Am 15. Juli 2017 wäre Walter Benjamin (1892-1940) 125 Jahre alt geworden. Ottmar Fuchs erschließt einige Grundzüge seines Denkens. Es geht um eine Geschichtswahrnehmung, die im Rückblick verborgene Quellen zusammenführt. Denn: „Der jüngste Tag ist eine rückwärts gewandte Gegenwart.“ (Benjamin)
Wenn der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher von einer notwendig „kenotischen Struktur der Praktischen Theologie“, also von einer hingabefähigen Theologie spricht, dann ist dies nicht nur “nach außen“ auf das „dienende“ Verhältnis der Praktischen Theologie zu den Wirklichkeitsbereichen, denen sie begegnet, zu beziehen, sondern auch „nach innen“ auf die Art und Weise des Denkens selbst. Denn das Denken und insbesondere die wissenschaftliche Reflexion sind selbst ein Machtproblem, etwa darin, dass sich das Denken so herrschaftlich über die Wirklichkeit erhebt, dass es mit seiner fatalen Verbindung von Interessen und Abstraktion zur Ideologie wird, also zu einem falschen Bewusstsein von dem, was tatsächlich der Fall ist oder sein sollte.
Nach Theodor W. Adorno ist das Denken mit der gleichen Begrenztheit, Ambivalenz und Hilflosigkeit geschlagen wie das Leben selbst. Indem die Wissenschaft derart eine kritische Theorie von sich selbst entwickelt, verliert sie nicht an wissenschaftlicher Qualität, sondern radikalisiert sie, indem sie ihre Grenzen nach innen wie nach außen nicht verdrängt, sondern ins Bewusstsein hebt.
Zwischen Analyse und Mythos
Hingabefähigkeit markiert in der Wissenschaft selbst einen Gegenpol zum empirisch-rationalen Diskurs mit seinen erwartbaren Methodenpaketen. Gegenüber der Forderung von Martin Broszat, den Nationalsozialismus zu historisieren und in eine normalisierend objektivierende Forschung der Kontinuität deutscher Geschichte aufzunehmen, behauptet Saul Friedlander die Notwendigkeit einer empathiefähigen, vielleicht sogar posttraumatischen Wahrnehmung, um der entsetzlichen Wucht eines Geschehens annähernd „gerecht“ zu werden. Broszat nennt diese schmerzliche, trauernde und anklagende Erinnerung eine „mythische Erinnerung“. Er kann für seine Erforschung der NS-Zeit nicht akzeptieren, dass Auschwitz „zu dem alleinigen Maßstab der geschichtlichen Perzeption dieser Zeit gemacht wird.“
Die Empathie und das Commitment bringen eine eigene Objektivierungsqualität ein, weil sie der empirisch nicht erfassbaren „Tiefenschicht“ der Ereignisse zu entsprechen versuchen.
Mir geht es nicht darum, diesen „Historikerstreit“ hier weiterzuführen. Wir brauchen in den Wissenschaften beides, aber eben beides, nämlich dass sich beide Zugänge, so spannungsgeladen ihre Beziehung ist und gerade deswegen, gegenseitig in der Wissenschaft benötigen und irritieren. Die leider nicht selten antreffbare Arroganz auf das Monopol von Wissenschaftlichkeit im empirisch-positivistischen bzw. analytischen Bereich kann man sich dann sparen, weil sich hier nur die Hälfte menschlicher Wahrnehmungskapazität im Bereich der Wissenschaft widerspiegelt. Die andere Hälfte, nämlich die der Empathie und des Commitments, bringt aber eine eigene Objektivierungsqualität ein, weil sie der empirisch nicht erfassbaren „Tiefenschicht“ der Ereignisse zu entsprechen versuchen. Die Wissenschaft wird umso mehr Wissenschaft, als sie dieses angeblich Andere ihrer selbst als unerlässlichen Pol ihrer selbst wahrnimmt, durchaus in einer komplexitätssteigernden und immer wieder neu methodenkritischen Provokation.
