem Warteraum des Lebens muss sich wieder öffnen!
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Dr. Bernd Hillebrand ist Professor für Praktische Theologie, Schwerpunkt Pastoraltheologie, an der Katholischen Hochschule Freiburg i.Br.
Bild: Zohre Nemati auf unsplash.com
Literatur:
- Haslinger, Herbert, Diakonie. Grundlagen für die Soziale Arbeit, Stuttgart 2008.
- Hurrelmann, Klaus; Quenzel, Gudrun, Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, Weinheim 2012.
- Rühe, Alex, Versäume deine Jugend. Nach der Pandemie werden wir feststellen: Wir haben unseren Kindern und Jugendlichen zu viel zugemutet, Süddeutsche Zeitung 04.03.2021: https: www.sueddeutsche.de/kultur/corona-jugend-pandemie-lockdown-leben-1.5224879?reduced=true (letzter Zugriff 21.07.2021).