Angesichts der problematischen Tendenz zum unterkomplexen Gender-Ansatz im lehramtlichen Schreiben „Dignitas infinita“, geht Martina Bär mithilfe der Studie von Katharina Mairinger-Immisch der Lebenssituation von intersexuellen Menschen nach.
Die jüngst veröffentlichte Vatikan-Erklärung „Dignitas infinita“ über die Würde des Menschen hat die „Gendertheorie“ (im Singular!) als eine gefährliche Theorie gebrandmarkt, „weil sie mit ihrem Anspruch, alle gleich zu machen, die Unterschiede auslöscht“. Mit Unterschieden sind die biologischen Geschlechtsunterschiede gemeint, die in der Logik der lehramtlichen Wesensontologie der Geschlechter auch psychologische Unterschiede mit sich bringen. Nur die Zweigeschlechtlichkeit und die Idee der komplementären Bezogenheit der zwei differenten Geschlechter kann nach „Dignitas infinita“ die Würde der Geschlechter wahren. Eine Nicht-Anerkennung dieser zweigeschlechtlichen Norm beschädigt in der lehramtlichen Lesart also die Würde der Geschlechter. Was jedoch, wenn die Natur eines neugeborenen Kindes gar keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale hervorbringt, wie dies bei intersexuellen Menschen der Fall ist?
Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale qua Geburt zwischen männlich und weiblich sind, belegen – medizinisch betrachtet –, von wie vielen biologischen Faktoren die körperliche Geschlechtsentwicklung abhängig ist, welche Feinabstimmung und wechselseitige Beeinflussung zwischen den chromosomalen, hormonellen, gonodalen und anatomischen Eigenschaften nötig ist, um tatsächlich biologisch einer zweigeschlechtlichen Norm entsprechen zu können. Auch die vatikanische Erklärung kennt Intersexualität, bezeichnet diese jedoch als genitale Anomalie und erlaubt in diesem Falle eine medizinische Operation, um eine biologische Eindeutigkeit herzustellen. Man könnte aus der Logik der Vatikan-Erklärung sogar schließen, dass ein operationaler Eingriff erwünscht ist, weil er Eindeutigkeit ganz im Sinne der postulierten zweigeschlechtlichen Schöpfungsordnung herstellt. Denn im Unterschied zu Transpersonen, die ihre gottgeschenkte Würde durch eine Geschlechtsumwandlung „selbstverschuldet bedrohen“, stelle eine solche Operation keinen geschlechtsverändernden Eingriff dar und verletze somit nicht die Würde.
Problem humanwissenschaftlicher Unkenntnis
Abgesehen von dem im Text explizierten theologisch-ethischen Skandal, die gottgeschenkte Würde von Transpersoen infrage zu stellen, zeigt sich im Blick auf die Äußerungen über intergeschlechtliche Menschen eine humanwissenschaftliche Unkenntnis, Unterkomplexität oder gar Ignoranz. Die jüngst erschienene, äußerst lesenswerte Dissertationsschrift von Katharina Mairinger-Immisch räumt mit möglichen Unkenntnissen grundlegend auf. Sie plädiert gegen den kirchlichen und gesellschaftlichen Druck, mit einer Operation geschlechtliche Eindeutigkeit herstellen zu müssen und verficht eine ambiguitätstolerante Haltung in der ethischen Theorie und Urteilsbildung, die auch zu einer unbedingten Anerkennung von intergeschlechtlichen Menschen in der Katholischen Kirche führen würde – auch in ihrem materiellen Vollzug. Ihre Argumentation ist stichhaltig. Auf der Basis von medizinisch-biologischen Grundlagen, Klassifikationen und Indikationen einerseits, und Denkformen, Umgangsformen und Behandlungspraxen in Geschichte und Gegenwart andererseits, macht sie deutlich, wie im Zuge der wesensontologischen Bestimmung der Geschlechter zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft, der zweigeschlechtlichen Normierung und der gesellschaftlichen Etablierung der Medizin als maßgebende Autorität im Gesundheitsbereich, es für „Hermaphroditen“ gesellschaftlich zunehmend schwierig wurde.
Priorisierung der Autonomie von Patient*innen
Der Druck wurde so groß, dass man seit den 1950er Jahren in der Medizin eine Optimal Gender Policy verfolgte, bei der man ein neugeborenes Kind mit uneindeutigen äußeren Geschlechtsmerkmalen so rasch wie möglich operational ein Geschlecht zuwies. Das Individuum, dessen Autonomie und Integrität waren hierbei sekundär und die Eingriffe zogen oft physische, psychische und soziale Konsequenzen nach sich. Denn eine einzige geschlechtszuweisende Operation reicht bei den meisten intersexuellen Personen nicht aus und manch feminisierende Operationen gleichen einer Genitalverstümmelung, die rein zweckdienlich eine Kopulation ermöglichen sollten. Viele intersexuelle Menschen klagen über psychische Belastungen und Traumata, die auf mangelnde Empathie und Sensibilität bei der Behandlung und Beratung zurückzuführen sind. Gerade bei Kindern, die im vorbewussten Kindheitsalter operiert und deren geschlechtszuweisende Operation meist tabuisiert wurde, haben das Nachsehen. Mairinger-Immisch betont daher, dass geschlechtszuweisende Operationen komplex sind, da es nicht nur um eine Behandlung der Geschlechtsorgane geht. Vielmehr geht es dabei auch um die Sexualitäts- und Identitätsentwicklung eines intersexuellen Kindes, auf die Rücksicht genommen werden sollte, um es vor unnötigen Interventionen, Stigmatisierungs- und Tabuisierungsmechanismen zu schützen. Die seit dem 21. Jahrhundert bestehende Full Consent Policy in der Behandlungspraxis versucht dies zu berücksichtigen und setzt die Autonomie der Patient*innen in der Behandlung und im sozialen Kontext prioritär.
