Zum Tod des großen Konzilstheologen Gregory Baum erinnert Norbert Mette an dessen noch immer wegweisende Lebensleistung – eine bleibende Erinnerung an die Zukunft der Theologie.
Am 18. Oktober ist Gregory Baum in einem Krankenhaus in Montreal gestorben. Noch vier Monate vorher, anlässlich seines 94. Geburtstages am 20. Juni, hatte ich ihn besucht und die Zeit, die ich dort war, mit ihm in seiner Wohnung verbringen dürfen. Kennengelernt hatten wir uns im Direktionskomitee von „Concilium“, in dem wir eine Zeit lang zusammengearbeitet haben. Daraus entstand eine Freundschaft. Wir korrespondierten viel miteinander. Immer wenn Gregory in Deutschland war, nahm er einen Abstecher über Münster, um mich und meine Familie zu besuchen.
Nachdem ich ihn lange nicht mehr gesehen hatte, musste ich bei meinem neuerlichen Besuch feststellen, dass seine körperlichen Kräfte nachgelassen hatten; nicht zuletzt trug dazu die Dialyse bei, der er sich seit längerer Zeit unterziehen musste. Das hielt ihn aber nicht davon ab, weiterhin aktiv tätig zu bleiben und z.B. Einladungen zu Vorträgen auch außerhalb von Montreal anzunehmen. Nachdem er allerdings sich im Herbst des Vorjahres entschlossen hatte, nicht mehr Auto zu fahren, hatte er es aufgegeben, sich Tag für Tag in das von Jesuiten getragene Zentrum Justice et foi zu begeben, in dem er seit seiner Emeritierung mitgearbeitet hatte. Er blieb nunmehr in seiner Wohnung (mit einem wunderbaren Ausblick auf Montreal) – den Tag über meditierend, lesend, schreibend –, was jedoch nicht auf Kosten seines Kontakts mit seinem großen Kreis von Freund*innen und Bekannten ging.
Mitleidenschaft, Solidarität und Widerstand
Aufmerksam verfolgte er weiterhin das Zeitgeschehen, war tief betrübt darüber, dass in der Welt immer stärker das Böse überhandnahm, und zugleich voller Trost und Hoffnung, dass sich dem eine global vernetzte Bewegung für Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit widersetzt. Mitleidenschaft (compassion), Solidarität und Widerstand waren ihm zur Lebensdevise geworden – und in diesem Sinne mischte er sich ein, nahm er exponiert Stellung, mündlich und schriftlich. Politisch schlug sein Herz links. Aus der dankbaren Erfahrung, in seinem Leben von der Gnade Gottes umfangen und getragen zu sein, bezog Baum die gläubige Zuversicht auf das Wirken dieser Gnade in der ganzen Welt, auch außerhalb der Kirche. Großen Wert legte er darum auf den Austausch auch mit nicht religiösen Zeitgenoss*innen. Von ihren Gedanken über Menschsein, Gesellschaft und Geschichte habe, so hatte er es immer wieder konkret nachvollziehen können, die Theologie viel zu lernen. Für das Theologietreiben bedeutete das für ihn umgekehrt, dass es in der Lage sein müsse, sich so zu artikulieren, dass es auch für Nichtgläubige zumindest nachvollziehbar sei.
Ich reiste nach Deutschland zurück mit dem Eindruck, dass Gregory geistig noch voller Tatendrang war und wir noch lange Zeit im Austausch bleiben könnten. Das Schreiben von Büchern, Artikeln und kurzen Kommentaren war für Baum geradezu zum Lebenselixier geworden. Er wollte das auf einem Blog, den er gerade einrichtete, noch intensivieren. Aber offensichtlich ist seine körperliche Verfassung in den Wochen danach stark eingebrochen, so dass er sich entschlossen hat – wie er es sich im Falle des sichtlichen Verlustes seiner Lebenskraft vorgenommen hatte –, die Dialyse abzubrechen.
