Die Wiener Autorin Raphaela Edelbauer hat mit ihrem Debut-Roman „Das flüssige Land“ eine finstere Erzählung über die Frage von Schuld und Vergangenheit geschrieben. Dabei spricht die Erzählung nicht nur österreichische Themen und Abgründe der Geschichtsbewältigung an, sondern stellt weitaus universellere Fragen. Der Theologe Stefan Weigand zeigt, dass der Roman auch Mechanismen von Schuldverstrickung in der Kirche offenbart.
Ein Anruf. Die Eltern sind tot. Ein Autounfall. Und die Polizei informiert nüchtern. Ruth, die eigentlich mit ihrer Habilitationsschrift in theoretischer Physik beschäftigt ist, macht sich auf, um den letzten Willen ihrer Eltern zu erfüllen: Ein Begräbnis in Groß-Einland, dem Ort, an den sie regelmäßig reisten – von dem Ruth aber so gut wie nichts weiß.
Erste Autorin mit Doppel-Nominierung
Ohne Umschweife schickt die Autorin Raphaela Edelbauer, 1990 in Wien geboren und unter anderem mit dem Publikumspreis beim Bachmannpreis in Klagenfurt ausgezeichnet, die Protagonistin ihres Romans „Das flüssige Land“ auf eine rätselhafte Heldenreise. Als erste Autorin überhaupt ist es Raphaela Edelbauer mit ihrer Erzählung gelungen, gleichzeitig für den Deutschen Buchpreis wie auch für den Österreichischen Buchpreis nominiert zu werden. Sind die genauen Todesumstände der Eltern schon mysteriös, so gestaltet sich auch der Hinweg nach Groß-Einland nebulös: „Kurz überlegte ich, ob ich einem meiner Freunde von den Ereignissen erzählen sollte, aber die Idee war mir zuwider. Die Straßen waren leergefegt, und gegen zwei Uhr nachts hatte sich die Autobahn an die Landschaft geschmiegt, was ich in der rundum herrschenden Dunkelheit freilich nur erraten konnte.“ (11/12)
Die Fremde im kleinen Ort steht unter Beobachtung.
Eine Irrfahrt samt Unfall führt Ruth schließlich in den Ort. Doch die Vorbereitungen des Begräbnisses werden bruchstückhaft bleiben – praktisch vom ersten Moment an wird Ruth von den Merkwürdigkeiten der Kleinstadt und deren Bewohner*innen gekapert. Es entsteht der Eindruck, als ob die Fremde von Anfang an unter ständiger Beobachtung steht. Ohnehin ist der Ort von einer seltsamen Enge geprägt. Das gesellschaftliche Leben dominieren feste Regeln, die Bewohner*innen treffen sich an angestammten Plätzen in angestammten Gastwirtschaften. Für alles scheint es eine übliche Ordnung in Groß-Eiland zu geben.
Der Hohlraum unter der Stadt
Über all dem residiert die Gräfin: Sie besitzt den Großteil der Grundstücke, unterhält Machtzirkel und entscheidet über das öffentliche Leben in der Stadt. Sie stellt Ruth ein und betraut sie mit der Aufgabe, eine Lösung für das statische Problem der Stadt zu finden. Doch die Anstellung ist mehr als ein Job. Sie entzieht Ruth die Selbstbestimmung über ihren Alltag. Das Begräbnis ist längst vergessen, dafür ist nun der Hohlraum unter der Stadt zur bestimmenden Größe geworden – ein Loch, das das ganze Erdreich unter dem Ort durchhöhlt. Das Fundament der Stadt? Ein einziger Abgrund.
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In der Tiefe
„Das Loch war von unbekannter Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit. Es zog sich wie ein unterirdisches Myzel unter den Bergkuppen und Siedlungen durch, brach in Röhrchen und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig das nervöse Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte. “ (61)
Eine Stadt wird instabil.
