Katja Boehme zeigt die Potentiale des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts im
fächerkooperierenden interreligiösen Begegnungslernen auf.
Die bundesdeutsche Bevölkerung bezeichnet sich nur noch zur Hälfte als christlich. 12 % erklären sich zu dezidierten Atheistinnen und Atheisten, 25 % fühlen sich keinem Bekenntnis zugehörig und andere Religionen sind am stärksten mit 6% von der muslimische Bevölkerung vertreten.1 Wenn sich nur noch jeweils etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung als katholisch oder evangelisch versteht, ist es nicht verwunderlich, dass mancherorts die Frage laut wird, ob der bekenntnisorientierte Religionsunterricht in der Schule überhaupt noch gerechtfertigt ist.
Denn als 1949 der bekenntnisorientierte Religionsunterricht von der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz übernommen wurde, waren die religionsdemographischen Verhältnisse noch ganz anders gewichtet: Über 96 % der bundesdeutschen Bevölkerung waren Christinnen und Christen. Anbetracht dieser damals hohen Anzahl von je zur Hälfte evangelischer und katholischer Christinnen und Christen in der Bundesrepublik scheint es rückblickend erklärlich, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes den bekenntnisorientierten Religionsunterricht als einziges Schulfach in der Verfassung verankerten. Es ist aber zu vermuten, dass die Urheberinnen und Urheber des Grundgesetzes nicht nur zum Ziel hatten, den Religionsgemeinschaften – einschließlich selbstverständlich auch der jüdischen Glaubensgemeinschaft – ein Privileg einzuräumen.
Ein Fach, dessen Inhalte nicht (nur) staatlich vorgegeben sind.
Vielmehr ist anzunehmen, dass mit dem Vorziehen des Art. 149 WRV, der in der Weimarer Verfassung den Religionsunterricht in der Schule garantierte, in die ersten Artikel, also in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes eine bestimmte Intention verbunden war: Mit Art. 7 Abs. 3 GG sollte nach den erschütternden Erfahrungen des Nationalsozialismus ein Schulfach garantiert werden, dessen Inhalte eben nicht (nur) staatlicherseits vorgegeben werden.2 Somit sollten mit diesem „Privileg der Kirchen“ von vornherein auch Pflichten übertragen werden. Und selbst wenn die Mütter und Väter des Grundgesetzes Art. 7 Abs. 3 GG ursprünglich nur als Leistungsgrundrecht angesehen hätten, durch welches der Staat den Religionsgemeinschaften ermöglicht, einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht in der staatlichen Schule anzubieten, haben die Kirchen ihrerseits diesen Artikel durchaus schon damals als gesellschaftliche Verpflichtung verstanden.
So verabschiedeten sich sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche schon bald von einem Religionsunterricht im Sinne einer Glaubensunterweisung in der Schule und gestalten Religionspädagogik seither in enger Kooperation mit den Erziehungswissenschaften und den jeweils neuesten Erkenntnissen der Pädagogik. Als gesellschaftliche Verpflichtung wurde auch das staatskritische Potenzial angesehen, das der Religionsunterricht aufgrund seiner garantierten relativen Unabhängigkeit von staatlich vorgegebenen Inhalten hat.3 Durch die enge Verflechtung der staatlichen und religionsgemeinschaftlichen Verantwortungsbereiche für den Religionsunterricht als res mixta hat der Staat die religiöse Erziehung in der Schule im Blick. So bedeutet Art. 7 Abs. 3 GG nicht zuletzt auch eine staatlicherseits eingerichtete Einhegung der Religionen. Kinder und Jugendliche sollen durch einen wissenschaftlich fundierten und reflektierten Religionsunterricht vor religiösem Fundamentalismus und unkritischem Umgang mit Religionen bewahrt werden. Der unverzichtbare Beitrag des Religionsunterrichts zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zur Demokratiebildung, wie diese wenigen Schlaglichter zeigen, wird heute dringender denn je, gerade angesichts des Aufeinandertreffens verschiedenster Positionen und Haltungen schon in der Schule, die
nicht selten je einen Absolutheitsanspruch stellen.
