Polarisierung kann dysfunktional aber auch mehrwertstiftend sein. Wenn wir das Destruktive unserer Spaltgesellschaft überwinden wollen, müssen wir unsere Haltung ändern. Was wir benötigen, ist eine intellektuelle Bescheidenheit. Hans A. Wüthrich, Experte für Managementfragen, zeigt auf, dass dies auch für die römisch-katholische Kirche gilt.
Im Banne der Extreme – was sich beobachten lässt
Tagtäglich erleben wir in Diskussionsrunden oder am Fernsehen das Schwarz-Weiss-Denken. In einer konfrontativen und oft polarisierenden Art buhlen die Protagonisten um die Deutungshoheit. Mit eindeutigen Antworten versuchen sie Kompetenz und Überlegenheit zu demonstrieren und sich zu inszenieren. Mit anderen Worten, Welterklärende erklären Welterklärenden die Welt. Sie reden nicht, sondern verkünden und verlautbaren. Das Ziel: Mit einer pointierten eigenen Meinung Kante zeigen, Recht haben und die Diskussion gewinnen. Diese Prozesse der Spaltung, Trennung und Betonung von Gegensätzlichkeiten erleben wir aktuell in vielen Lebensbereichen. In der Gesellschaft allgemein, der Politik und den Medien. Auch Exponenten der katholischen Kirche polarisieren stark in den Bereichen der Sexualität, Familienpolitik oder der Rolle der Frau. Nicht nur ihre konservative Haltung, sondern auch die teils dogmatische Art, wie die Kirche auftritt, wirken spaltend. Als Folge davon sind u.a. die Verschiebung von der institutionengebundenen zu einer privaten Religiosität, zu einem selbstverantworteten Glaubensleben feststellbar.
Aus meiner Sicht kämpft die Kirche mit polaren Spannungsverhältnissen. Soll sie moralisch wertstabil oder angepasst marktfähig, offen experimentell oder vergeistet dogmatisch, basisnah oder kleruszentriert sein? Dominieren Mitgestaltungsrechte oder das Kirchenrecht?
Welterklärende erklären Welterklärenden die Welt!
Aus diesen spürbaren Spannungsverhältnissen lässt sich das dysfunktional Spaltende erkennen. Ganz grundsätzlich wird durch die Polarisierung Gegensätzlichkeit betont und eine Verhärtung der Standpunkte ist die Folge. Die Polarisierung führt aber auch zu einer Trivialisierung und Vereindeutigung der Welt, zu einer Fokusverlagerung von sachlichen Argumenten zu emotionalen Disputen, zu Diffamierung und zu Schuldzuweisungen, Spannungen und Konflikten, zu einer abnehmenden Kompromiss-, Dialog- und Kooperationsbereitschaft und schliesslich zu einer einschränkenden Kommunikation. Vordergründig besteht der Eindruck, dass in der Tendenz die Polarisierung zunimmt und es scheint, dass wir in einer Spaltgesellschaft leben, in der das Trennende immer mehr das Verbindende verdrängt. Gerade politische Konflikte werden lautstark über die Ränder ausgetragen und dadurch entsteht das Gefühl, dass die Gesellschaft stark polarisiert ist. Nach Auffassung des Philosophen und Ethikers Hanno Sauer gibt es jedoch nicht nur die extremen Meinungen, die sehr laut und dominant wirken. Er betont, dass sich zwischen den Rändern und Polen nur wenige ideologisch wirklich tiefer liegende Meinungsunterschiede beobachten lassen und die Übereinstimmungen in der Realität grösser sind, als dies subjektiv empfunden wird. Und er formuliert pointiert: «Eigentlich sind wir nicht unterschiedlicher Meinung, sondern wir hassen uns nur!»1.
Mehrwert der Polarisierung – was das Gegensätzliche leisten kann
Das bisher einseitig negativ konturierte Bild der Polarisierung greift aber zu kurz. Artikulierte Meinungsdivergenz, erlebbare Standpunktspaltung und Gegensätzlichkeit können durchaus mehrwertstiftend sein. Polarisierung kann zu mehr Klarheit und Differenzbewusstsein führen. Sie kann helfen, die Unterschiede zwischen Positionen, Ansichten und Ideologien zu verdeutlichen. Polarisierung beinhaltet auch ein Aktivierungs- und Mobilisierungspotenzial. Sie kann Menschen ermutigen regsam zu werden und sich für ihre Überzeugungen einzusetzen. Polarisierung kann lebendige Debatten provozieren, Meinungs- und Perspektivenvielfalt fördern.
Haltung entscheidet!
