Ein Mensch, fehlbar und in Konflikte verwickelt, offen für neue Situationen und mit der Vision von Kirche als pilgerndes Volk Gottes in der irdischen Realität mit all ihren Ambivalenzen – so sieht Daniel Kosch den Bischof von Rom im Rückblick auf seine ersten fünf Amtsjahre.
Fünf Jahre nach der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Bischof von Rom sind viele Rückblicke und Analysen erschienen, weitere werden folgen. Meine Überlegungen beschränken sich auf einige grundsätzliche Fragen im Rückblick auf diese fünf sehr bewegten und bewegenden Jahre.
Rücktritt ist eine Option
Kardinal Bergoglio wurde nach dem spektakulären Rücktritt von Papst Benedikt XVI. dessen Nachfolger. Und er machte sehr rasch klar, dass auch er einen Rücktritt nicht ausschliesse. Überraschend schnell hat man sich an den Gedanken gewöhnt, dass diese Möglichkeit des Amtsverzichts nicht nur in absoluten Ausnahmesituationen besteht. Angesichts der ausserordentlichen Bedeutung des Papstamtes für die Identität der katholischen Kirche ist das eine wichtige Akzentverschiebung. Die Emeritierung zu Lebzeiten, die inzwischen für alle anderen Bischöfe «normal» ist, stellt die ekklesiologische Stellung und die apostolische Sukzession auch im Fall des Bischofs von Rom nicht in Frage.
Fehlbarkeit ist nicht nur sympathisch
Papst Franziskus hat schon im Aufsehen erregenden grossen ersten Interview mit Antonio Spadaro von seinen charakterlichen Schwächen gesprochen und betont, dass er ein Sünder sei. Dieses Eingeständnis der Fehlbarkeit wirkt sympathisch, die Fehlbarkeit selbst aber ist manchmal ärgerlich, in gewissen Fällen weit mehr als das. Manche Äusserungen, wie z.B. die, dass eine Ohrfeige in der Kindererziehung manchmal nicht schaden könne, sind nicht «papstwürdig». Viel schwerer wiegt, dass er sich im Umgang mit der Missbrauchsthematik nicht nur unglücklich geäussert, sondern möglicherweise schwerwiegende Fehlentscheide getroffen hat. Seine Selbstaussage «Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat», ist keine blosse Rhetorik, sondern schmerzhafte Realität. Sie wirft in der heutigen Zeit die Frage auf, ob es angesichts der Fehlbarkeit jedes Menschen, auch des Papstes, nicht Mechanismen bräuchte, die das Risiko einsamer Fehlentscheide in der Amtsführung verringern.
Die Vielfalt päpstlichen Handelns übersteigt das menschliche Mass
Noch stärker als seine Vorgänger ist Papst Franziskus rund um die Uhr, in allen Lebenslagen und zu sämtlichen Themen öffentlich wahrnehmbar. Mit der Intensivierung «synodaler» Prozesse vom K9-Rat über die Bischofssynoden samt der entsprechenden Vorbereitungsprozesse wird zudem transparenter als bisher, wie Kirchenleitung und Kirchenentwicklung auf universalkirchlicher Ebene geschieht. Mehrfach hat Franziskus seine Reformvorhaben zudem explizit thematisiert, beispielsweise in Interviews, in «Evangelii gaudium» oder in seinen Weihnachtsansprachen vor der Kurie. Nimmt man die vielen Personalentscheidungen (z.B. Bischofsernennungen), Grossbaustellen wie die Missbrauchskrise und die Vatikanfinanzen sowie die zahlreichen weltpolitischen und interreligiösen Kontakte und Interventionen hinzu, wird überdeutlich, dass die Bandbreite der Themen und Herausforderungen das Menschenmögliche übersteigt.
Mehrfach hat Franziskus seine Reformvorhaben zudem explizit thematisiert.