Durchbruch der Theologie auf die Höhe der Zeit
Auch wenn das in seinem ursprünglichen Heimatland Deutschland so nicht verfolgt worden ist, ist Gregory Baum mit seinem umfangreichen Werk zu den bedeutenden Theolog*innen der Gegenwart zu zählen.[1] Durch und durch mit den Schriften von Augustinus und Thomas von Aquin vertraut, hat er – stark angeregt von Maurice Blondel und Karl Rahner – in vorderster Reihe zum Durchbruch der Theologie auf die Höhe der Zeit beigetragen. Das Zweite Vatikanische Konzil, an dem er als Peritus aktiv beteiligt war, bezeichnete er als das große theologische Ereignis seines Lebens. In der Kontroverse für ein angemessenes Verständnis dieses Konzils stand es für ihn eindeutig fest, dass es einen grundlegenden Wandel, einen Paradigmenwechsel im Glaubens- und Kirchenverständnis gebracht hat: statt „extra ecclesiam nulla salus“ die Überzeugung von Gottes erlösender Gegenwart in der Geschichte der ganzen Menschheit sowie die Öffnung der Kirche und der Theologie für den Dialog mit der Welt.
Mit vorbereitet hatte Baum das mit seinen frühen Studien zur interkonfessionellen Ökumene sowie zur Revision der Beziehung der katholischen Kirche zum Judentum. Zu seinen weiteren Verdiensten zählen die Öffnung der Theologie zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit den anderen Wissenschaften, besonders der Psychologie, Soziologie und Ökonomie, die Neuformulierung der Sexualethik ausgehend von der durch menschliche Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen Sichtweise, das Insistieren auf die soziale und politische Dimension des christlichen Glaubens in Gefolge der Neuen Politischen Theologie und Befreiungstheologie, die Aktualisierung der kirchlichen Sozialverkündigung, das Bekanntmachen der französischsprachigen Theologie über Quebec hinaus sowie sein Beitrag zum interreligiösen Gespräch, insbesondere mit dem Islam.
Impulse für das weitere Theologietreiben
Wenn man fragt, welche Impulse von Gregorys Baums Œuvre für das weitere Theologietreiben ausgehen, so seien aus der möglichen Fülle folgende drei Punkte herausgegriffen:
– Die Theologie ist nach Baum in dem Maße zukunftsfähig, wie sie dem Vermächtnis des Zweiten Vatikanischen Konzils treu bleibt und es aktiv mit Blick auf die jeweiligen Herausforderungen der Gegenwart aktualisiert[2]: Dieses Vermächtnis besteht nach ihm in folgenden Themen: (1) die Bekehrung der Kirche zu den Menschenrechten, (2) die Einsicht in die alles umfassende erlösende Gegenwart Gottes, (3) die Entscheidung für eine vorrangige Option für die Armen, (4) das Engagement für eine Kultur des Friedens und (5) das Sich-Anfreunden mit dem religiösen Pluralismus. Zusätzlich führte Baum als vordringlich anzugehende innerkirchliche Desiderate an: die Dezentralisierung der kirchlichen Autorität, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auch innerhalb der Kirche und die Revision der kirchlichen Sexualdoktrin.