Die Verletzbarkeit des Lebens erfährt damit eine analoge Verletzbarkeit in der methodischen Rekonstruktion der wissenschaftlichen Reflexion. Dies ist eine bedeutsame Herausforderung für die methodische Selbstkonstruktion der Wissenschaft, mit der dringlichen Anfrage, wie weit die Wissenschaften ihren allgemein akzeptierten humanistischen Horizont situations- und verantwortungsbezogen präzisieren und genau diesem Diskurs in sich selbst nicht ausweichen wollen.
Im Horizont der „Jetztzeit“
Genau dies habe ich vor allem in der Erkenntnisweise von Walter Benjamin gelernt. Nach ihm lassen sich zeitlich und lokal auch weit entfernte Ereignisse in der Geschichte an ihrem tieferen Grund miteinander so verbinden, dass sie beide, mögen sie auch in völlig unterschiedlichen Kontexten entstanden sein, gleichwohl eine ähnliche „Idee“ zum Ausdruck bringen. Dies geschieht selbstverständlich nur im Zusammenhang mit ähnlichen Auf-den-Grund-Gängen in der Gegenwart, denn die Vergangenheit gibt es nur in Beziehung zu einer Gegenwart, die sich in diesem abgründigen Bild des Vergangenen als gemeint erkennt. Es geht dabei darum, die Konstellation, in die ein eigenes Ereignis mit einem ganz bestimmten früheren Ereignis getreten ist, zu erfassen. Dies ist die „Jetztzeit“, die hinter die Gegenwart zurückgreift in eine Vergangenheit, die auf ihrem Ursprungsniveau mit der Gegenwart in Verbindung steht. Es handelt sich um verborgene Konstellationen, die es in dieser Jetztzeit zu entdecken gilt.
Ohne die Ereignisse gäbe es die Ideen nicht, und ohne die Ideen gäbe es nicht die Bedeutung und die Rettung der Ereignisse.
Benjamin vergleicht das Verhältnis der Phänomene zu den Ideen mit dem Verhältnis der Sterne zu Sternbildern. Es geht also nicht um den platonischen Ideenbegriff, sondern um die Darstellung eines Zusammenhangs zwischen Ereignissen, in dem die Ereignisse nicht degradiert werden oder gar verschwinden, sondern ihre unveräußerliche Wichtigkeit und Bedeutung gewinnen. Ohne die Ereignisse gäbe es die Ideen nicht, und ohne die Ideen gäbe es nicht die Bedeutung und die Rettung der Ereignisse.
Dies verbindet sich „mit einem immer weiter ausholenden, immer inbrünstigern Zurückgreifen auf die Phänomene, die niemals in Gefahr geraten, Gegenstände eines trüben Staunens zu bleiben, solange ihre Darstellung zugleich die der Ideen und darin erst ihr Einzelnes gerettet ist.“ Benjamin wertet die vergängliche, kontingente und vor allem unterbrechende Erfahrung erkenntnistheoretisch auf. Solche Erfahrungen vermitteln eine Wahrheit, „die über die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis hinausgeht, aber das heißt nicht, dass sie in Unbegründbarkeit mündet, sondern an die Grenzen der Begründbarkeit führt.“ So gilt für Benjamin, „dass philosophische Theorie die Spannungen aushalten muss gegenüber dem, was sie nicht ist.“
Unterbrechung für das Gebrochene
Eine solche „philosophische Geschichte“ ist für Benjamin zugleich die „Wissenschaft vom Ursprung“. Während der Historismus mit seinem Containerbegriff der Zeit das Kontinuum der vergangenen Ereignisse addiert, steht der Ursprung in der Geschichte quer, wie der Strudel im Fluss, senkrecht zur Fließrichtung. Was in den Strudel des Ursprungs hineingerät, wird festgehalten und so aus dem Fluss herausgezogen. Der Strudel, unter der Wasseroberfläche verborgen, zeigt erst das Ursprüngliche.
