Den beiden Frauen Julia Elba und Celina Ramos, die am 16. November 1989 von der Armee in San Salvador ermordet wurden, geht Jan Niklas Collet nach.
Julia Elba Ramos wurde nur 42 Jahre alt. Zuletzt hatte die Salvadorianerin mit ihrer kleinen Familie – ihrem Ehemann Obdulio Ramos und ihren beiden Kindern – in der zentral gelegenen Hauptstadt des Landes gelebt. Doch zuvor war ihr Leben geprägt von häufigen Ortswechseln, zu denen die Familie immer wieder durch äußere Umstände gezwungen wurde. Ende der 1960er Jahre lebten Julia Elba und Obdulio Ramos in Santa Tecla nahe der Hauptstadt San Salvador, wo Obdulio als Vorarbeiter auf der Hacienda El Paraíso beschäftigt war. Während der Erntesaison arbeitete dort auch Julia Elba Ramos bei der Kaffeeernte, die ansonsten als Haushälterin in San Salvador angestellt war.
Am 16. November 1989 von der Armee ermordet.
Doch nachdem der Eigentümer der Hacienda, auf der die beiden zu dieser Zeit lebten, getötet worden war, zogen sie 1970 in den westlich von San Salvador gelegenen Ort Jayaque. Dort hatte Obdulio auf der Hacienda Las Minas eine neue Anstellung als Aufseher gefunden
und den beiden wurde gestattet, Mais und Bohnen für den Eigenbedarf anzupflanzen. Am 23. Februar 1973 brachte Julia in Las Minas ihre Tochter, Celina Ramos, zur Welt. Celina war das dritte Kind des Paares, das zuvor zwei Söhne noch während der Schwangerschaft bzw. kurz nach der Geburt verloren hatte. Ein weiterer Sohn wurde drei Jahre später in der Hafenstadt Acajutla im Südwesten des Landes geboren. Dort arbeitete Julia als Verkäuferin in einem Obstgeschäft, Obdulio fand eine Beschäftigung im städtischen Hafen.
Nachdem sich die politische Situation in dem Land Ende der 1970er Jahre immer mehr zugespitzt hatte, verlor er die Anstellung jedoch wieder. Die Aktivitäten im Hafen Acajutlas waren unter dem Eindruck des bald ausbrechenden Bürgerkrieges eingebrochen. 1979 zog die Familie daher wieder nach Santa Tecla, wo Obdulio als Gärtner bei Privatleuten arbeitete. Als diese aufgrund des Bürgerkriegs im Jahr 1985 das Land verließen, verlor Obdulio auch diese Beschäftigung und arbeitete fortan als Nachtwächter in einem Vorort Santa Teclas. Julia Elba arbeitete ebenfalls ab 1985 in der Jesuitenkommunität auf dem Campus der Universidad Centroamericana José Simeón Cañas (UCA), wo sie bis zu ihrem Tod als Köchin und Haushälterin tätig war. Am 16. November 1989 wurden Julia Elba und Celina Ramos von einem Sonderkommando der salvadorianischen Armee ermordet. Celina Ramos war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt. Sie hatte am Instituto José Damian Villacorta gerade ihr erstes Jahr in der Oberstufe absolviert und führte, als sie ihr Leben verlor, eine Liebesbeziehung mit einem Mitschüler aus dem Basketball-Team der Schule.
Ignacio Ellacuría SJ
Nachdem am 11. November in der unmittelbaren Nähe ihres Wohnhauses eine Bombe des Guerrillabündnisses Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) detoniert war und das Haus beschädigt hatte, verbrachten Julia Elba und Celina Ramos aus Sicherheitsgründen die Nächte in einem kleinen Raum in der Jesuitenkommunität der UCA. Deshalb fielen auch sie dem von höchster Stelle befohlenen Mordanschlag zum Opfer, der vor allem Ignacio Ellacuría SJ galt. Nach dem Start einer großangelegten Offensive auf die Hauptstadt wenige Tage zuvor kontrollierte die FMLN am Vorabend des Attentats bereits etwa die Hälfte der Stadt. In dieser Situation beschloss die in die Defensive geratene Militärführung, die von ihnen als Teile der intellektuellen Führung der Guerrilla betrachteten Jesuiten um Ellacuría zu ermorden. Auf ihren ausdrücklichen Befehl hin, Ellacuría zu töten und keine Zeug*innen zu hinterlassen, tötete am 16. November 1989 das berüchtigte Batallón Atlácatl der salvadorianischen Armee Julia Elba und Celina Ramos, Ignacio Ellacuría SJ, Armando López SJ, Joaquín López y López SJ, Ignacio Martín-Baró SJ, Segundo Montes SJ und Juan Ramón Moreno SJ.