Die interessante Frage lautet also: Welches sind die Gelingensvoraussetzungen, damit Polarisierung diese positiven Effekte zeitigen kann? Meine These: Haltung entscheidet! Der Habitus, mit dem ich das Gegensätzliche einbringe, ist der Schlüssel dafür, dass in Begegnungen und Diskursen das Polarisierende zu besseren Lösungen führen kann. Wenn wir das Destruktive der Polarisierung überwinden und das Funktionale nutzen wollen, müssen wir unsere Haltung ändern. Was wir benötigen, ist eine spezifische Form von Demut, ich bezeichne sie als intellektuelle Bescheidenheit2. Dabei handelt es sich um eine innere Souveränität, die es einem erlaubt, sich vom Habitus der Ich-Zentrierung, der rechthaberischen Deutungshoheit, der naiven Omnikompetenz und des trügerischen Wissens zu emanzipieren. Intellektuell bescheidene Persönlichkeiten:
- Begreifen die Realität als Eigenkonstrukt, schätzen das Abweichende, billigen Pluralität und verzichten auf die Deutungshoheit. Sie sehen ein, dass jede(r) in ihrer (seiner) Realität recht hat.
- Begegnen Dritten mit Empathie und auf Augenhöhe, sie müssen nicht recht haben, sie verzichten auf das Erklären der Welt und sind bereit, in echten Dialogen klüger zu werden.
- Sind ehrlich zu sich selbst, gestehen Unwissen und eigene Fehlbarkeit ein und kompensieren Inkompetenz nicht mit Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung.
- Widerstehen der Versuchung, alles im Voraus verstehen zu wollen und umgehend Lösungen zu postulieren. Sie vertrauen auf die experimentelle Annäherung und sind bereit sich «emporzuirren».
- Entlarven die scheinbaren Gewissheiten als Denkfalle, sie misstrauen dem Mainstream, denken barrierefrei und müssen nicht durch konformes Verhalten gefallen und gemocht werden.
Denkangebote für die römisch-katholische Kirche
Die katholische Kirche kann sich die toxischen Nebeneffekte ihrer Polarisierung nicht länger leisten. Zu gross und dringlich sind die anstehenden Probleme, zu deren Lösung sie einen unverzichtbaren Beitrag leisten muss.
Um Glaube und Kirche wieder in die gesellschaftliche Debatte einbringen zu können, muss die Kirche Entfremdung vermeiden und wieder anschlussfähig werden. Oder wie es Rainer Bucher formuliert: «Kirche muss auf dem Markt bestehen, ohne ihm zu verfallen»3. Anschlussfähigkeit bedeutet, eine gesellschaftsrelevante Rolle wahrzunehmen. Was aber ist diese gesellschaftsrelevante Rolle? Gemäss Johannes Block, Pfarrer am Fraumünster Zürich, muss die Kirche eine Kontrastgemeinschaft sein, in der man findet, was die Welt nicht geben kann4. Zum Beispiel das hörende Herz, wie es der Soziologe Hartmut Rosa in seinem aktuellen Buch – Demokratie braucht Religion – beschreibt. Demokratie ist das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber sie erfordert ebenso Stimmen, Ohren und hörende Herzen. So betont er: Es sind insbesondere die Kirchen, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann5.
Die Wahrnehmung dieser gesellschaftsrelevanten Rolle erfordert eine innere Transformation. In diesem Kontext erinnere ich mich an ein Zitat von Knut Bleicher. Er sagte: «Wir arbeiten in Strukturen von gestern mit Methoden von heute an Problemen von morgen vorwiegend mit Menschen, die die Strukturen von gestern gebaut haben und das Morgen innerhalb der Organisation nicht mehr erleben werden.» Ich denke, diese Feststellung hat auch eine Relevanz für die katholische Kirche. Dieses zeitlich Begrenzte sollte uns eigentlich Mut machen, auf eine Erneuerung von innen zu setzen.
Wir experimentieren, lernen im Gehen in die Zukunft und irren uns empor.
Wie aber kann Transformation gelingen? Aus der Forschung wissen wir, dass zwei Drittel der grossen, top down initiierten Veränderungsinitiativen scheitern. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass wir Veränderung als eine Episode verstehen. In der Natur ist jedoch Veränderung ein fortdauerndes Phänomen, ohne Anfang und Ende. So ist zum Beispiel unser Skelett lebenslang eine ständige Baustelle und im Durchschnitt erneuert sich das gesamte Knochengewebe alle 7 bis 10 Jahre. Wie es die Natur vorlebt, sollten auch wir Wandel stärker evolutionär, als nie endenden Prozess begreifen. Bildlich gesprochen, heisst dies, wir begeben uns auf eine Reise und verstehen Wandel als ein Ergebnis. Wir experimentieren, lernen im Gehen in die Zukunft und irren uns empor. Die Metaphorik der Reise betont die Akzeptanz von Unsicherheit, Nichtplanbarkeit und lässt Korrekturen und Anpassungen nicht als Versagen, sondern als etwas Natürliches erscheinen.
