Vor über zehn Jahren starb der Autor Wolfgang Herrndorf. Im letzten Jahr ist die erste Biographie erschienen. Und eine Theateradaption seines Blogs Arbeit und Struktur hatte in Düsseldorf Premiere. Kathrin Ritzka erläutert, warum es sich lohnt, ihn und sein Werk (wieder) zu entdecken.
Wenn Wolfgang Herrndorfs Figuren desillusioniert sind, dann schauen sie oft in den Himmel. Die Begegnung mit Sonne, Mond und Sternen biete, bei aller Bedeutung des Zufalls, die Herrndorfs Werk prägt, eine Konstante. So beobachtet es Tobias Rüther, der Autor der im Sommer 2023 erschienenen, ersten Biographie über den Schriftsteller.1 Sie tun das genreübergreifend: Im Jugendroman Tschick, der von einem unwahrscheinlichen Roadtrip zweier Jugendlicher aus Berlin-Marzahn handelt, kann man das beobachten. „Gerührt und erschrocken“ zeigt sich der Protagonist Maik hier von der „unbegreiflichen Unendlichkeit“ der Gestirne (Tschick, 122). Bei den Himmelsbetrachtungen handelt es sich in der Regel um Momente der Erschütterung.
Nicht alle Himmelszenen sind so positiv konnotiert, wie es bei Rüther anklingt. Der identitätslose „Carl“ aus dem Roman Sand schaut auf Himmelskörper, die „nichts waren als Stäubchen im All“. Er liegt im Sand, während sich „über ihm die Zumutung Tausender Galaxien, denen das alles unendlich egal war“ erstreckt. (Sand, 309) Im Blick in den Himmel bestätigt sich die Vermutung von der Sinnlosigkeit menschlichen Lebens.
Warum ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend?
Herrndorfs produktivste Schaffensphase als Schriftsteller begann nach seiner Krebsdiagnose. Innerhalb weniger Jahre veröffentlichte er Tschick und dessen „Gegenbuch“2 Sand und arbeitete bis zuletzt an einem Spin-off von Tschick, das posthum als Fragment veröffentlicht wurde (Bilder deiner großen Liebe). Währenddessen schrieb er kontinuierlich an seinem Blog Arbeit und Struktur3, das ihm zu immer größerer Popularität verhalf und dessen Buchfassung er noch selbst mit vorbereitete. In seinem Blog kommentierte Herrndorf auch die eben beschriebene Tschick-Szene: Es sei ein „ungeheure[r] Trost“, „über das Weltall zu schreiben“ (Arbeit und Struktur, 55). Wenig später fragt er: „Warum ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend?“ (Arbeit und Struktur, 56).
In der Theaterinszenierung von Arbeit und Struktur von Adrian Figueroa, Textfassung von Robert Koall, die im September in Düsseldorf Prämiere feierte, werden dem Autor Herrndorf seine Figuren Isa und Maik als Gesprächspartner:innen an die Seite gestellt. Das funktioniert hervorragend, weil es die „Durchlässigkeit“ von Herrndorfs Werk, die auch Rüther in seiner Biographie so eindrücklich beschreibt4, unmittelbar vorführt. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass Biographisches in den Erzählungen und Romanen verarbeitet wird und das Werk insgesamt von vielen Intertextualitäten durchzogen ist. Auf diese Weise werden auch die Ebenen der Textproduktion, der Texte selbst und – aus Sicht des Zuschauers und der Zuschauerin, der/die beispielsweise über Videoinstallationen multiperspektivisch am Geschehen teilnimmt, – die Ebene der Rezeption ineinander verschränkt.
Überschreitungen von Alltagswissen.