Religionsunterricht als Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Der Bildungsforscher Jürgen Baumert zählt Religion und Philosophie zu einem der vier Modi der Weltbegegnung. Neben der naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen oder künstlerisch-musischen Weise, die Welt interpretieren zu können, sei auch die religiöse und philosophische Weise der Weltbegegnung in der modernen Schule einer pluralen Gesellschaft unverzichtbar und durch keinen anderen Modus, die Welt zu sehen und zu interpretieren, ersetzbar.4
Keine anderen Unterrichtsfächer befassen sich zudem so ausdrücklich mit verschiedenen religiösen, areligiösen oder säkularen Weltsichten und ihren Absolutheitsansprüchen, wie es der bekenntnisorientierte Religionsunterricht und der Ethik- bzw. Philosophieunterricht seinem jeweiligen Bildungsplan zufolge verpflichtet ist. Und auch diese Fächer behandeln je für sich die verschiedenen Weltinterpretationen auf didaktisch wie inhaltlich je eigene und nicht gegeneinander austauschbare Weise. Sie tragen nicht zuletzt deswegen dazu bei, dass heranwachsende Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen und fremden Weltsichten kritisch und respektvoll reflektieren können.
Aufgrund dieses Bildungsauftrags sind diese Fächer in einer heute weltanschaulich zunehmend diversifizierten Gesellschaft besonders dafür geeignet, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, zur friedlichen Convivenz und zur Demokratiebildung zu erbringen, indem sie ihren Schülerinnen und Schülern ermöglichen, ihre tradierten und ihre individuell unterschiedlichen Weltinterpretationen durch fächerkooperierendes Begegnungslernen in den Austausch zu bringen.
Dieser Vorschlag ist keineswegs neu, denn er wurde bereits 1969 vom evangelischen Comenius-Institut publik gemacht. Demnach sollten nicht nur die verschiedenen Weltsichten einer pluralen Gesellschaft in der Schule mehrperspektivisch vertreten sein, sondern im Sinne einer demokratischen Grundbildung auch miteinander in den Dialog treten.5 Und bereits dem Comenius-Institut ging es nicht nur um die Verständigung zwischen den Religionen und Konfessionen in der Schule, sondern ebenso um die Verständigung mit den Fächern der Philosophie, der Religionskunde sowie mit institutionell weniger privilegierten Weltanschauungsgruppen.6
Dialog unterschiedlicher individueller und kollektiver Weltsichten.
Nachdem auch die EKD in ihrer Denkschrift zum Religionsunterricht „Identität und Verständigung“ (1994) die Forderung nach einer Kooperation in der Fächergruppe aufgegriffen und den Fächern des Religionsunterrichts sowie des Ethik- bzw. Philosophieunterrichts die gemeinsame Aufgabe ins Stammbuch geschrieben hatte, „die Verständigungsbereitschaft und Fähigkeiten der jungen Generation in besonderer Weise zu fördern“7, griffen wenige Jahre später in Berlin die evangelische Landeskirche und das katholische Erzbistum den Vorschlag einer kooperierenden Fächergruppe auf.8 Dieses Konzept der zeitlich begrenzten Kooperation sollte in Berlin in allen Schularten realisiert und schon durch den Religionsunterricht in der Grundschule vorbereitet werden.9
Ziel der phasenweisen Kooperation der wertorientierenden Fächer sollte es sein, „verschiedene Grundüberzeugungen und Weltsichten, Religionen und Bekenntnisse, Glaube und Atheismus reflektiert und systematisch miteinander ins Gespräch“10 zu bringen. Die Kirchen warben sogar dafür, dass es auch religionskritischen Weltsichten, wie dem Humanistischen Verband in Berlin, ermöglicht werden sollte, einen regulären Unterricht in der Schule anzubieten – dies unter der Bedingung, zweimal im Schuljahr mit den anderen Parallelfächern zu einem gemeinsamen Thema zu kooperieren und Schülerinnen und Schüler in einem Begegnungslernen über ihre unterschiedlichen individuellen und kollektiven Weltsichten in einen Dialog zu bringen.
Begegnungslernen in der Lehrkräftebildung.
