Was genau ist Systematische Theologie? Was will und was kann sie leisten? Frederike van Oorschot und Lea Chilian über diese kniffelige Frage
Versteht man (systematische) Theologie als Reflexion über den Glauben, als Reflexion von Sinnfragen und Werten im Licht der theologischen Tradition und der biblischen Überlieferung, als Transformation und Tradierung, so steht diese Theologie in einer Beziehung zu gegenwärtigen Glaubensvorstellungen, Lebenswelten und Orientierungen. So schlicht diese Feststellung klingt, so schwer ist es zu bestimmen, wie diese Beziehung genau aussieht. Dies gilt zumindest für die gegenwärtige Systematische Theologie.
die christliche Tradition mit alltäglichen Überlegungen und Erfahrungen verbinden
Der Bezug zur Welt und zum alltäglichen Leben spielt in verschiedenen Ansätzen der theologischen Forschung eine Rolle. Durch empirische, narrative und hermeneutische Forschung versuchen Theolog*innen, die christliche Tradition mit alltäglichen Überlegungen und Erfahrungen zu verbinden. Sie kommt als Erfahrungswelt des Menschen in den Blick und wirft somit die Frage auf, wo und wie theologische Aussagen, Begriffe und Vorstellungswelten Resonanz mit den Erfahrungen von Menschen finden kann. Oder die Lebenswelt der Menschen wird als zu interpretierende „Umwelt” des Glaubens thematisiert, oft auf der Suche nach Spuren religiöser Themen. Andere verstehen die Lebenswelt als Quelle für theologische Fragestellungen, aus und mit denen theologisch nachgedacht werden soll. Dabei bleiben diese Bezüge zumeist sehr knapp und im Stil von eigenen Beobachtungen oder anekdotischen Einführungen. Im Fokus steht infolgedessen zumeist die historische oder begriffliche Arbeit – in der Dogmatik – oder die interdisziplinär anwendungsbezogene Forschung – in der Ethik. Wie methodisch fundiert induktive – also vom Konkreten ins Allgemeine arbeitende – Fragestellungen in die Systematische Theologie eingebracht werden können, ist eine offene Frage. Damit steht in die eine Richtung gedacht die Frage im Raum, wie Lebens- und Glaubenserfahrungen der Gegenwart Thema der Systematischen Theologie sein können – und in die andere Richtung stellt sich die Frage, wo und wie Systematische Theologie aus dem Studierzimmer gesellschaftsrelevant kommuniziert werden kann.
induktive – also vom Konkreten ins Allgemeine arbeitende Theologie
Der deutsche Dogmatiker Friedrich Mildenberger schlägt vor, drei Fragerichtungen in der Theologie zu unterscheiden: eine historische, eine normative und eine empirische. Mildenberger teilt diese Fragen auf die Disziplinen auf und ordnet die normative Frageperspektive der Systematischen Theologie zu. Diese Unterscheidung ist auf der einen Seite sehr hilfreich – und auf der anderen Seite Quatsch: Denn wenn man die Perspektiven auf die Disziplinen aufteilt und damit auseinanderreißt, erhält man drei Formen von Theologie, die nebeneinander wenig Sinn ergeben und niemandem in ihrer Distinktion nützen. Wenn es aber die Aufgabe jeder Theologie, auch der Systematischen Theologie, ist, diese Perspektiven miteinander zu verweben, gewinnt man einen hilfreichen heuristischen Zugang zu unserer Frage.
Perspektiven miteinander verweben
Es wäre dann in der Systematischen Theologie erstens zu fragen, inwieweit Ergebnisse und Beobachtungen gesellschaftlicher Entwicklungen für die eigene Forschung relevant sind und welche Bedeutung sie haben: Wie verhält sich die Dogmatik zur Lebenswirklichkeit und ihren religiösen Dimensionen, wie reagiert sie darauf, und woher bezieht sie ihr Material? So kann man beispielsweise fragen, inwieweit die Forschung zur Gotteslehre mit der kirchlichen Praxis und dem, was die Menschen heute glauben, übereinstimmt – zum Beispiel im Verständnis der Taufe. Verändern individuelle Glaubensvorstellungen die dogmatische Formulierung und Argumentation? Können z.B. aktuelle Gottesvorstellungen als Impulse für die Gotteslehre aufgegriffen werden, und gibt es dafür möglicherweise eine Notwendigkeit? In der Perspektive theologischer Ethik bedeutet das auch, sich nicht auf normativ-anwendungsethische Fragen zu fokussieren, sondern christliches Ethos zum gegenwärtigen Verstehen und der allgemein-gesellschaftlichen Orientierung ins Verhältnis zu setzen. Zweitens wäre nach der spezifischen Aufgabe der Systematischen Theologie in diesem verwobenen Feld zu fragen: Braucht es die Suche nach Kohärenz oder Systematisierung innerhalb der Einzelbeobachtungen – wie es der Name Systematische Theologie impliziert? Hier kann ein wesentlicher Beitrag der Systematische Theologie liegen – wenn man ihn bescheiden versteht: Denn es geht nicht um eine Top-Down-Sicht auf empirische oder kulturhermeneutische Einzelbeobachtungen – dass keine theologische Disziplin eine solche Vogelperspektive einnehmen kann, sollte aus den kontextuellen Theologien hinreichend deutlich geworden sein. Die Aufgabe der Systematisierung liegt meines Erachtens vielmehr in der sorgfältigen Verflechtung der Beobachtungen mit der christlichen Tradition (einschließlich der Heiligen Schrift). Diese „systematisierende“ Perspektive – im Unterschied etwa zu einer systematischen oder dogmatischen Perspektive – drückt den fortlaufenden Prozess aus, in dem Beobachtungen der Gegenwart mit christlichen Traditionen interpretiert und angeeignet werden, um sie in diese Perspektive hineinzulesen. Einerseits verweist sie auf den konstitutiv unabgeschlossenen Charakter dieses Unterfangens. Andererseits ist sie nicht auf die Auslegung gegen ein oder mehrere Dogmen ausgerichtet. Systematisierende Theologie zielt nicht darauf ab, die Texte oder die religiösen Erfahrungen in ein bestimmtes System einzulesen oder im Blick auf Dogmen zu interpretieren, sondern Perspektiven und Erfahrungen zu collageartigen Deutungszusammenhängen zu verbinden. Es ist also primär eine deskriptiv-hermeneutische Aufgabe der Systematischen Theologie, die Verstehensprozesse zu beleuchten.
