Die ökumenische Begegnung in Lund schlägt weiter Wellen. Die Dogmatikerin Eva-Maria Faber kommentiert aus römisch-katholischer Sicht.
Runde Jahrestage laden zu Rückblicken ein, die manchmal von Selbstgefälligkeit nicht frei sind. Anders war es am 31. Oktober 2016 in Lund, obwohl (oder weil?) hier zwei Jubiläen zusammentrafen: 500 Jahre Reformation und 50 Jahre ökumenischer Dialog.
Das gemeinsame Reformationsgedenken war ein Tag innovativer Grenzüberschreitung: Der Lutherische Weltbund (LWB) überschritt die Grenze eines im Binnenraum gefeierten Reformationsjubiläums, um zur Mitwirkung jenen Papst einzuladen, dessen Amtsvorgänger Martin Luther exkommuniziert hatte. Umgekehrt überschritt mit Papst Franziskus die römisch-katholische Kirche die im 16. Jahrhundert aufgerichtete Grenze, um „Mit-Initiantin“ des Reformationsjahres zu werden. Denn buchstäblich initiierte Papst Franziskus dieses Jahr, indem er, gekleidet in die liturgischen Farben des Reformationstages, die ersten liturgischen Worte sprach. Ungeachtet aller Auseinandersetzung um „Feier“ und „Gedenken“ stand er zusammen mit Bischof Munib A. Younan von Jerusalem, dem Präsidenten des LWB, der Feier vor, die sich zuerst der Danksagung widmete.
Sprungbrett für Neues
Möglich war dies nur dank des nun seit 50 Jahren geführten ökumenischen Dialogs. Statt selbstgefälligen Rückblicks aber wurde das Ergebnis des Dialogs gewürdigt, um es als Sprungbrett für Neues erkennbar zu machen. Dazu dienten die während der Liturgie vorgetragenen „Imperative“ ebenso wie die unterzeichnete Gemeinsame Erklärung[1]. Endlich entspricht dem Drängen an der Basis wieder ein drängender Ton in den Kirchenleitungen! Diese Dynamik nach vorn möchte ich im Folgenden beleuchten und verstärken.
Einen gemeinsamen Weg aufnehmen
„Das, was uns verbindet, ist grösser als das, was uns trennt“, diese Überzeugung fundierte den Anlass in Lund und kam in der Liturgie mehrfach zur Sprache. So wohltuend diese Aussage ist, so erschreckend ist der Blick auf ihre Herkunft. Denn die Enzyklika „Ut unum sint“ (Nr. 20) von Papst Johannes Paul II. (1995) schreibt die Formulierung ohne weitere Quellenangabe Papst Johannes XXIII. zu. In ähnlicher Weise hatte Papst Paul VI. 1964 in seiner Enzyklika „Ecclesiam suam“ (ohne Nennung von Papst Johannes XXIII.) auf diese Überzeugung als auf ein überkommenes Prinzip hingewiesen („Libenter hoc sequemur institutum“).
Die Einsicht stammt also schon aus der Zeit, in welcher die römisch-katholische Kirche sich gerade erst der ökumenischen Bewegung öffnete. Inzwischen ist ein halbes Jahrhundert verstrichen; 50 Jahre Dialog ermöglichten die Entdeckung von weit mehr Gemeinsamkeiten, als damals erahnbar waren. Trotzdem scheint der Vorrang des Gemeinsamen vor dem Trennenden noch nicht selbstverständlich zu sein!
Historischer Moment
Vor diesem Hintergrund sind die Ausdrucksformen ökumenischer Ungeduld, die sich in Lund bemerkbar machten, umso bedeutsamer. Allem voran sind hier die beiden Predigten zu nennen. Sie setzen zwar den zurückliegenden ökumenischen Dialog voraus und würdigen ihn als Weg der Annäherung und Versöhnung. Beide aber beziehen sich auf einen gemeinsamen Weg, der allererst aufzunehmen ist. Martin Junge, Generalsekretär des LWB, identifiziert die Feier in Lund als jenen historischen Moment, „wo wir uns als katholische und lutherische Christinnen und Christen verpflichten, uns abzuwenden von einer von Konflikt und Spaltung überschatteten Vergangenheit, um den Weg der Gemeinschaft zu gehen“. Papst Franziskus deutet dieselbe historische Stunde als „neue Chance, einen gemeinsamen Weg aufzunehmen, der sich in den letzten 50 Jahren im ökumenischen Dialog“ gebildet hat. Wenn sich Martin Junge und Papst Franziskus einig sind, dass die Zeit der Vorbereitung erfüllt ist, um nun einen gemeinsamen Weg zu gehen, dann können wir hoffnungsvoll nach vorn blicken und uns auf konkrete Schritte (von solchen spricht der dritte Imperativ) vorbereiten!