Was in den Strudel des Ursprungs hineingerät, wird festgehalten und so aus dem Fluss herausgezogen. Der Strudel, unter der Wasseroberfläche verborgen, zeigt erst das Ursprüngliche.
Die Phänomene haben also ein „Ursprungssiegel“ und sind darin mit nahen oder auch weit entlegenen Ereignissen mit ähnlichem Ursprungssiegel verbunden. Man kann vielleicht auch das Bild von weit auseinanderliegenden Brunnen bemühen, die an ihrem tiefsten Grund mit dem gleichen Grundwasser verbunden sind. Eine Wissenschaft, die sich selbst und der Geschichte nicht auf diesen Grund geht, bleibt an der Oberflächenkontinuität der Ereignisse, eine Masse von Fakten aufbietend, „um die homogene und leere Zeit auszufüllen.“
So wird die Unterbrechung des Kontinuums zugleich zu einer Unterbrechung der Siegergeschichte und des durch sie betriebenen Konformismus.
Bei Benjamin verbietet es sich, eine solche Art von Erkenntnistheorie nur als eine formale zu verstehen. Als solche wäre sie für beliebige Gründe und Abgründe offen, auch für den Abgrund des Bösen, der Unterdrückung und der Gewalt. Denn Benjamin verschweißt dieses Gegen-den-Fluss-Stehen des Strudels mit einem ganz bestimmten Verständnis des Kontinuums, nämlich des Kontinuums der Sieger über die Besiegten, der Reichen über die Armen, der Barbarei über die Gerechtigkeit. So wird die Unterbrechung des Kontinuums zugleich zu einer Unterbrechung der Siegergeschichte und des durch sie betriebenen Konformismus. Es geht nicht um irgendein Gegen-den-Strich-Bürsten der Geschichte, sondern um ein ganz bestimmtes Gegen-den-Strich-Bürsten jener Geschichte, die Opfer schafft und Opfer vergisst.
Gegen diesen übermächtigen Feind beschwört Benjamin die schwache messianische Kraft gegen das Unabgegoltene zugunsten aller Leben, die nichts gegolten haben. Diese Bereiche des Vermissten und Ausstehenden sind mit kontinuierlichen Kausalketten weder im konzeptionellen noch im historistischen Denken entdeckbar. Deren Kontinuität lebt vielmehr davon, das alles zu verdrängen, zu vergessen und in den Weg der Geschichte einzustampfen: durch Verschweigen, durch selektives Erinnern, durch Verschleierung, durch Verharmlosung (wenn der Hungertod von Millionen als „Ernährungskrise“ diskutiert wird), durch Herabsetzung und Verhärtung.
Im Extrem den Torso aufsuchen
Es stellt sich die Frage, wo und wie sich dieser Zusammenhang am ursprünglichsten erschließt. In seiner erkenntniskritischen Vorrede im Trauerspielbuch klärt Benjamin diese Frage: „Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, so lange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist.“ Erkenntnisform und Erkenntnisinhalt bilden so eine Einheit: in der Unterbrechung der Kontinuität, wie sie in Extremerfahrungen geschieht, wird zugleich die Kontinuität der Unterdrückung unterbrochen. Hier wird deutlich genug: „Das Allgemeine ist nichts Durchschnittliches, sondern die Idee, deren Darstellung erst im Gang durch die Extreme gelingt.“
An der Bruchgrenze zwischen Einzelnem und Kontinuum blitzt ihr tatsächliches gegenseitiges Verhältnis auf.
