Im Gespräch mit Timo Aytaç Güzelmansur geht Hansjörgen Kuhn der Diskussion um die öffentliche Präsenz von Religionen in der deutschen Gesellschaft anlässlich des Muezzin-Rufs in Köln nach.
Am 14. Oktober 2022 erklang an der neuen Zentralmoschee der Ditib erstmals „Allahu akbar“ von Köln-Ehrenfeld. Gegner demonstrierten mit Sprechkören und Transparenten mit dem Argument „kein Muezzin-Ruf in Köln! Der öffentliche Raum sollte weltanschaulich neutral sein. Mit Dr. Timo Aytaç Güzelmansur, dem Geschäftsführer der Christlich-Islamischen Begegnungs-und Dokumentationsstelle (CIBEDO) hat Hansjoergen Kuhn ein Interview geführt, um die Zusammenhänge zu beleuchten. Das Interview entstand im Kontext der Studienprogramms Medien und öffentliche Kommunikation der PTH Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
Kuhn: Herr Dr. Güzelmansur, ich würde Ihnen gerne einige Fragen zu dem Muezzin-Ruf stellen, der vor Kurzem erstmals von der Zentralmoschee der DITIB in Köln-Ehrenfeld ertönte. Was bedeutet der Muezzinruf für Muslime?
Güzelmansur: Der Muezzinruf erinnert die Muslime daran, dass diese am Tag fünfmal betet sollen. Zum Gebet soll der Gläubige am Besten in die Moschee gehen. In vielen – vor allem in islamisch geprägten Ländern – hört man das ja auch. Darüber hinaus strukturiert dieser Erinnerungsruf den Tag.
Kuhn: Wie wichtig ist dieser Muezzinruf für die Muslime?
Güzelmansur: Unter den Gelehrten gibt unterschiedliche Ansichten über die Glaubensnotwendigkeit des Muezzinrufs. Für die einen ist der Gebetsruf vor dem Gebet eine Pflicht. Für andere muss der Ruf nicht hörbar sein. Das Gebet ist auch ohne Ruf gültig. Ich habe in Deutschland im Zuge dieser Diskussion mit einigen Muslimen gesprochen. Deren Argument ist, dass die Gläubigen auch über das Smartphone an die Gebetszeiten erinnert werden. Auch einige Imame sagten mir, dass wir in Deutschland jetzt andere Probleme als den Gebetsruf haben.
Kuhn: Manche Anwohner in Köln stören sich aber an dem Muezzinruf. Haben Sie dafür Verständnis?
Güzelmansur: Juristisch gesehen ist die Freiheit der Religionsausübung ein Recht, welches in der Verfassung als „Freiheit des Glaubens“ und „ungestörte Religionsausübung“ garantiert ist. Aber, die Religionsfreiheit gilt nicht schrankenlos. Es gibt eine positive und eine negative Religionsfreiheit. Im Rahmen der negativen Religionsfreiheit könnte man den Muezzinruf beschränken. Die religionspolitische Frage tangiert die Anwohner. Man muss es ernst nehmen, wenn Menschen sich daran stören. In Extremsituation kann ein solcher Ruf (z.B. für Menschen, die vor der Gewalt des so genannten Islamischen Staates nach Deutschland geflohen sind) sogar zu einer Retraumatisierung führen. Darüber hinaus gibt es Emissionsschutzgesetze, die festschreiben, welche Lautstärke (gemessen in Dezibel) ein solcher Ruf haben darf. Diese Emissionsschutzgesetze übrigens gelten für jegliche Form von Lärm im öffentlichen Raum, so auch für die Kirchenglocken.
Kuhn: Was bedeuten die Begriffe der positiven oder negativen Religionsfreiheit?
Güzelmansur: Ich nehme mein Recht der Religionsausübung wahr, das versteht man unter positiver Religionsfreiheit. Die negative Religionsfreiheit besagt, dass ich den Anspruch auf freie Ausübung einer Religion nicht wahrnehme. Ich verzichte also auf diesen Anspruch und möchte von jeglicher Art von Religion unbehelligt sein und bleiben. Welches Recht im Streitfall Vorrang hat, ist eine Frage der Güterabwägung, über die im Streitfall Gericht entscheiden muss. Niemand darf als eine andere Person zu einer religiösen Handlung zwingen.
Kuhn: Und eine letzte Frage: Wie kann man die Toleranz, besser noch die Akzeptanz von Menschen, die sich gestört fühlen, fördern?
Güzelmansur: Man sollte miteinander sprechen – unsere Einrichtung steht aus diesem Grund für Begegnung und Dialog. Auch die muslimische Gemeinschaft, die das Recht der freien Religionsausübung in Anspruch nehmen möchte, sollte das tun können! Die Stadt Köln hat (soweit ich weiß) auch die Moscheegemeinden dazu aufgefordert, die Anwohner zu informieren und mit ihnen zu sprechen. Dialog ist das Zauberwort. Dies gilt sowohl in religiös konnotierten Kontexten, wie z. B, bei Bauvorhaben für neue Moscheen, oder auch für Vorhaben im säkularen Raum, wie z.B. Stuttgart 21. Wenn man mit den Menschen spricht, die Idee erklärt und dafür wirbt, dann kann man Verständnis erreichen und dann ist die Akzeptanz in der Regel höher, als wenn man es einfach etwas tut und die Reaktion abwartet.
Kuhn: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch sehr geehrter Dr. Güzelmansur.
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Timo Aytaç Güzelmansur, Dr. theol., leitet die Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz für Christlich-Islamischen Dialog in Frankfurt am Main, CIBEDO.
Hansjoergen Kuhn, Studierender der Philosophie im achten Semester an der Hochschule Sankt Georgen; Teilnehmer am „Studienprogramm Medien und öffentliche Kommunikation“.
Titelbild: „© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)“
Porträtfotos: privat