Ein solches ´Interreligiöse Begegnungslernen von Weltsichten´ zwischen z.B. den Fächern des jüdischen, katholischen, evangelischen, islamischen Religionsunterrichts und des Ethik- bzw. Philosophieunterrichts, zu dem auch andere Fächer eingeladen sind, wird seit dem Schuljahr 2002/2003 in verschiedensten Schulprojekten Süd- und Mitteldeutschlands erprobt, wissenschaftlich begleitet und an der Praxis weiterentwickelt.11 Zudem wurde 2011 dieses für die Schule entwickelte Konzept des Begegnungslernens an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg für die Lehrkräfteausbildung aufgegriffen und dort seit 2013 im Rahmen einer Zusatzqualifikation angeboten. So hat sich in Schule und Hochschule ein einfaches 4-phasiges Konzept bewährt, das kein zusätzliches Deputat erforderlich macht und mit nur einem gemeinsamen Begegnungstag pro Schul- bzw. Studienjahr von Vorurteilen befreien und Empathie, Perspektivenwechsel und Dialogkompetenzen anbahnen kann.12
Durch die Corona-Epidemie erzwungen, musste sich das vierphasige didaktische Konzept auch digital bewähren. Diese Erfahrung, dass auch in digitalen Videokonferenzräumen Begegnungslernen zwischen verschiedenen Weltsichten stattfinden kann, führte zur internationalen Öffnung des Konzepts in den kooperierenden Schulen und Hochschulen und schließlich zum Erasmus+Projekt ´Sharing Worldviews: Learning in Encounter for Common Values in Diversity´, an dem Schulen und Hochschulen aus Deutschland, Griechenland, Österreich und der Türkei teilnahmen. Zwischen 2022 und 2024 entstand somit eine gemeinsame Plattform des Begegnungslernens mit Handreichungen und Materialien zur Umsetzung in Schule und Hochschule und einer Zusatzqualifikation für Lehramtsstudierende.
So zeigt sich, dass ein solches Konzept des fächerkooperierenden interreligiösen Begegnungslernens ein Weg in die Zukunft ist, denn in der Schule vor Ort trägt es zur Verständigung zwischen heterogenen Weltinterpretationen, zur Demokratiebildung und zur inklusiven Schulentwicklung bei, übt die respektvolle Kommunikation in digitalen Medien ein und führt im ´globalen Dorf´ pluraler Gesellschaften zu einer transnationalen Verständigung von verschiedensten Weltsichten – seien diese religiös, philosophisch, national, kulturell oder anderweitig begründet.
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ild: Presse Pädagogische Hochschule Heidelberg
Aktuelle Publikation: Boehme, Katja, Interreligiöses Begegnungslernen. Grundlegung einer fächerkooperierenden Didaktik von Weltsichten, Freiburg 2023
- Vgl. Claus, Silvia, Geld und Glaube: Wie viel Menschen für ihre Religion ausgeben, in: F.A.Z., 22. April 2024, 22. ↩
- Die Mitwirkung des Staates bei der Erstellung der Bildungspläne für den jeweiligen Religionsunterricht ist in jedem Bundesland eigens und anders geregelt. ↩
- Der Religionsunterricht in der Schule, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 22012, 123–151, hier: 2.3.4. ↩
- Vgl. Baumert, Jürgen, Transparenz und Verantwortung, in: Killius, Nelson/Kluge, Jürgen/Reisch, Linda (Hg.), Die Bildung der Zukunft, Frankfurt 2003, 213–228, 216. ↩
- Vgl. Boehme, Katja, Interreligiöses Begegnungslernen. Grundlegung einer fächerkooperierenden Didaktik von Weltsichten, Freiburg 2023, 331–335. ↩
- Vgl. Nipkow, Karl Ernst, Der Weg der Fächergruppe … in: Weiße, Wolfram/Doedens, Folkert (Hg.), Wahrheit und Dialog. Theologische Grundlagen und Impulse gegenwärtiger Religionspädagogik, Münster 2002, 89–106, 90. ↩
- Evangelische Kirche in Deutschland, Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, Gütersloh 1994, 90. ↩
- Vgl. Lüpke, Rolf, Der Berliner Weg zum Konzept einer Fächergruppe, in: Domsgen, Michael/Hahn, Matthias/Raupach-Strey, Gisela (Hg.), Religions- und Ethikunterricht in der Schule mit Zukunft, Bad Heilbrunn/Obb. 2003, 167–182. ↩
- Vgl. Nipkow 2002, a.a. O. 90. ↩
- Flyer der EKD Berlin-Brandenburg und des Erzbischöfliches Ordinariat Berlin, 2000. ↩
- Vgl. Boehme 2023, a.a.O. 472–475. ↩
- Vgl. zu in der Schule durchgeführten Evaluationen die Angaben bei Boehme 2023 a.a.O. 376 und zu in der Hochschule durchgeführten Evaluationen die Angaben bei Boehme 2023 a.a.O., S. 418-420. An der KPH Wien/Krems wurde das Konzept durch Alfred Garcia Sobreira-Majer und Thomas Krobath sowie Christian Ratzke evaluiert. ↩