Unsere linken Freundinnen und Freunde halten uns für naiv: Mit dem Klassenfeind wollt ihr reden? Was erwartet ihr? Ist doch klar, dass Ökonomieprofessoren euch keine vernünftigen Antworten geben werden. Die haben doch alle eine neoliberale Gehirnwäsche hinter sich… Von Ina Praetorius.
Wir machen es trotzdem. Wir: der Verein Wirtschaft ist Care (WiC). Wir wissen: „Es ist Aufgabe der Wirtschaftslehre zu untersuchen, wie die Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse am sinnvollsten hergestellt, verteilt und ge- oder verbraucht werden.“[1] Wir wollen wissen, ob die Ökonominnen und Ökonomen tun, was sie zu tun versprechen.
…, ob die Ökonominnen und Ökonomen tun, was sie zu tun versprechen.
Das Wort naiv leitet sich vom lateinischen Verb nasci ab. Nasci heisst geboren werden. Nativus ist das zugehörige Adjektiv. Na(t)iv zu sein bedeutet also, vorne anzufangen: bei der Geburt, beim Säugling und seinen Bedürfnissen, beim Kind und seiner Neugier. Wir meinen, dass erwachsen gewordene Kinder miteinander sprechen können, auch über seltsame Grenzen hinweg.
Nativ fragen
Schliesslich haben wir Milliarden Erdenbürgerinnen und Erdenbürger viel gemeinsam: Wir wurden alle geboren, wir sind alle bedürftig, fürsorgeabhängig, bezogen-frei und sterblich. Wenn uns jemand Luft oder Wasser entzieht, dann sterben wir, egal, wie viele Titel sich in unseren Biographien und wie viele Dollars sich auf unseren Konten angesammelt haben. Auch unsere Nachkommen werden, aller teuren Weltraumforschung zum Trotz, voraussichtlich nicht auf einen anderen Stern auswandern können, sollte das Klima kippen. Deshalb ist es ziemlich wichtig, dass es Leute gibt, die sich verpflichtet haben und die dazu freigestellt sind, über die „gesellschaftliche Veranstaltung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse der Lebenserhaltung und der Lebensqualität“[2] nachzudenken.
Briefe und Emails an Dekane und Rektoren wirtschaftswissenschaftlicher Hochschulen
Seit April 2016 schreiben wir also Briefe und Emails an Dekane und Rektoren wirtschaftswissenschaftlicher Hochschulen, Fakultäten und Fachbereiche. Vorerst beschränken wir uns, um den Überblick nicht zu verlieren und uns nicht zu überfordern, auf die deutschsprachige Schweiz. Eine Person weiblichen Geschlechts haben wir auf den Leitungsebenen der Schweizer Wirtschaftswissenschaft sogar auch entdeckt: Prof. Dr. Christine Böckelmann forscht und lehrt als Direktorin der Abteilung Wirtschaft der Hochschule Luzern.
Weil wir Transparenz lieben, was angesichts akademischer Sitten und Gebräuche ebenfalls nativ zu sein scheint, publizieren wir unsere Korrespondenzen grosszügig in der Blogosphäre. Zum Beispiel auf unserer Webseite oder auf feinschwarz.net.
Welchen Stellenwert hat die unbezahlte Arbeit in der Wirtschaftswissenschaft?
Zuerst wollten wir wissen, welchen Stellenwert die Care-Arbeit, vor allem die unbezahlte Sorgearbeit in Privathaushalten, im jeweiligen Fachbereich hat, und welche Forschungsprojekte dazu abgeschlossen, unterwegs oder geplant sind. Man könnte ja zum Beispiel etwas wissen wollen über die Motivation der vielen Frauen*, die sich für Kinder, Kranke und nachhaltiges Haushalten engagieren und damit ein erhebliches Armutsrisiko eingehen. Warum tun sie das? Warum gilt das scheinbar unumstössliche Gesetz, dass Menschen nur gegen finanzielle Anreize tätig werden, ausgerechnet im grössten Wirtschaftssektor nicht? Welche Arbeitsmotivation tritt hier an die Stelle der Lohnanreize? Oder man könnte sich dafür interessieren, wie viel und welche häusliche Care-Arbeit Menschen für ihr Wohlergehen überhaupt brauchen, ob es im Gratissektor auch Fehleinschätzungen menschlicher Bedürfnisse gibt, und wenn ja, welche und warum. Man könnte wissen wollen, wie das gängige Konzept der Work-Life-Balance sich auf die Gesundheit derjenigen auswirkt, die eine Art von Work leisten, die sich „Life“ nennt. Oder ob die Nachhaltigkeit von Volkswirtschaften gesteigert werden könnte, wenn ökologisches Haushalten durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens erleichtert würde. Vieles könnte man im öffentlichen Interesse erforschen, wenn man wollte.
Stand der Forschung zur un- und unterbezahlten Care-Ökonomie in der Schweiz
Zusätzlich zu dieser Umfrage, deren Ergebnisse wir am 22. November 2017 in Form einer Thesenreihe auf unserer Webseite publiziert haben, beauftragten wir im Sommer 2017 fünf Studierende der Abteilung Sozialarbeit der Fachhochschule St. Gallen, den aktuellen Stand der Forschung zur un- und unterbezahlten Care-Ökonomie in der Schweiz zu ermitteln.[3] Die angehenden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind zu interessanten Resultaten gelangt, mit denen wir jetzt weiterarbeiten.