Wer die erschütternden Himmelsereignisse vorschnell als religiöse Transzendenzerfahrungen verbucht, wird dem Autor nicht gerecht. Er konnte mit Religion, insbesondere in ihrer institutionalisierten Form, wenig anfangen. Das bedeutet nicht, dass sein Werk aus theologischer Perspektive nicht relevant wäre. Mit dem Roman Sand hat Herrndorf den vielleicht größten (Anti-)Theodizee-Roman der Gegenwart geschrieben. (Kritik an dem äußerst komplexen Plot quittierte der Autor mit dem Satz „Ich mache keine Fehler.“) Die Erschütterungsmomente bieten interessante Reflexionsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte. Bei ihnen handelt es sich um Augenblicke der Störung, die sich als Überschreitungen darstellen – Überschreitungen von Alltagswissen, von der eigenen Perspektive auf die Welt. Sie sind deswegen so zentral, weil sie nicht ohne Folgen für Figuren, Handlung und Struktur bleiben – die Erschütterung wird, wenn nicht überwunden, so zumindest produktiv bearbeitet. Als Reaktion auf die Störungen erfolgen Anpassungen und Korrekturen auf verschiedenen Ebenen.
Tschick wird gelegentlich auch als Bildungsroman klassifiziert. Für Bildung braucht es Entwicklung. Diese wird in den Erschütterungsmomenten deutlich. Moritz Baßler hat aufgezeigt, dass der Ich-Erzähler Maik seine Geschichte „nach den Medien“5 erzählt. Beispielhaft lässt sich dies an Maiks Beschreibung seines Aufenthalts im Krankenhaus aufzeigen:
„Das ist ein bisschen so wie in Mafiafilmen, wo einen die Gangster immer eine Minute schweigend angucken, bevor sie antworten. „Hey!“ Eine Minute Schweigen. ‚Sieh mir in die Augen!‘ Fünf Minuten Schweigen. Im richtigen Leben ist das albern. Aber wenn man bei der Mafia ist, eben nicht.“ (Tschick, S. 55)
Die „Medienwirklichkeit“ („wie in Mafiafilmen“) der Filme wird auf die „Alltagswirklichkeit“ („Im richtigen Leben“) übertragen.6 In den Momenten der Erschütterung wird die „Medienwirklichkeit“, die sonst den Roman bestimmt, verlassen. Sie dominiert zwar weiterhin die Handlung, aber die Erschütterungen sind Indizien für Ansätze eines Wirklichkeitszugangs, der sich ohne Vermittlung durch Medien vollzieht. Die Reise nimmt keine metaphysische Wendung, wie Jennifer Pavlik schreibt7. Im Gegenteil, in den Erschütterungsmomenten drückt sich die Entwicklung hin zu einer Wirklichkeitswahrnehmung aus, die unvermittelt und unmittelbar passiert.
Herrndorfs eigenes Programm der Störungs- oder Kontingenzbewältigung.
Anders verhält es sich bei Sand. Die Sinnlosigkeit der erzählten Welt, in der ein Protagonist, der auf der Suche nach seiner Identität ist, gefoltert wird für vermeintliche Taten, an die er sich nicht erinnern kann, spiegelt sich auf der Rezeptionsebene wider: Die Leser:inneninstanz wird von einem Erzähler, der sich vereinzelt als allwissend ausgibt (und dadurch umso ‚böser‘ wirkt), genauso im Dunklen gelassen über die Identität des Protagonisten wie dieser selbst. Drei von fünf Leser:innen, schreibt Herrndorf in Arbeit und Struktur, verstehen seinen Roman nicht. Dabei ist die Handlung, das weist Michael Maar in seinem vielrezipierten Merkur-Essay zum Roman nach, trotz aller Verwirrungen völlig konsistent.8 Allerdings ist die Welt von Sand, so bringen es die Himmelsbetrachtungen von „Carl“ auf den Punkt, durch und durch sinnlos. Selbst die Frage nach dem Sinn ist unsinnig: „Warum lässt Gott das Böse zu? Warum segeln die Wolken am Himmel? Warum ist Amerika nicht Fußballweltmeister?“ (Sand, S. 377) Aber sie wird gestellt, selbst in dieser grausamen Welt voller Folter und Tod. Was inmitten des Leids erhalten bleibt, ist „das Mitleid mit dem Lebendigen“9.