Dass Ökumene ein Weg ist, der zu gehen ist, machte Papst Franziskus bereits 2014 in einer ökumenischen Vesper anlässlich der Gebetswoche für die Einheit der Christen 2014 klar: „Die Einheit wird nicht kommen wie ein Wunder am Ende. Die Einheit kommt auf dem Weg. Der Heilige Geist bewirkt sie im Unterwegssein. Wenn wir nicht gemeinsam vorangehen, wenn wir nicht füreinander beten, wenn wir nicht gemeinsam arbeiten in so vielen Dingen, die wir in dieser Welt für das Volk Gottes tun können, wird die Einheit nicht kommen! Sie wird verwirklicht auf diesem Weg, mit jedem Schritt. Und nicht wir verwirklichen sie: Der Heilige Geist verwirklicht sie, der unseren guten Willen sieht“[2]. Damit begegnet Papst Franziskus nicht zuletzt jenen Stimmen innerhalb der römisch-katholischen Kirche, die sich bei der defizitorientierten Klage aufhalten, es fehle an gemeinsamen Vorstellungen von der Einheit der Kirchen. Die Gefahr solcher Diagnosen ist es, auf die fehlende Zielvorstellung fixiert zu sein, statt die nächsten Schritte zu gehen. In Lund wurde ein nächster Schritt gegangen, der zudem die Kirchen weiter verpflichtet. Doch wie lässt sich beschreiben, welches die neue Qualität des künftigen gemeinsamen Weges sein könnte?
Gegenseitige Verantwortung
Eine Antwort auf diese Frage könnte gerade das Stichwort „Reform(ation)“ geben. Die Reformation war für die damalige „altgläubige“ Kirche ein Aderlass, bei dem viel Reformpotential verloren ging. Das Reformkonzil von Trient konnte dies nicht hinreichend ausgleichen. Umgekehrt standen die Reformatoren nach der nicht intendierten Spaltung vor der Notwendigkeit, eine kirchliche Ordnung neu aufzubauen – mit allen Schwierigkeiten, die damit verbunden waren. Kann man nicht sagen, dass beide Seiten einander fehlten? Jedenfalls hat die über Jahrhunderte hin praktizierte gegenseitige Abgrenzung allen Seiten immens geschadet, und die daraus resultierenden Einseitigkeiten zeichnen uns bis heute. Wir leiden unter den „Wunden unserer Gebrochenheit“ (Martin Junge).
Gegenseitige Verantwortung für eine evangeliumsgemäße Kirche
Könnte der gemeinsam gefeierte Reformationstag der Anfang dafür sein, uns in unserem jeweiligen Bemühen um die evangeliumsgemässe Gestaltung kirchlichen Lebens Raum für gegenseitige Unterstützung zu geben? Was wäre, wenn wir beginnen und einander gestatten würden, explizit gegenseitige Verantwortung für die stets neu notwendige Reform und Erneuerung zu übernehmen? Auch ohne schon abzusehen, wie eine künftige Einheit der Kirchen aussehen könnte, liegt doch ein entscheidender Punkt darin, ein blosses Nebeneinander zu überwinden. Einheit meint nicht Einheitlichkeit, kann aber auch nicht bedeuten, es bei einem zwar freundlichen, aber unverbindlichen (unverbundenen) Nebeneinander zu belassen. Um das gemeinsame Reformationsgedenken zu begründen, zitierte die Lund-Liturgie aus dem Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“: „Was ein Glied des Leibes betrifft, betrifft auch alle anderen“. Diese Mitbetroffenheit gilt aber auch über das Gedenken hinaus. Deswegen mahnt die Gemeinsame Erklärung zur Vertiefung der Solidarität. So gesehen könnte die neue Qualität des gemeinsamen Weges darin liegen, dass die Kirchen nicht nur Beziehungen zueinander pflegen, sondern ihre Zusammengehörigkeit begreifen, bekräftigen und gestalten.
Gemeinsam Kirche sein
Als theologische Deutung dafür eignet sich neben dem bereits erwähnten (und mehrfach verwendeten) Bild des Leibes auch das in der Liturgie verkündete Gleichnis vom Weinstock (Joh 15,1-5). Martin Junge ermutigte dazu, es künftig so zu lesen, dass wir einander als Reben an dem einen Weinstock Jesus Christus ansehen. Bei näherem Hinsehen tritt zu diesen Bildern überraschend eine weitere Ausdrucksform der Zusammengehörigkeit.
Nur kirchliche Gemeinschaften?
