Der muslimische Theologe Zekirija Sejdini und der christliche Theologe Christian Bauer laden ein, einige überraschende Gemeinsamkeiten zu entdecken, die innerhalb ihrer jeweiligen Religionen jedoch nicht unumstritten sind.
Wir sitzen wieder einmal im Himal, einem nepalesischen Restaurant gegenüber des Innsbrucker Karl-Rahner-Platzes. In regelmäßigen Abständen treffen wir uns hier zum gemeinsamen Mittagessen, anregendes interreligiöses Theologisieren inklusive.
Dabei erstaunt uns immer wieder, dass man mit Menschen einer anderen Religion – bei Wahrung aller geschichtlich gewachsenen Unterschiede – mehr Gemeinsamkeiten haben kann als mit Menschen der eigenen. Wissenschaftlicher und im Anschluss an eine analoge christlich-interkonfessionelle Beobachtung von Michael Ebertz gesprochen: Dass es ein Zerbröckeln des interreligiösen Dissenses ebenso gibt wie ein Zerbröckeln des intrareligiösen Konsenses.
Im Folgenden möchten wir einige unserer Entdeckungen teilen. Wir laden Sie hiermit virtuell zu uns an den Tisch ein und bitten Sie, mit uns ins Gespräch zu treten.
Ein neuer interreligiöser Konsens bzw. intrareligiöser Dissens?
Anerkennung des geschichtlichen Kontextes
Wir sind beide davon überzeugt, dass der einzelbiographische und zeitgeschichtliche Kontext eines jeden Heiligen Textes und seine Tradierung von grundlegender Bedeutung sind. Text und Kontext sind auf eine konstitutive (also: grundlegende) und nicht nur auf eine applikative (also: anwendungsbezogene) Weise miteinander verbunden.
Es geht um Entdeckungen im jeweiligen Kontext, nicht um Anwendung eines bestimmten Textes. Der jeweilige historische Kontext nämlich schreibt sich in den Heiligen Text ein – und die gegenwärtige Erfahrung von heute ist die Tradition von morgen. Mit den Worten von Joachim Willems gesprochen: „Wie etwas und was überhaupt wahrgenommen und erfahren wird (und was nicht), geschieht im Rahmen kulturell-religiöser Prägungen und ist bereits Folge von Vorangegangenen Wahrnehmungen und Erfahrungen, die wiederum auf eine bestimmte (kulturelle und religiös kontingente) Art und Weise gemacht wurden.“
Anerkennung von theologischer Diversität
Innerhalb unserer beiden religiösen Traditionen gibt es eine berechtigte Vielfalt theologischer Schulen, die sich nicht auf eine einzig wahre Auslegung unserer Heiligen Texte reduzieren lassen. Mit dieser Anerkennung von Diversität ist eine Absage an akademische Diskursmonopole im Sinne einer theologischen Einheitsfiktion verbunden, die nur die eigenen Prämissen gelten lässt und davon abweichende Meinungen als eine auszulöschende Bedrohung des Eigenen begreift.
Daher ist sowohl die intraligiöse als auch die interreligiöse Vielfalt als eine gottgewollte Bereicherung zu betrachten, die nicht nur eine zentrale menschliche Eigenschaft ist, sondern auch ein wesentliches Merkmal, das die gesamte Schöpfung auszeichnet. Somit ist Vielfalt eine Normalität, die uns unsere eigene Perspektivität aufzeigt und uns dadurch ermöglicht, den Anderen auf Augenhöhe zu begegnen und die Vielfalt als menschliche Bereicherung zu empfinden. Zu glauben, die Wahrheit zu besitzen, zeugt nicht nur von einer mangelnden Unkenntnis über die wahre Natur und die Unverfügbarkeit der Wahrheit, sondern stellt auch Anmaßung gegenüber Gott dar.
Anerkennung der säkularen Gesellschaft
Für alle Religionen gilt es, die säkulare Gesellschaft als eine der wichtigsten Errungenschaften der westlichen Aufklärung anzuerkennen. Im Sinne eines nachchristentümlichen Christentums bzw. eines postislamistischen Islam ist allen theokratischen Versuchungen beider Religionen eine Absage zu erteilen. Jede einseitige Parteinahme des Staates zugunsten einer bestimmten Religion ist aus religiösen Gründen theologisch zu kritisieren – und zwar ganz egal, ob es sich um eine vom Land Tirol finanzierte katholische Pfarre bzw. christliche Kreuze im Gerichtssaal handelt oder um das Verbot, in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung christliche Kirchen zu bauen.
Die Voraussetzung für einen wahren Glauben ist nur dann gegeben, wenn die Menschen sich frei und ohne jeglichen institutionellen und staatlichen Zwang für oder gegen eine Religion entscheiden können. Die freie Entscheidungsmöglichkeit des Menschen in Glaubensfragen ist nicht nur ein theologisch legitimierbares Grundrecht, sondern das Fundament einer pluralen demokratischen Gesellschaft.
Neue Solidaritäten für eine bessere Welt
Diese drei Anerkennungsprozesse sind in unseren beiden Religionen zum Teil höchst umstritten. An ihnen scheiden sich intrareligiös die Geister. Und zugleich verbinden sie diese aber auch interreligiös miteinander. Neue Solidaritäten entstehen, die zu einer Verbesserung unserer zerrissenen Welt beitragen können.
Denn es ist ja so, wie Bruno Latour in seinem neuesten Buch unter Anspielung auf Martin Heidegger schreibt: „Nur die Versammlung aller Götter kann uns noch retten… “. Einfacher ist es, wenn man in diesem Zusammenhang vielleicht sogar an denselben Gott glaubt – wie auch immer man ihn nennen mag. Möglicherweise sollten wir öfters einmal miteinander zum Nepalesen gehen?