Ein riesiges Geflecht aus Kammern, Stollen und Gängen durchzieht den Grund unter der Stadt. Hier und da liegen versteckte Eingänge. Allerdings ist es nicht so, als ob die Lage stabil wäre. Gehsteige brechen auf, von Hauswänden bröckelt der Putz und über Nacht entstehen Risse an Gebäuden. Dazu kommt, dass der Boden sich verflüssigt und einfach nachgibt. Immer wieder rutscht eine Mauer in die Tiefe oder auf einem Platz tut sich ein Loch auf.
Der Grund, auf dem der Ort steht, gibt keine Ruhe.
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Verscharrte Vergangenheit
Ruth sucht nach Anhaltspunkten, worin denn die Geschichte des Hohlraums besteht. Allmählich gelangt sie auf die Spuren eines Verbrechens: An Zwangsarbeiter*innen verübte die Wehrmacht Gräueltaten, ermordete hunderte Menschen, verscharrte Leichen im Hohlraum und begrub andere lebendig.
Risse werden lieber gekittet.
Egal, wen Ruth auf die Hinweise und Dokumente anspricht: Sie erfährt nur ausweichende Antworten oder Aufforderungen, Zurückliegendes doch einfach als erledigt zu behandeln. Die schuldhafte Vergangenheit scheint wie aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt verbannt zu sein – und soll es auch bleiben. Das zeigt sich am Umgang mit der bedrohlichen Kraft des Hohlraums. Stoisch und routiniert werden Risse in Häusern gekittet – in der Gewissheit, dass sie wieder gekittet werden müssen. Gräben und Verwerfungen gehören zum Stadtbild; man steigt darüber. Die Bewohner versuchen den Hohlraum zu stopfen und damit ihre vermeintlich heile Welt zu sichern.
Die Risse kehren immer wieder.
Anfangs wundert sich Ruth noch. Nach und nach adaptiert sie aber diesen Modus vivendi und beginnt den Morgen damit, Risse ihres Wohnhauses zu verspachteln – ganz egal, ob die Risse tags darauf wieder da sind.
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Mehr Kafka als Schilda
Selbst wenn die Gaststätten putzige Namen tragen wie „Pension zum Fröhlichen Kürbis“ oder „Gasthof zur Tausendjährigen Eiche“, so taucht Edelbauer die Atmosphäre ihres Buches in die eines Film Noir. Sinister, bedrohlich, abgründig. Man liest den Roman mit einem klammen Gefühl.
Kontakt zur Außenwelt geht verloren.
Dazu spielt die Erzählung mit Gewissheiten: Kann sich die Protagonistin überhaupt auf jemanden verlassen in dieser Stadt? Papiere und Dokumente verschwinden oder wirken manipuliert, Zeugen und Ankerpunkte baut die Erzählung nach und nach zurück: Schon früh geht das Handy verloren, jeder Kontakt zur Welt außerhalb von Groß-Einland bricht ab und Ruth verliert ihre gewohnten Tagesabläufe: „Es war ein quälendes Gefühl, ein dauernder Derealisierungszustand … Tag und Nacht waren ein und dasselbe, ich war niemals müde. Niemals.“ (37)
Realitätsverlust und Weltfremdheit
Ohne Gewissheiten auskommen zu müssen – dieses Gefühl greift auch auf die Leser*innen über. Kann man sich noch auf das verlassen, was die Ich-Erzählerin berichtet und wie sie die Dinge erlebt? Noch dazu, weil sich ihr Tablettenkonsum mehr und mehr verselbständigt. Realitätsverlust und Weltfremdheit kommen ins Spiel. Sie steigern sich ins Absurde, als die Gräfin sich an ihren Plan klammert, eine Touristenattraktion aus dem Hohlraum zu bauen, eine riesige Achterbahn, dazu Themen-Tage und große Besucher-Events. Man könnte an Schildbürger denken, doch die Stimmung erinnert mehr an Kafka: Beklemmend und unausweichlich.
Was passiert aus Schuld, wenn man ihr nicht ins Auge schaut?