Die fünf Jahre von Papst Franziskus zeigen nicht nur, wie unglaublich viel eine Person an so einer Schlüsselstelle bewirken und in Gang setzen kann, sondern machen auch sichtbar, dass die Ausübung des Papstamtes der Reform bedarf – gerade wenn man die condition humaine und die Begrenztheit jedes Menschen ernsthaft in Betracht zieht. Selbst wenn man eine professionelle und kompetente Vorarbeit vieler Gremien, Ämter und Personen voraussetzt, bleibt der Zweifel, ob der Papst all das, was er heute zu entscheiden hat, so präzis und vertieft zur Kenntnis nehmen kann, dass er wirklich verantwortlich zu entscheiden vermag. Wäre dem nicht so, wäre es ein Gebot der Redlichkeit und der Klugheit, gewisse Entscheidungen und Amtshandlungen zu delegieren, sei es innerhalb der Kurie, sei es dezentral, wie es Franziskus selbst angeregt hat. Das würde allerdings auch voraussetzen, dass z.B. die Bischofskonferenzen in der Lage wären, die erweiterten Kompetenzen sinnvoll zu nutzen.
Was Glaubenswahrheit ist, wird nicht mehr «von oben» entschieden
Wenn sie Reformforderungen der Kirchenbasis ablehnten, beriefen sich konservative kirchliche Kreise, Theologen und Bischöfe zur Zeit der Vorgänger von Papst Franziskus jeweils darauf, dass sie damit dem Papst treu seien – und sprachen reformfreudigen Katholiken die Papst- und Kirchentreue ab. Insbesondere die Diskussionen um «Amoris laetitia» und den Umgang mit den wiederverheirateten Geschiedenen haben gezeigt, dass dem nicht mehr so ist. Wer papsttreu sein will, muss unter Franziskus bereit sein, von vermeintlich eindeutigen Antworten zugunsten der Anerkennung komplexer Realitäten und differenzierter Antworten Abschied zu nehmen. Dem widersetzen sich manche Kardinäle und Bischöfe offen. Damit wird sichtbar, dass de facto auch jene, die von sich behaupt(et)en, ausschliesslich der Lehre der Kirche verpflichtet zu sein, ihr eigenes Verständnis der Glaubenswahrheit höher gewichten als das päpstliche Lehramt.
von vermeintlich eindeutigen Antworten zugunsten der Anerkennung komplexer Realitäten … Abschied nehmen
Diese Entwicklung zeigt, wie sehr die päpstliche Lehre und Amtsführung Teil der spätmodernen Diskussionskultur mit ihrem Ringen um Aufmerksamkeit und Zustimmung bis hin zu «Likes» in den sozialen Medien geworden ist. Nichts macht diese Entwicklung deutlicher als die «Pro-Pope-Francis»-Petition. Waren Petitionen in der Kirche früher eine Form ohnmächtigen Protestes «gegen», während man «für» den Papst betete oder Messen feierte, sind sie nun zum Instrument der Unterstützung eines Amtes geworden, von dem der katholische Glaube sagt, dass es von Gott verliehen wird und seine Legitimation demzufolge «von oben» und nicht «von der Basis her» hat. Papst Franziskus ist allerdings nicht der Verursacher dieser Entwicklung – seine Reformdynamik hat lediglich sichtbar gemacht, was schon unter seinen Vorgängern der Fall war, aber nicht so klar zu Tage trat.
Ziel der Kirchenreform sind weniger neue Strukturen als mehr Beweglichkeit
Mit drei umfangreichen lehramtlichen Texten «Evangelii gaudium» (2013), «Laudato si’» (2015) und «Amoris laetitia» (2016), vielen anderen Dokumenten, programmatischen Reden (z.B. zu Europa), unzähligen Interviews, symbolischen Handlungen, Videobotschaften, täglichen Predigten und Tweets hat Papst Franziskus in fünf Jahren zahlreiche, zum Teil sehr grundsätzliche und wichtige Anstösse gegeben. Keinem der Themen der drei wichtigsten Dokumente (Kirchenreform, Umgang mit dem «gemeinsamen Haus» der Schöpfung, Ehe- und Familienpastoral) kann man die Wichtigkeit und Dringlichkeit absprechen.