Das Leben der armen Bevölkerungsmehrheit
Da das Attentat in erster Linie den Jesuiten der UCA um Ellacuría galt, ist es auf den ersten Blick nicht verwunderlich, dass diese in der Regel bis heute im Zentrum der Erinnerung stehen. Wie jedoch insbesondere Ellacuría nicht müde wurde zu betonen, war für die von den Jesuiten der UCA vertretene Theologie der Befreiung das Leben der „armen Bevölkerungsmehrheiten“ der zentrale locus theologicus. „Aus diesem Grund“, so formulierte auch der Peruaner Gustavo Gutiérrez, „liegt der Theologie der Befreiung mehr daran, was in diesem Bereich geschieht, als an Wertschätzung und Kritik seitens der akademischen Theologie, so beachtenswert beides auch sein mag.“[i]
Umkehrung der Blickrichtung
Nicht nur, aber insbesondere in der deutschsprachigen Rezeption der Befreiungstheologie ist diese dagegen nach wie vor häufig vor allem von ihren herausragenden akademischen Gestalten wie Ellacuría geprägt. Diesen selbst würde die Umkehrung der Blickrichtung aber wohl eher entsprechen. Das würde z. B. bedeuten, die Texte dieser befreiungstheologischen „Klassiker“ ausgehend von der Lebensrealität von Menschen wie Julia Elba und Celina Ramos zu lesen – und weiterzuentwickeln.
Beispielsweise begann Ellacuría ab Anfang der 1980er Jahre, wie Jon Sobrino in seinen berührenden Briefen an einen ermordeten Freund berichtet, eine seiner „größten Verrücktheiten“ zu entwickeln, den Begriff der „Zivilisation der Armut.“[ii] Später haben Sobrino und andere diesen von Ellacuría geprägten Begriff aufgegriffen. Aus der Befürchtung heraus, der Begriff könne als Romantisierung von Armut missverstanden werden, sprechen die meisten dabei heute jedoch eher von einer „Zivilisation der geteilten Genügsamkeit“[iii]. Selbstverständlich lag auch Ellacuría nichts ferner als die Romantisierung von Armut.
Zivilisation der Armut
Ellacuría entschied sich vielmehr bewusst für den Begriff der Zivilisation der Armut, weil dieser zwei Elemente miteinander verbindet. Zum einen den Gegensatz zur „Zivilisation des Reichtums“, die „die Akkumulation von Kapital als Motor der Geschichte und das Besitzen und Genießen von Reichtum als Humanisierungsprinzip“[iv] ansieht (ein Widerspruch, den der Begriff der „geteilten Genügsamkeit“ weniger stark zum Ausdruck bringt); und zum anderen die konkrete Utopie einer Gesellschaft, in der „die allgemeine Befriedigung der Grundbedürfnisse […] und das Wachsen geteilter Solidarität“[v] im Mittelpunkt stehen.