Anerkennungshermeneutik statt Distinktionsfaktor männlicher Herrschaft
Intersexuelle Menschen machen besonders deutlich, dass das binäre Geschlechtsdenken ein Konstrukt ist und der Komplexität biologischer Entwicklungsverläufe zuwiderläuft. Als gesellschaftliche Norm hat es zunächst auf der symbolischen Ebene gewalttätige Züge angenommen und bei den Betroffenen Leid verursacht, indem ohne Beachtung der individuellen Befindlichkeiten intergeschlechtliche Menschen medizinisch angepasst wurden und bis heute noch werden. Auch die Katholische Kirche hat mit ihrer lehramtlichen Verfechtung der zweigeschlechtlichen Schöpfungsordnung zu dieser Not beigetragen und den gesellschaftlichen Druck verstärkt. Mairinger-Immisch entlarvt in ihrer Studie das leidverursachende Moment der Zweigeschlechtlichkeitsnorm und entwirft aus einer leidsensiblen Perspektive, nämlich der existentiellen und sozialen Notlage der intergeschlechtlichen Menschen, einen theologisch-ethischen Vorschlag für eine angemessene Haltung. Kinder mit uneindeutigen Geschlechtsorganen benötigen für die Entwicklung einer sozialen Identität keine Anpassung ihrer Geschlechtsorgane an heteronormative Maßstäbe und soziale Geschlechterrollen. Vielmehr bedürfen sie Wertschätzung und Anerkennung der Einzigkeit ihrer Person. Nur so können sie sich zu psychisch und sozial integren Menschen entwickeln. Vonnöten ist hierfür eine Anerkennungshermeneutik, die unabhängig von der symbolischen, binären Ordnung der Geschlechter begründet ist. Dies macht die Verfasserin besonders auch für die Katholische Kirche geltend, deren symbolische Zweigeschlechtlichkeitsordnung stark auf dem Distinktionsfaktor der männlichen Herrschaft beruht, was sie methodisch überzeugend mit dem Habitus-Konzept des Sozialwissenschaftlers Pierre Bourdieu und dessen Studie über das religiöse Feld nachweist. Letztere ist in der römisch-katholischen Theologie bisher kaum rezipiert worden und so hebt Mairinger-Immisch in einem Strich ein Desiderat auf.
Der praktische Vollzug von Freiheit
Das Leitthema ihrer Arbeit kreist jedoch um die Frage, wie sich die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen theologisch-ethisch begründen lässt, um deren körperliche Integrität und Autonomie zu gewährleisten. Die Theologin beansprucht hierfür die freiheitstheoretische Denkform Thomas Pröppers. Die Freiheit begründet ein reziprokes Anerkennungsverhältnis, in dem die unbedingte Anerkennung des Anderen als Freiheitsgeschehen bestimmt ist. Andere Freiheit wird also um ihrer selbst willen anerkannt, selbst wenn eine vollkommene Reziprozität aufgrund kontingenter Umstände ausbleibt. Mairinger-Immisch geht jedoch noch einen Schritt darüber hinaus und bindet die Pröppersche Anerkennungshermeneutik an den corporeal und material turn, um zu verdeutlichen, unter welchen Bedingungen und Möglichkeiten sich Anerkennung in der konkreten Realität vollziehen sollte. In kritischer Würdigung des ethischen Anspruchs der Pröpperschen Anerkennungshermeneutik kehrt sie also den praktischen Vollzug der Freiheit hervor und bewahrt so die unbedingte Option für Freiheit als für die Ethik vorauszusetzendes Prinzip vor moralischer Überforderung und entwickelt eine kontingenzsensible Anerkennungsanalyse für intergeschlechtliche Menschen im römisch-katholischen Feld.
Theologisch-ethische Anerkennungshermeneutik
Die Ambiguitätstoleranz wird so zur Haltung, welche die Spannung zwischen formalem Anspruch der Freiheit und materiellen Vollzügen aufrechterhält. Mit Pröpper plädiert Mairinger-Immisch dafür, in Theologie und Kirche in einer ambiguitätstoleranten Haltung nach realen Vermittlungsprozessen des Glaubens zu suchen, wonach sich intergeschlechtliche Menschen in ihrer konkreten Situation unbedingt anerkannt und zur verbindlichen Übernahme ihrer Freiheit ermutigt fühlen. Dafür wären ganz konkret kirchliche Sozial-, Lebens- und Zeiträume nötig. Mairinger-Immischs Studie kommt im Blick auf das Outing der #OutInChurch-Bewegung zur rechten Zeit und bietet eine theologisch-ethische Anerkennungshermeneutik an, die das Selbstbestimmungsrecht und damit die Würde intersexueller Menschen unbedingt zu wahren weiß.
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Literatur: Katharina Mairinger-Immisch, Mehrdeutige Körper. Über die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche, Bielefeld 2024 (Transcript-Verlag).
Bild: Cover Transkript Verlag / Bielefeld