So hochfliegend-absurd die Pläne der Gräfin sind, umso raumgreifender wird das Loch. Der Hohlraum reißt ganze Häuser in die Tiefe, die Verwerfungen und Gräben auf den Gehsteigen nehmen zu, selbst das Kirchengebäude verliert den Stand. Dem Ort droht das Schicksal, im eigenen Schlund zu versinken.
Edelbauer erzählt jedoch keine Horrorstory und auch keinen Katastrophenthriller. Der Roman entwickelt vielmehr ein Gefüge, das die Frage pochen lässt: Was passiert mit Schuld, der man nicht ins Auge gesehen hat? Welche Rolle spielt eine dunkle Vergangenheit, die zwar präsent ist, über die man aber nicht reden darf?
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Was, wenn wir selbst in Groß-Einland leben?
Das Spannende an Edelbauers Erzählung ist ihre parabelhafte Konstruktion. „Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn das ganze Grauen aus dem Untergrund kommt, um etwas herunterzuziehen“, sagt die Autorin in einem Interview. Dort, wo es Auslassungen in der Geschichte gibt, wo die Vergegenwärtigung von Schuld und überhaupt die Frage nach Vergangenheit nicht mehr vorkommen darf, dort bilden sich Hohlräume.
Ein Ort als Metapher mit großer Reichweite
„Ich wollte eine Gemeinde schaffen, als würde man durch einen Kuchen schneiden und dann verschiedene Schichten sehen: Die Sedimentierung unterschiedlicher Geschichtsepochen Österreichs.“ Auch wenn Raphaela Edelbauer den Roman zunächst in den Deutungshorizont von Österreich und der Frage des Landes nach der Schuld im Nationalsozialismus stellt, so birgt die Metapher von Groß-Einland eine viel größere Reichweite.
Wenn die Kirche an die Stelle der Stadt rückt
Die Schilderungen der Verbrechen sind typografisch anders gestaltet als der erzählende Text: Wie Module erscheinen sie dadurch, als ob sie sich für einen Austausch förmlich anbieten möchten. Dazu legt die Autorin für Groß-Einland keine präzisen geografischen Koordinaten fest, eine Einordnung auf ein bestimmtes Jahr lässt sie aus. Das macht diesen Ort so abstrakt: Groß-Einland, das könnte jede Stadt, jeder Ort sein.
Diese Leerstelle ist es, die den Bogen in die Realität schlägt: Was, wenn Groß-Einland die eigene Heimatstadt wäre? Oder wenn an die Stelle des Ortes eine Institution wie die Kirche gesetzt wird?
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Es gibt es kein Entkommen vor der Wahrheit
Eine Stadt hat Dinge nicht etwa nur lapidar unter den Teppich gekehrt, sondern ein ganzes Stollensystem dafür geschaffen. Ein eigenes System, ins Leben gerufen, um Schuld zu verbergen, unbequeme Wahrheiten zu verheimlichen – und Schuldfragen zu unterdrücken.
Kirchliche Vertuschungen als Hohlräume
Mit seiner uneingestandenen Schuld wird der kleine, unterhöhlte Ort zu einem Bild für die Kirche und ihre uneingestandenen Hohlräume. Die Metapher lenkt den Blick auf die verbrecherischen Verflechtungen im Umgang mit Missbrauchs- und Vertuschungsskandalen. Jahrzehntelang hielten Personalabteilungen Informationen unter Verschluss. Anschuldigungen und Hinweise? Wurden abgeblockt. Menschen wurden versetzt, in der fatalen Hoffnung, dass es keine neuen Fälle mehr geben wird und alte schon irgendwie vergessen werden. Selbst wenn Staatsanwaltschaften Zugang zu Archiven erhielten, stießen sie nicht nur auf Akten, sondern auch auf manipulierte oder lückenhafte Bestände.