Schwere körperliche Arbeit
Die Gleichzeitigkeit der „Zivilisation des Reichtums“ und der „Zivilisation der Armut“ spiegelt sich im Leben von Julia Elba und Celina Ramos wie in einem Brennglas. Angesichts der häufig erforderten Neuanfänge springt einerseits das Ausmaß ins Auge, in dem ihr Leben von den prekären sozialen Bedingungen und der zunehmenden Gewalt in dem von extremer sozialer Ungleichheit und Bürgerkrieg gebeutelten Land geprägt war. Andererseits beeindrucken die Kreativität und der Erfindungsreichtum, mit dem Julia und Obdulio auf veränderte Bedingungen immer wieder reagiert haben. Allein die Liste verschiedener Erwerbstätigkeiten gibt davon Zeugnis. Dass die beiden darüber hinaus in der Hacienda Las Minas eigenes Gemüse für die Familie kultivieren konnte, war für sie sicher kein Hobby, sondern für ein auskömmliches Familieneinkommen notwendig – ebenso wie der Umstand, dass Julia bereits seit ihrem zehnten Lebensjahr als Erntehelferin in Kaffeeplantagen schwere körperliche Arbeit verrichtet hatte.[vi] Gleiches gilt auch für die unbezahlte Sorgearbeit, die Julia, die nach der Hochzeit mit Obdulio vorerst nicht mehr „außerhalb des Hauses“ arbeiten ging, geleistet haben wird.
Beredtes Schweigen
Diese Verflechtung von Produktions- und Reproduktionsverhältnissen sowie die Berücksichtigung ungleicher Geschlechterverhältnisse findet in Ellacurías Ausführungen zur Zivilisation der Armut kaum Niederschlag. Von seiten feministischer Theorie und Theologie ist ein solches beredtes Schweigen zu Recht immer wieder kritisiert worden. Dabei legt es sich im Sinne von Ellacurías Überlegungen zur Zivilisation der Armut eigentlich von selbst nahe, dieses Schweigen zu brechen. So betonte Ellacuría energisch die Bedeutung einer Form von Arbeit für die Zivilisation der Armut, die in erster Linie auf die „Dynamik der Vervollkommnung der menschlichen Person und der humanisierenden Gestaltung ihres Lebensumfelds“[vii] ausgerichtet ist – und nicht auf die Anhäufung individuellen Reichtums, während der größte Teil der Menschheit niemals auch nur in die Nähe von dessen Annehmlichkeiten gelangt. Was sollte das anderes sein als eine Form wechselseitiger Fürsorge, die nicht mehr den Zwängen patriarchaler und kapitalistischer Vergesellschaftung unterliegt? Die Theologie der Befreiung bietet jedenfalls noch hinreichend Raum, aus ihren eigenen theoretischen und praktischen Quellen heraus weitergeschrieben zu werden.
Rosensträucher
Am Morgen des 16. November 1989 war Obdulio Ramos der erste, der den Garten der Jesuitenkommunität in der UCA betrat und die Leichname der Ermordeten fand. Zu ihrem Andenken pflanzte er sechs rote Rosensträucher – einen für jeden der ermordeten Jesuiten – und zwei gelbe Rosensträucher für Julia Elba und Celina Ramos, für die er bis zu seinem Tod im Jahr 1994 sorgte.
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Jan Niklas Collet ist freier Theologe und Mitarbeiter des Ökumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche in NRW e.V. Im Frühjahr 2024 erscheint seine Dissertationsschrift „Die Theologie der Befreiung weiterschreiben. Ignacio Ellacuría im Gespräch mit dem dekolonialen und postkolonialen Feminismus“ im Verlag Friedrich Pustet.
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Titelfoto: Alejandro Alas / unsplash.com
[i] Gustavo Gutiérrez, Die historische Macht der Armen, Mainz 1984, 48.
[ii] Jon Sobrino, Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund, Würzburg 2007, 32 (Hervorhebung i. O.).
[iii] Ebd., 33..
[iv] Ignacio Ellacuría, Utopía y profetismo desde América Latina. Un ensayao concreto de soteriología histórica, in: Escritos Teológicos II, 233–305, 274.
[v] Ebd.
[vi] Vgl. Jesús Herrero Estefanía, Elba y Celina las dos mujeres mártires de la UCA, in: https://www.religiondigital.org/santoral_popular-_de_jesus_herrero/Elba-Celina-mujeres-martires-UCA_7_2396230372.html (01.11.2023)
[vii] Ellacuría, Utopía y profetismo desde América Latina, a. a. O., 275.