Und schließlich ist da noch Herrndorfs eigenes Programm der Störungs- oder Kontingenzbewältigung. Es nennt sich „Arbeit und Struktur“, wie sein Blog, und ist untrennbar mit ihm verbunden. Über einen erzählerischen Rahmen wird mit dessen Anfang eingelöst, was Herrndorf in einem späteren Eintrag als „berufsbedingt ununterdrückbare[n] Impuls, dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken“ (Arbeit und Struktur, S. 393) bezeichnet. Die Erzählung ist zwar an das Medium des Blogs angepasst, sie weist aber über dessen Konventionen hinaus.
„Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet.“ So beginnt der erste Eintrag. In ihm schildert Herrndorf seine „erste Erinnerung an diese Welt“ und dabei weit mehr als eine Kindheitserinnerung. „Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.“
Willkommen in der biochemischen Lotterie.
Im Anfangseintrag ist der „Stillstand“ und damit der Tod – trotz der „Dämmerung“ (ein weiteres himmelsbezogenes Geschehen), die sich, nach Wunsch des Autors, so oft wie möglich wiederholen möge – als erste Erinnerung schon proleptisch vorgezeichnet. Und zwar vom Autor selbst, der nicht nur im wirklichen Leben, sondern auch in der Textwelt die Oberhand behalten will. Jede im Folgenden beschriebene Erschütterung ist also schon in diesen Rahmen eingebettet. Über den Erzählrahmen erhalten (krankheitsbedingte) Störungen, die an und für sich sinnlos sind und als sinnlos empfunden werden („Warum ich? Warum denn ich nicht. Willkommen in der biochemischen Lotterie.“ Arbeit und Struktur, S. 181) Bedeutung. Damit wird die Ernsthaftigkeit des durch den Blog auferlegten Programms klar, „dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken“ (Arbeit und Struktur, S. 393) – eine Strategie der Kontingenzbewältigung.
Warum Herrndorf lesen? Für genau diese Erschütterungsmomente, denen Raum gegeben wird, aber die nicht beim Gefühl der Erschütterung, beim Störempfinden des Alltagsbewusstseins, stehenbleiben, sondern die diese Überschreitungen zum Ausgangspunkt für Reflexion und Korrektur nehmen und die zudem „das Mitleid mit dem Lebendigen“ wachhalten. Die Biographie von Tobias Rüther sei zur Annäherung an Herrndorf ebenso empfohlen wie das Theaterstück Arbeit und Struktur, das im Januar im Schauspielhaus Düsseldorf aufgeführt wird.
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Kathrin Ritzka hat Theologie und Deutsche Literatur in Freiburg/Br., Cambridge und Berlin studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie des Instituts für Katholische Theologie an der HU Berlin. Zugleich arbeitet sie als Koordinatorin am Aufbau des interdisziplinären „Center for Interreligious Theology and Religious Studies“ (CITRS) mit.
- Rüther, Tobias: Herrndorf. Eine Biographie, Rowohlt Berlin 2023. ↩
- Maar, Michael: „‚Er hat’s mir gestanden‘. Überlegungen zu Wolfgang Herrndorfs ‚Sand‘“, Merkur 66, Heft 4 (2012): 333–40. ↩
- Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf, in einer Fassung von Robert Koall, Uraufführung am 9. September 2023, Schauspielhaus Düsseldorf. ↩
- Rüther 2023, S. 258. ↩
- Baßler, Moritz: „Nach den Medien. Wolfgang Herrndorfs Tschick zwischen Populärem Realismus und Pop“, in Wolfgang Herrndorf, hrsg. v. Annina Klappert, 67–83, Weimar 2015, hier: S. 67. ↩
- Baßler 2015, S. 68. ↩
- Vgl. Pavlik, Jennifer: „Bildung ohne Geländer. Gattungs- und bildungstheoretische Reflexionen in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick“, in „Germanistenscheiss“: Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs, hrsg. v. Matthias N. Lorenz, 259–277, Berlin 2019, hier: S. 270. ↩
- Vgl. Maar 2012, S. 333–340. ↩
- Maar 2012, S. 340. ↩