Zwar wird man nicht jedes Kontinuum allein aufgrund seiner formalen Kontinuität zu verdächtigen haben. Es gibt auch „gute“ und zu stützende Kontinuitäten von Strukturen und Gewohnheiten, von gegenseitiger Sicherheit und Zuverlässigkeit. Doch darf man die Gefahr nicht unterschätzten, dass sie in ihrem überindividuellen Ordnungsdrang über die singulären Erfahrungen hinweggehen und deren Begrenzungen nicht in die Bestimmung ihrer (dann eben auch nur bruchstückhaften) „Kontinuität“ aufnehmen (können). Das Kontinuum könnte dann nicht mehr störungsfrei, sondern mit Sand im Getriebe „funktionieren“. Zudem geht es bei der Erkenntnis im Extremfall gerade darum, entweder die die Einzelphänomene achtende und aufbauende Wirkung eines Kontinuums zu enthüllen oder dessen das Einzelne instrumentalisierende und zerstörende Realität zu demaskieren. An der Bruchgrenze zwischen Einzelnem und Kontinuum blitzt ihr tatsächliches gegenseitiges Verhältnis auf.
Das wirkliche Leben zeigt sich dort, wo es in den Strudel gerät, der bis an dessen Ursprungstiefe gelangt.
Erkennen ist damit nicht primär die empirische additive Anreicherung der quantitativ häufigsten oder qualitativ herrschenden normalen Phänomene, sondern steigt in die „Strudel“ der Einzelphänomene hinunter samt deren Ursprung ihrer Gebrochenheit und Unverlierbarkeit: also bis an die Wurzeln unmittelbarer und doch vermittlungsnotwendiger Evidenz. Wie der Strudel im Fluss senkrecht, also quer zu dessen kontinuierlicher Flussrichtung steht (die unerbittlich über alles hinweggeht), so zeigt sich das wirkliche Leben dort, wo es in den Strudel gerät, der bis an dessen Ursprungstiefe gelangt. Damit ist das Phänomen gerettet und wird gleichzeitig zur prominenten Wahrnehmungsquelle dafür, was unter und auf der Flussoberfläche tatsächlich „abläuft“.
Hoffnung auf Rettung?
Die Rettung aller „Trümmer“ kommt von außen. Paul Klees Angelus Novus wird von Benjamin als Engel der Geschichte in der Mitte seiner Geschichtsthesen mit dem erschrockenen Gesicht zum Trümmerfeld der Geschichte, ständig durch die Geschichte vorwärtsgeschleudert bis in das Endzeitgeschehen hinein. Im Gericht wird der Sturm der Geschichte abgestellt, der den Engel daran hindert, das Notwendige zu tun, nämlich zu retten. Der Engel der Geschichte beginnt nun die Zeit des großen Aufsammelns der Trümmer, die er mit dem Blick gegen den Sturm alle gesehen und genau gemerkt hat.
Wo Menschen die Umkehr zu dieser Sicht der Geschichte wagen, mag es ihnen gelingen, im Sturm der Geschichte im Vorgriff auf das Jüngste Gericht bereits jetzt Trümmer zu sehen und zusammenzufügen, Menschen zu retten und zu versöhnen.
Nun beginnt so etwas wie ein neuer Sturm, gegenläufig zu dem der Geschichte: Der Engel der Geschichte jagt nun in entgegengesetzter Richtung durch die Geschichte hindurch bis an ihren Anfang und wird nichts, aber auch gar nichts vergessend, alles einsammeln. Das ist der messianische, der eschatologische Tag, der an allen Stellen in der Vergangenheit verweilt, die Toten erweckt und das Zerschlagene zusammenfügt. Wo Menschen die Umkehr zu dieser Sicht der Geschichte wagen, mag es ihnen gelingen, im Sturm der Geschichte im Vorgriff auf das Jüngste Gericht bereits jetzt Trümmer zu sehen und zusammenzufügen, Menschen zu retten und zu versöhnen. Geschieht derart Umkehr, dann ist Benjamins Diktum erfahrbar: „Der jüngste Tag ist eine rückwärts gewandte Gegenwart.“
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Ottmar Fuchs ist em. Professor für Praktische Theologie in Bamberg und Tübingen.
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