systematisierend statt systematisch
Im besten Fall schützen sich die verschiedenen Perspektiven der Theologie dabei gegenseitig: Während die historische Perspektive vor willkürlich aktualisierender Interpretation schützt, bewahrt die pluralitätssensible systematisierende Perspektive vor einer Überhöhung eines einzelnen Deutungsanspruchs. Die empirische Perspektive wiederum bewahrt vor einer Abkopplung des dogmatischen Denkens von der Gegenwart oder der Verabsolutierung der eigenen Welterfahrung als Schlüssel zur Deutung der Welt. Zu dieser Wechselwirkung gehört die Frage nach dem Ort und der Bedeutung der empirischen Forschung in der systematischen Theologie – und damit auch die Kritik an der rein empirischen Forschung, damit eine Einbindung der Empirie nicht zu einer unreflektierten normativen Wendung und damit zu einer Moralisierung der Debatten führt. Die Differenzierung und Verschränkung der Perspektiven ist also eine ausdrückliche Stärke der Systematischen Theologie.
gegen eine Verabsolutierung der eigenen Welterfahrung
International und in anderen Disziplinen der Theologie – zum Beispiel in der Praktischen Theologie und der Interkulturellen Theologie – hat die Suche nach Bezügen zwischen Lebenswelt und theologischer Reflexion zu einer Vielzahl von Ansätzen geführt, dies dieses Verhältnis umkreisen: Dazu gehören Ansätze wie „lived theology”, „ordinary theology”, „gelebte Religion”, „öffentliche Theologie”, „narrative Ethik”, „Befreiungstheologie”, „constructive theology“ oder auch „pragmatist theology”. In diesen wird hermeneutisch oder empirisch die gegenwärtige Lebenswelt als Gegenstand Systematischer Theologie in den Fokus gerückt und explizit verhandelt, inwieweit Ergebnisse und Beobachtungen gesellschaftlicher Entwicklungen für die eigene Forschung relevant sind und welche Bedeutung sie haben. In einigen Ansätzen ist die quantitative und qualitative Forschung auch Bestandteil theologischer Arbeit – bisher vor allem in der Praktischen Theologie. So wird die Frage nach dem Bezug der Systematischen Theologie auf die Lebenswelt auch zu einer Frage des Verhältnisses der theologischen Disziplinen zueinander. Diese Ansätze miteinander ins Gespräch zu bringen und nach den Potentialen für die Systematische Theologie zu fragen, war Ziel eines Workshops Anfang Mai in Zürich, den die Autorinnen ausgerichtet hat. Von diesen Wegen induktiver – und abduktiver, also im Wechselspiel von Induktion und Deduktion sich vollziehender – Theologie(n) zu lernen und so die Reflexion des Glaubens in der Systematischen Theologie als Systematisierende Theologie hermeneutisch und methodisch interdisziplinär weiterzudenken, wird Gegenstand einer sich dort formierten Arbeitsgruppe sein.
PD Dr. Frederike van Oorschot, evangelische Theologin, ist Leiterin des Arbeitsbereichs „Religion, Recht und Kultur“ an der FEST Heidelberg und vertritt derzeit die Professur für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Heidelberg.
Dr. Lea Chilian, evangelische Theologin, ist post-doc und Oberassistentin am Institut für Sozialethik des Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Medizin- und Care-Ethik sowie ethischen Fragen kirchlicher Handlungsfelder. Sie arbeitet an einem Habilitationsprojekt zur Hermeneutik des Ver- und Zutrauens.
Fotografin: Caroline Krajcir.
Beitragsbild:
Susan Q Yin, unsplash.com