Alternative practices
– Bei seiner Beschäftigung mit der französichsprachigen Theologie wurde für Gregory Baum das Buch von Fernand Dumont (1927-1997) L’institution de la thélogie zur großen Entdeckung.[3] Er ordnete ihm einen ähnlichen Rang zu wie John Henry Newman’s Essay on the Development of Christian Doctrine (1845). U.a. überzeugte ihn und machte er sich zu eigen, wie Dumont bestimmte, was eine „katholische Identität heute“ ausmacht: Im Unterschied zu einer Identität als einer in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten praktizierten Zugehörigkeit zur Kirche oder zu einer Identität als gehorsame Integration in das bestehende institutionelle System führte Dumont als dritte Möglichkeit eine Identität durch référence an, was nach Baum so etwas wie symbolische Identifikation mit einer gemeinsam geteilten Erinnerung und Hoffnung bedeutet, Erinnerung an die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen und die sie darstellenden Zeugnisse und rituellen Vollzüge und Hoffnung auf eine heilvollere Zukunft durch den Rückgriff auf die in der Tradition enthaltenen Ressourcen für ein Engagement zu Compassion und sozialer Gerechtigkeit. Das bedeutet, so führt Baum im Anschluss an Dumont dazu aus, dass mit Blick auf die Glaubwürdigkeit des Evangeliums für heute und dem kirchlichen Dienst daran dem tätigen Zeugnis eine größere Bedeutung beizumessen ist als der Doktrin.[4] In seinem per Video übertragenen Statement anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Katholisch-theologische Fakultät Tübingen am 1. Dezember 2016 formulierte Baum das wie folgt: „Gnädiges Denken und Handeln in unserer Zeit ist daher Widerstand, résistance, kulturelle Opposition, kritisches Denken, Protestbewegungen für Frieden und Gerechtigkeit und, was man auf Englisch alternative practices nennt, alternatives Handeln. In der heutigen Zeit leisten Beten und Kontemplation Widerstand: die Gläubigen identifizieren sich hier mit einer anderen Welt, mit einem Reich der Liebe und Gerechtigkeit und hoffen, dass Gottes Wille geschähe auf dieser Erde.“ Aber – so ergänzte er – „Katholiken im Widerstand sind eine Minorität in der Kirche“.
Religion als kreative Kraft
– In seiner Replik auf das Opus „Das säkulare Zeitalter“ seines Kollegen an der McGill-University Charles Taylor[5] plädierte Baum entschieden für einen Dialog und eine Kooperation zwischen religiösem Glauben und immanentem Humanismus, um der neoliberal-ökonomistisch betriebenen Globalisierung eine kraftvolle Alternative entgegenzusetzen. Am Schluss des Buches, so führt er dazu aus, habe Taylor überzeugende Argumente dafür angeführt, dass es einerseits gute Gründe für einen Glauben an die christliche Botschaft gebe und andererseits gute Gründe für ein Setzen auf den immanenten Humanismus. Er zeige, dass beide Weltsichten schwierige Fragen aufwerfen würden, für die es keine leichten Antworten gebe. In dem „Hin und Her“ (back and forth) zwischen Glauben und Unglauben bleibe die Religion trotz ihres Minderheitsstatus eine kreative Kraft. Von daher müsse es keinen Gegensatz zwischen Glauben und Unglauben geben. Baum griff das auf und ergänzte: „I wish to add to this that in the present civilisational crisis, religious humanist and secular humanist must work together in the defence of the common good and the integrity of the natural order.”
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Text und Bild: Norbert Mette
[1] Vgl. dazu sein letztes Buch: The Oil Has Not Run Dry. The Story of My Theological Pathway, Montreal & Kingston – London – Chicago 2017; vgl. dazu meinen Beitrag “Kritisch – parteilich – kontextuell: der Theologe und Soziologe Gregory Baum” (mit einem Interview mit Gregory Baum), in feinschwarz.net vom 1.2.2017
[2] Vgl. Gregory Baum, Amazing Church, Ottawa 2005.
[3] Vgl. Gregory Baum, Fernand Dumont. A Sociologist Turns to Theology, Montreal & Kingston – London – Ithaca 2015.
[4] In einem 2017 an den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Müller gesandten Brief schrieb Gregory Baum: „Heute glauben Katholiken an den göttlichen Auftrag des kirchlichen Lehramtes und sind bereit, sich belehren zu lassen. Aber wenn sie nach ernstem Zuhören von einer Lehre in ihren katholischen Gewissen nicht überzeugt sind, dann sprechen sie darüber mit anderen Gläubigen. Und wenn diese ähnliche Schwierigkeiten haben, dann folgen sie ihrem Gewissen – und hoffen auf eine Entwicklung der kirchlichen Lehre in der Zukunft.“
[5] Vgl. Gregory Baum, The Response of a Theologian to Charles Taylor’s A Secular Age, in: Modern Theology 26 (2010) 363-381.