Eine Lizenz zum Experimentieren tut Not!
Doch wie soll Veränderung gelingen, wenn man sich fremdbestimmt und handlungsunfähig fühlt? Als hilfreiche Alternative zur lähmenden Ohnmacht, postuliere ich die «produktive Resignation». Das Motto lautet: Trotz Fremdbestimmtheit eigenbestimmt handeln und die Opferrolle ablegen.
Für die katholische Kirche könnte dies bedeuten: Die Pastoralräume konzentrieren sich auf das in ihrem Einflussbereich Gestaltbare. Mit der Lizenz zum Experimentieren testen sie mutig Neues und lernen im Prozess. Damit lässt sich die Opferrolle ablegen und Zuversicht erlangen. Zuversicht ist nicht Optimismus, sondern die Überwindung des lähmenden Ohnmachtgefühls. Sie bildet die Basis für das so wertvolle Gewinnen neuer Lebensenergie. Die Institution Kirche kann diese explorativen Experiment-Ergebnisse als Inspiration für die Weiterentwicklung nutzen.
Fazit
Als Kontrastgemeinschaft soll die katholische Kirche polarisieren, allerdings nicht in einer dogmatisch spaltenden, sondern in einer reflexiv provozierenden Art und damit der Welt das anbieten, was die Welt nicht geben kann.
Kirche benötigt eine intelligente Transformation, nicht im Sinne von revolutionären Musterbrüchen, sondern in Form von dezentral initiierten Experimenten, die neue Erfahrungswelten schaffen und die Mächtigkeit konkreter Reformbewegungen emotional erlebbar machen. Aus der Neurobiologie wissen wir, dass Erfahrungen Haltungen prägen und die Haltungen Handlungen determinieren. Eine appellhafte Aufforderung zum Wandel löst den Rückgriff auf die Erfahrungswelt aus. Gelingende Transformation dagegen fokussiert auf die Erfahrungsebene. Nur wenn es gelingt, die Vorteile einer adressierten Änderung emotional erfahrbar zu machen, sind wir bereit, unsere Haltung zu ändern und unsere Handlungen anzupassen. Veränderungen bedingen also primär neue Erfahrungsräume, die die Mächtigkeit der beabsichtigten Neuerungen erlebbar gestalten. Dabei erweisen sich Experimente als wirkmächtiges Mittel.
Gelingende Transformation fokussiert auf die Erfahrungsebene.
Im Mittelpunkt des Wandels steht die ortskirchliche Ebene mit den Pfarreien und Pastoralräumen. Sie sollten die Freiheit erlangen, Neues auszutesten. Idealerweise erhalten sie dazu von der weltkirchlichen Ebene oder vom zuständigen Bischof eine Lizenz zum verantwortungsvollen Experimentieren. Experimentieren ist eine faszinierende Verschmelzung von Handlung und immer neuem Erproben, ein Nie-fertig-sein, ein Nie-sicher-sein und ein Immer-weiter-denken. Das Synodale, so wie es auch Daniel Kosch gestützt auf Impulse von Papst Franziskus in seiner neuen Publikation, Synodal und demokratisch6, im Sinne des sich «gemeinsam auf den Weg für die Erneuerung der Kirche begeben» fordert, gilt es konsequent weiterzudenken. Für alle diese Entwicklungen stellt die intellektuelle Bescheidenheit eine conditio sine qua non dar. Sie beinhaltet ein nicht zu unterschätzendes, grosses Versöhnungspotenzial, welches wir gerade in der heutigen Zeit dringend benötigen7.
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Hans A. Wüthrich ist emeritierter Professor für internationales Management an der Universität der Bundeswehr München. Er ist Buchautor, coacht und berät Führungskräfte und Führungsgremien.
Beitragsbild: Pixabay
- Sauer, H.: Sind wir zu moralisch? Aussage anlässlich der Sendung Sternstunde Philosophie, SRF vom 08.10.2023. ↩
- Wüthrich, H.A.: Manifest der intellektuellen Bescheidenheit. Problemlösung neu denken, Zürich, München 2022. ↩
- Bucher, R., … wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, Würzburg 2012, 39 ↩
- Block, J.: In der Kirche findet man, was die Welt nicht geben kann, in: NZZ E-Paper vom 21.06.2023 ↩
- Rosa, H.: Demokratie braucht Religion, München 2022. ↩
- Kosch, D.: Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen, Luzern 2023 ↩
- Der Beitrag beruht auf dem Festvortrag des Autors anlässlich des Dies academicus der Theologischen Hochschule Chur vom 30.10.2023. ↩