Perfide Strukturen, die Aufklärungsprozesse unterdrücken
Spannend ist in diesem Zusammenhang im Roman die Figur der Gräfin: Auf ihrem Schreibtisch landen sämtliche Anträge und Bitten der Bürger, über die sie nach eigenen Regeln oder Tageslaune entscheidet. Sie umgibt sich mit einem Geflecht aus Seilschaften und Belohnungssystemen, die mit Nähe und Aufmerksamkeit funktionieren. Es ähnelt jenen perfiden kirchlichen Strukturen, in denen hierarchische und geistliche Macht dazu missbraucht wurden, um Wahrheit und Aufklärungsprozesse zu unterdrücken. Der Blick in die Vergangenheit: ein einziger Blick in den Abgrund. Leider ist dieser Offenlegungsprozess bei Weitem noch nicht abgeschlossen, wie etwa die Vorgänge in der Integrierten Gemeinde in München gerade zeigen.
Wenn die Kirche instabil wird
Die Hohlraum-Metapher legt noch mehr offen: Die Reaktionen auf die Missbrauchsfälle waren deshalb so deutlich und der Vertrauensverlust der Kirche so immens, weil es der Kirche förmlich den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Wie kann eine Institution noch vertrauenswürdig und eine belastbare Instanz sein, wenn sie Mechanismen birgt, die Vertrauen systematisch zerstört und den Weg von Vertuschung eingeschlagen hat?
Abgründe dehnen sich aus
Kirche fiel nach Enthüllung der Missbrauchsfälle deswegen ins Bodenlose, weil sie sich nie um die eigenen Abgründe gekümmert hat. Und wenn, dann um sie totzuschweigen. Wenn stoisch Risse gekittet und Sprachverbote verhängt werden, entsteht ein Abgrund, der irgendwann alles in sich hinabreißt. Das Bild vom Hohlraum entlarvt auch jedes Schielen oder gar Spekulieren auf Verjährungsfristen als Zynismus: Egal, wie lange Schuld zurückliegt oder welche juristische Einordnung sie erfährt – so lange sie unausgesprochen und uneingestanden bleibt, dehnen sich Abgründe immer weiter aus.
Ähnlich wie Groß-Einland im Roman ein isoliertes System darstellt, in dem sich alles um das Unterdrücken von Erinnerung und Schuld dreht, so haben sich kirchliche Strukturen und Einzelne in einem Geflecht von Lügen und Realitätsverlust verirrt.
Wo Geschichte verbannt wird, geraten Dinge aus den Fugen.
Der Roman von Raphaela Edelbauer zeigt: Wo Geschichte verbannt wird, geraten die Dinge aus den Fugen. „Das flüssige Land“ ist eine Mahnung an alle, die die Frage nach Schuld und Vergangenheit gerne auf die leichte Schulter nehmen oder gar das Leid von Opfern herunterspielen wollen. „War halt damals so“ oder „Naja, da wächst mit der Zeit auch Gras drüber“ – solche Versuche von Vergangenheitsbewältigung entlarvt der Roman als giftige Verharmlosung. Eine Institution, die die eigene dunkle Vergangenheit ausblenden oder aussitzen will, kultiviert keine Zukunft, sondern nur den eigenen Abgrund.
Nicht ausweichen, Abgründen stellen!
Wenn eine Gemeinschaft Glaubwürdigkeit, Tiefe und Bestand haben möchte, dann darf sie nicht nur das Schöne feiern, sie muss sich auch mit ihrem Untergründigem auseinandersetzen. Raphaela Edelbauers Roman zeigt: Schuld kann man nicht ausweichen, man muss sich ihr stellen – auch wenn man dazu noch so tief hinabsteigen muss.
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Roman: Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land, Klett-Cotta 2019, ISBN 978-3-608-96436-3
Autor: Stefan Weigand führt ein Büro für Gestaltung und berät Verlage bei Buchprojekten. Der Diplom-Theologe und studierte Philosoph ist einer von zwei Kuratoren der 36. Baden-Württembergischen Literaturtage
www.bw-literaturtage.de
Foto: Casey Horner / unsplash.com
Foto Raphaela Edelbauer: Victoria Herbig