Traditionelle Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und „Sozialem“
Die Ergebnisse unserer Nachforschungen begeistern uns nicht: Die Wissenschaft, die sich als Theorie der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse versteht, lässt den grössten Wirtschaftssektor weitgehend unbeachtet, und zwar fast immer ohne Begründung und obwohl Daten zum unbezahlten Sektor längst weltweit erhoben werden, seit 1997 auch vom Schweizerischen Bundesamt für Statistik.
Und sie hält fest an der traditionellen, latent an die herkömmliche Organisation von Zweigeschlechtlichkeit gebundenen Arbeitsteilung zwischen der Ökonomie und „dem Sozialen“: Für all die viele Bedürfnisbefriedigung, die ohne den Umweg über das nur scheinbar allgemeine Tauschmittel Geld auskommt, scheint sich die Wirtschaftswissenschaft nicht zuständig zu fühlen.
Die Wissenschaft, die sich als Theorie der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse versteht, lässt den grössten Wirtschaftssektor weitgehend unbeachtet.
Entsprechend verweist sie uns an andere Fachbereiche: an Pflegewissenschaft, Sozialarbeit, Gender Studies, Psychologie, Ökotrophologie… Wie der traditionelle Ehemann, der die Sorge um das traute Heim vertrauensvoll der Frau des Hauses überlässt, delegiert der zünftige Ökonom den grössten, den basalen Wirtschaftssektor an „das Soziale“. Was genau ist dieses „Soziale“? Die Ehefrau der Finanzwissenschaft? Wie wirkt sich diese Arbeitsteilung auf die Lebensdienlichkeit des faktischen Wirtschaftens aus?
In Planung: Runde Tische zur Zukunft der Oiko-Nomia
Wir hingegen meinen, wie unser Name Wirtschaft ist Care schon sagt, dass es spätestens im Zeitalter des spürbar werdenden Klimawandels eine ökonomische Wissenschaft braucht, die den Namen verdient: eine Oiko-Nomia (zu gr. oikos= Haus, Haushalt, nomos: Lehre, Gesetz, Oiko-Nomia: Lehre vom Haushalten), also einen einzigen, nicht in dominierende Geld- und zudienende Sorgewirtschaft gespaltenen Diskurs über die Frage, wie die Bedürfnisse aller menschlichen Würdeträgerinnen und Würdeträger im gemeinsamen Lebensraum Welt erfüllt werden können. Deshalb haben wir beschlossen, als nächsten Schritt die Organisation einer Reihe von runden Tischen ins Auge zu fassen: Schlüsselpersonen aus den Wissenschaften, den Medien und den Schulen, aus Parteien, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Kreisen sollen sich zusammensetzen und über Fragen wie diese ins Gespräch kommen: Welche Strukturen, welche Institutionen braucht es, damit ein umfassendes Nachdenken über die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im fragilen Lebensraum Welt in Gang kommen kann? Wie lässt sich die obsolet gewordene Trennung zwischen geldzentrierter Ökonomie und kompensatorischem „Sozialem“ überwinden? Wie kann die Fürsorgeabhängigkeit aller (wieder?) in die Mitte der Ökonomie rücken? Welchen Beitrag können die Medien, die Pädagogik, die Religionen, die Zivilgesellschaft zum notwendigen Paradigmenwechsel hin zu einer bedürfniszentrierten Ökonomie und Gesellschaft leisten?
Wie kann die Fürsorgeabhängigkeit aller (wieder?) in die Mitte der Ökonomie rücken?
Auch zur Frage, wer mit uns zusammen solche Gespräche am runden Tisch organisieren könnte, haben wir zwischen April und Juli 2018 eine Umfrage auf den Leitungsebenen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereiche durchgeführt.[4] Alle Angeschriebenen haben uns, sofern sie überhaupt geantwortet haben, entweder ihr Desinteresse bekundet oder ihre Inkompetenz eingestanden. Einzig die Abteilung Sozialarbeit der Fachhochschule St. Gallen hat sich als Gastgeberin für ein erstes Gespräch zur Verfügung gestellt, das im Januar 2019 stattfinden wird. Das ist erfreulich, bestätigt aber ein weiteres Mal die eingespielte Arbeitsteilung.
An unserem Ziel, die Wirtschaftswissenschaft zu ihrem selbstgesetzten Kerngeschäft zurück zu geleiten, halten wir fest. Wir freuen uns immer noch auf das Gespräch.
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Text und Fotos mit WiC-Klebern: Dr. Ina Praetorius, Schweiz, ist konfessionslose Theologin, mit den Themenschwerpunkten postpatriarchale Ethik und Ökonomie.
Beitragsbild: WiC-Logo und -Kleber von Kristin Wyss, Biel, (Whitepaper).
[1] Günter Ashauer, Grundwissen Wirtschaft, Stuttgart 1973, 5.
[2] Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern, Stuttgart, Wien, 2. Aufl. 1998, 11.
[3] https://inabea.wordpress.com/2017/10/02/der-aktuelle-forschungsstand-zur-care-arbeit-in-der-schweiz/
[4] https://inabea.wordpress.com/2018/04/23/in-planung-ein-roundtable-zur-care-centered-economy-in-der-schweiz/
Von der Autorin auf feinschwarz.net erschienen:
Die Ökonomie und das Soziale: ein Ehepaar mit Entwicklungspotential