Manche Kommentare zur Lund-Liturgie monierten, die römische Sprachregelung, für die lutherische Seite den Kirchenbegriff zu vermeiden, sei konsequent durchgehalten worden. Es sei nur von „kirchlichen Gemeinschaften“ oder aber vom Lutherischen Weltbund die Rede gewesen. Bei genauem Hinsehen stellt sich die Situation komplexer dar. So würdigte Papst Franziskus in seiner Predigt, die Reformation habe dazu beigetragen, „die Heilige Schrift mehr ins Zentrum des Lebens der Kirche zu stellen“. Ähnlich formulierte eine Oration die Bitte an den Heiligen Geist, uns zu helfen, damit wir uns der Gaben erfreuen, welche die Kirche durch die Reformation erhalten habe. In beiden Fällen dürfte mit „Kirche“ kaum nur die römisch-katholische Kirche gemeint sein, auch nicht nur die lutherische Kirche (oder kirchliche Gemeinschaft …). Es kommt in den Blick, dass wir zusammen die Kirche Jesu Christi bilden.
Damit verstärkt sich die Dringlichkeit, dieser Zusammengehörigkeit zu entsprechen. Diese ökumenische Ungeduld entfachte sich in Lund an konkreten Handlungszusammenhängen.
Die Sehnsucht nach eucharistischer Gemeinschaft
Dreimal wurde in Lund der Wunsch, ja, die drängende Sehnsucht nach eucharistischer Gemeinschaft ausgesprochen: in der Predigt von Martin Junge, in einer Fürbitte und besonders nachdrücklich in der Gemeinsamen Erklärung. Darin erkennen die Kirchen zugleich ihre gemeinsame pastorale Verantwortung an, auf diesen Hunger und Durst eine Antwort zu geben. Es lässt aufhorchen, dass Kardinal Kurt Koch noch in Schweden auf die besondere Situation von konfessionsverbindenden Ehen zu sprechen kam[3]. Neben den pastoralen Gründen, die er für eine von der Einheit der Kirchen unabhängige Lösung in solchen Situationen vorbringt, sind die theologischen Argumente zu erinnern, die im ökumenischen Dialog schon seit längerem für eine wachsende Eucharistiegemeinschaft bei wachsender Kirchengemeinschaft plädieren.
Gemeinsames Zeugnis in Wort und Tat
Die Liturgie von Lund implizierte und forderte ein gemeinsames Zeugnis, damit die Kirchen in einer „Menschheit, die ein Leben in Frieden mit Gerechtigkeit und in versöhnter Verschiedenheit ersehnt“, „Botschafterinnen und Botschafter der Versöhnung“ sein können (Martin Junge). Sehr ausdrucksstark waren es Kinder, die zu jedem der Imperative eine Kerze entzündeten. Die Kirchen sind den kommenden Generationen von Christen und Christinnen ein glaubwürdiges Zeugnis für das Evangelium schuldig. Zersplitterung und Abgrenzung verdunkeln diese gemeinsame Verantwortung.
Dies gilt insbesondere für den gemeinsamen Dienst an der Welt durch das Eintreten für Frieden, Gerechtigkeit, Menschenwürde und die Sorge für die Schöpfung im Horizont einer friedlosen und von Not gezeichneten Welt. Die diesbezügliche Fürbitte in Lund fand ihre Verlängerung in einem zweiten Anlass in Malmö, bei dem Frauen und Männer aus verschiedenen Regionen der Erde die Folgen von Klimaerwärmung, Krieg, und Gewalt vor Augen führten. Es wurde deutlich, wie dringlich angesichts solcher Not die Überwindung von konfessionellen Trennungen und Reibereien ist. Eine Antwort auf diese Herausforderung war die Unterzeichnung eines Kooperationsvertrages zwischen dem LWF World Service und Caritas Internationalis.
Beginn eines neuen Weges
Das gemeinsame lutherisch/römisch-katholische Reformationsgedenken in Lund war ein historisches Ereignis und wurde von den Akteuren als Beginn eines neuen Weges identifiziert. Die Gemeinsame Erklärung stellt dieses Ereignis in den Horizont anderer ökumenischer Partner, die bei der Feier präsent waren. Sie werden gebeten, „uns an unsere Verpflichtungen zu erinnern und uns zu ermutigen“.
[1] Die Erklärung ebenso wie alle anderen relevanten Texte sowie Videos finden sich unter www.lund2016.net.
[2] Predigt von Papst Franziskus, Vesper in der Basilika St. Paul vor den Mauern, 25. Januar 2014 http://www.vatican.va/holy_father/francesco/homilies/2014/documents/papa-francesco_20140125_vespri-conversione-san-paolo_ge.html (5.11.2016).
[3] http://de.radiovaticana.va/news/2016/11/01/abendmahls-frage_kardinal_koch_plädiert_für_differenzierung/1269293 (5.11.2016).