durch die Brille des Change-Managements betrachtet: «unfreeze – move – refreeze»
Wer die päpstlichen Reformen durch die Brille des klassischen Change-Managements mit dem Dreischritt von «unfreeze – move – refreeze» betrachtet, wird jedoch die bange Frage stellen, ob die Breite und die Vielfalt der Themen und der Reformanstösse für einen «Strukturwandel» nicht zu gross ist. In der Tat ist es für das Fassungsvermögen einer einzelnen Person (z.B. eines Bischofs) oder einer kirchlichen Gemeinschaft (z.B. einer grösseren Pfarrei oder einer Ordensgemeinschaft) unmöglich, all diese Impulse aufzunehmen und in das eigene Leben zu integrieren. Entsprechend hoffen manche Befürworter der päpstlichen Reformen, dass Papst Franziskus es mit dem «Auftauen» und «Bewegen» der Strukturen nicht übertreibt, sondern bald dazu übergeht, seinen Reformen mit Hilfe verbindlicher neuen Strukturen und Regelungen eine bleibende, nachhaltige Form zu geben, wie es dem dritten Schritt des Change-Management, dem «Wiedereinfrieren» entspricht. Dafür gibt es bisher jedoch keine Anzeichen: Weder für den Codex Iuris Canonici (mit seinen verfassungsrechtlichen und kirchenrechtlichen Bestimmungen) noch für den Katechismus der katholischen Kirche (mit seinen Aussagen zum Glauben und zur Moral der Kirche) sind bisher tiefgreifende Reformen absehbar.
Papst Franziskus hält das «Refreeze» gar nicht für wünschbar.
Daraus abzuleiten, Franziskus könne und wolle «im Wesentlichen» nichts ändern, hiesse wohl, seinen Reformwillen zu unterschätzen. Plausibler scheint eine andere Interpretation: Papst Franziskus hat es mit dem «Refreeze» nicht nur deshalb nicht eilig, weil er der Auffassung ist, zuvor müsse noch mehr auftauen und in Bewegung kommen, sondern auch, weil er das «Refreeze» gar nicht für wünschbar hält. Sein pastorales Konzept auf der Basis des Begleitens, Unterscheidens und Integrierens, und seine Vision einer Kirche, die ihre Selbstbezüglichkeit aufgibt, sich heilsam dezentralisiert und an die Ränder hinauswagt, kommen mit weniger rechtlichen Regelungen und mit weniger Strukturen aus und relativieren deren Bedeutung. Das Reformprojekt von Franziskus strebt nicht primär einen «Umbau» an, sondern ist eher darauf aus, das Haus der Kirche in ein beweglicheres Zelt zu transformieren, das mit weniger Strukturen und normativem Gerüst auskommt. Auch eine solche Transformation kommt allerdings nicht ohne rechtzeitige Anpassungen der normativen Grundlagen aus.
Abschliessende Thesen
1. Mit Papst Franziskus ist die Statue des Apostelfürsten vom Sockel gestiegen. Er geht seinen Weg «in den Schuhen des Fischers», wie der Petrus des Neuen Testaments: Beeindruckend im leidenschaftlichen Eifer für das Evangelium, fehlbar und in harte Konflikte verwickelt, und in all dem unverzichtbar für die Gemeinschaft der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu.
2. Unter Papst Franziskus hat der Wunsch von Johannes-Paul II. nach einer «Form der Primatsausübung, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet», ein konkretes Gesicht erhalten (vgl. EG 32). Notwendig ist dies nicht nur aus theologischen, sondern auch aus praktischen Gründen. Die Fülle und Vielfalt dessen, was das Amt des Bischofs von Rom heute von seinem Inhaber verlangt, übersteigt das menschliche Mass.
3. Papst Franziskus hat die biblisch inspirierte Vision des Konzils von der Kirche als «pilgerndem Volk Gottes» revitalisiert. Sie konkretisiert sich mit allem, was zu einem solchen Unterwegssein gehört: Hoffnung und Aufbruch, Unsicherheit und Streit über den richtigen Weg, Infragestellung des Führungsanspruchs und lautstarkes Murren, sowie Sehnsucht nach der (vermeintlich) «guten alten Zeit», als die Kirche noch Sicherheit bot. Weder Papst Franziskus noch die Kirche werden das «gelobte Land» auf ihrem irdischen Pilgerweg erreichen. Aber mir und vielen anderen hat Franziskus neu bewusst gemacht, dass wir mit einer Verheissung unterwegs sind, und uns ermutigt, «wagemutig und kreativ zu sein» (EG 33), selbst wenn das mit dem Risiko verbunden ist, als fehlbare Menschen Teil einer «verbeulten Kirche» zu sein, die «verletzt und beschmutzt ist» (EG 49).
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Daniel Kosch, Dr. theol., ist Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz und Autor von feinschwarz.net.
Bild: pixabay.com
Siehe auch den Beitrag von Norbert Reck: