Ein Interview mit Hans Zollner SJ zur globalen Dimension des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche.
Pater Zollner, sexualisierte Gewalt ist in der katholischen Kirche offenkundig ein globales Phänomen. Wie wohl wenige können Sie den Stand von Aufklärung, Ehrlichkeit und dem Willen, den Opfern gerecht zu werden, in den unterschiedlichen Regionen der Weltkirche überblicken. Was zeigt sich da?
Das Bild ist sehr vielfältig. Die katholische Kirche ist kein monolithischer Block, die Vorstellung einer monarchischen Zentralregierung, die immer und überall die Fäden in der Hand hielte, ist weder historisch durchgängig haltbar noch funktioniert sie in der Wirklichkeit. Der Papst hat kein rotes Telefon, mit dem er von oben nach unten seine Anweisungen an alle Kardinäle, Bischöfe, Priester, Schulleiter weitergeben könnte, um sie auf dieselbe Linie zu bringen. Schon in der obersten Führungsschicht der katholischen Kirche gibt es keine gemeinsame Linie, wie wir jeden Tag sehen und lesen.
Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt gegen Minderjährige oder andere vulnerable Gruppen einheitlich in der katholischen Kirche oder in allen Ländern gleich eine große Rolle spielt, geht an der Wirklichkeit vorbei. In den allermeisten Ländern dieser Welt – v.a. auch jenen mit den größten und jüngsten Bevölkerungen – ist sexualisierte Gewalt bis heute kein die Öffentlichkeit wirklich bewegendes Thema. Im Gegenteil, kürzlich ist mir in Indien – dem bevölkerungsreichsten Land der Welt – wieder das Phänomen begegnet, dass zwar sexueller und andere Arten von Missbrauch unvorstellbar häufig vorkommen, dass es aber ein unaussprechliches Tabu für alle Religionen und in der Gesellschaft als solches ist.
In der katholischen Kirche weltweit ist im Blick auf Aufarbeitung und besonders in der Prävention von Missbrauch viel geschehen, schon unter Benedikt und noch mehr unter Franziskus. Die Begegnung mit Betroffenen von Missbrauch ist für viele Kirchenangehörige – Verantwortliche wie Bischöfe oder Provinziäle genauso wie für „einfache“ Pfarrangehörige – weiterhin so beunruhigend und unangenehm, dass sie sie vermeiden. Betroffene fühlen sich meist nicht willkommen, wollen nicht riskieren, erkannt zu werden, stehen unter Druck von Kirchenverantwortlichen, aber auch in der Familie. Zwar ist seit 2002 das binnenkirchliche Recht deutlich verschärft worden. Unser Problem ist dabei nicht, dass es keine geeigneten Normen oder Gesetze gäbe. Unser Problem ist, dass die Leitung entweder nicht willens oder nicht fähig ist, die eigenen Normen umzusetzen und ihre Nachhaltigkeit zu garantieren.
Was zeigt sich in diesem Befund für das Verhältnis von Religion, Sexualität und Macht? Und dies synchron hinsichtlich globaler Ungleichzeitigkeiten, wie diachron hinsichtlich der Entwicklungsdynamiken dieses Verhältnisses?
Alle drei Bereiche – Religion, Sexualität, Macht – sind in sich ambivalent, sie können lebensbefördernd, respektvoll und liebevoll gelebt werden – oder aber zerstörerisch, entwürdigend und egoistisch. Wenn das schon für jede einzelne dieser Grundkomponenten menschlichen Lebens gilt, dann kann man sich vorstellen, wie komplex die Interaktion zwischen ihnen ist.
Ich bin von Haus ein hoffnungsvoller Realist und meine, dass Menschen sich und Anderen Gutes tun können, und dass wir lernfähig sind. Aber die Herausforderungen für eine entsprechende persönliche und gesellschaftliche Entwicklung zum Guten hin haben sich verändert, während die pädagogischen Bemühungen oftmals nicht Schritt gehalten haben. Dazu kommt die zunehmend multikulturelle Realität unserer Kirche und Gesellschaft.
Ich lebe und arbeite seit fast 40 Jahren in internationalen und multikulturellen Kontexten. In den letzten Jahren habe ich darüber hinaus durch eigene Anschauung bei vielen Reisen gelernt, die vermeintlichen Gewissheiten meiner westeuropäischen Sicht nicht für selbstverständlich zu halten. In den allermeisten und den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt ist es schon herausfordernd, auch nur von Sexualität an sich in Familie oder Schule, in Religionen oder der medialen Öffentlichkeit zu sprechen. Homosexualität, Transgender oder das Verhältnis von männlicher Macht (in den verschiedenen kulturellen Ausfaltungen) zu sexueller Gewalt sind für die weitaus größten Teile dieser Gesellschaften meist unaussprechliche und unausgesprochene Tabus – auch dort, wo die Realität andere Bände spricht, wenn man genau hinschaut.
Für den Blick auf die Gesamtkirche hat mich das gelehrt: nicht voraussetzen, dass alle auf dem gleichen Stand sind und unweigerlich bald sein werden; auf die geäußerten und die verdeckten Motive der jeweiligen Positionen hören; einen langen Atem haben. Für die Lehrtätigkeit an unserem Institut, an dem wir sehr viele Studierende aus nicht-westlichen Ländern haben, bedeutet das, dass wir den Boden für eine realistische, ehrliche und möglichst vorurteilsfreie Diskussion zwischen Menschen aus verschiedensten Kulturkreisen und Lernmethoden bereiten wollen.
Es gibt zwei Theorien, wie es weitergehen wird mit dieser multikulturellen Realität bei einer gleichzeitig medial, wirtschaftlich und verkehrstechnisch globalisierten Welt. Die eine nimmt an, dass der sich weltweit verbreitende Kapitalismus sowohl den patriarchalen Essentialismus wie die normative Dominanz der Religion nach und nach brechen wird, zum anderen wird vermutet, dass genau dieser Prozess reaktionäre Gegenbewegungen provoziert. Was nehmen Sie wahr? Und welche Rolle spielt dabei die katholische Kirche als globaler Player? Muss es sie auf Dauer nicht zerreißen in diesem Konflikt? Dann wären die Auseinandersetzungen um den deutschen Synodalen Weg oder um die Erlaubtheit der Segnungen „irregulärer Beziehungen“ nur der Beginn weit größerer Verwerfungen.
Ich bin kein Orakel. Im Augenblick sehen wir ja, dass es Anhaltspunkt für beide Theorien gibt. Ich erlebe die katholische Kirche als einen global player mit einem großen Potential, einen anderen Weg jenseits dieser Pole zu entwickeln. Die katholische Kirche hat ja über 1500 Jahre ohne die im 19. Jahrhundert entwickelte Form des Zentralismus existiert. Das hat mehrfach in echte Existenzkrisen geführt, aber es war allein schon wegen der langen Kommunikationswege eine Einheit in Unterschiedlichkeit möglich, die für manche Puristen heute ein großes Ärgernis wäre. Auch die Tatsache, dass in der katholischen Kirche 23 Teilkirchen eigenen Rechts existieren, die in der ostkirchlichen Tradition stehen und doch den Jurisdiktionsprimat des Papstes anerkennen, zeigt, dass die katholische Kirche mit Verschiedenheit konstruktiv umgehen kann.
Allerdings setzt das voraus, dass es ein gemeinsames und geordnetes Verständnis und Vorgehen gibt. Synodalität kann dazu sicher ein Schlüssel sein, aber wie wir ja deutlich erfahren, sind schon die Auffassungen, was eine Synode ist, wie sie abzulaufen hat und welche Kompetenzen sie hat, sehr unterschiedlich –in Deutschland, im Vatikan, in Kongo, in Korea und in Kolumbien. Daher erwarte ich, dass es heftige Auseinandersetzungen geben wird. Ich wäre auch froh darüber, wenn sie denn von der Haltung bestimmt wären, die Ignatius von Loyola im Praesupponendum beschreibt: „…dass jeder guter Christ bereitwilliger sein muss, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen; und wenn er sie nicht retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht, und versteht jener sie schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe; und wenn das nicht genügt, suche er alle angebrachten Mittel, damit jener, indem er sie gut versteht, sich rette.“ (Exerzitien, Nr. 22).
Seit der sukzessiven Aufdeckung des Missbrauchsskandals hat es nach anfänglicher Verdrängung und Verschiebung viele Schuldeingeständnisse von Bischöfen und anderen Verantwortlichen gegeben bis hin zum Papst. Und dennoch bleibt – nicht nur bei Betroffenen – das Gefühl des Ungenügens am kirchlichen Umgang mit der eigenen Schuld. Woran liegt das?
Kurz gesagt liegt es an dem Empfinden bzw. der Erfahrung, dass diese Worte des Bedauerns und Sich-Entschuldigens nicht aus tiefer persönlicher Überzeugung kommen und dass ihnen keine entsprechenden persönlichen Konsequenzen folgen. Viele Äußerungen wie „ich bin sehr betroffen“, „wir bedauern das Geschehene sehr“ klingen hohl, wenn weiterhin die Anliegen von Betroffenen nicht umgesetzt werden und wenn sich diejenigen wegducken, die ihrer moralischen und rechtlichen Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Es liegt wohl auch daran, dass immer noch auf Einzelfälle reagiert wird und keine systemischen Konsequenzen gezogen werden. Vielen in der Kirche – nicht nur Amtsträgern – ist noch nicht klar, dass einige marginale Korrekturen nicht genügen. Ich meine, dass die Erwartung von sehr vielen innerhalb der Kirche wie auch von außen nicht erfüllt wird, dass die Wurzeln von Missbrauch und Vertuschung analysiert, diskutiert und verändert werden. Die Mentalität, die Haltungen und die Strukturen, die ein Prestigedenken, eine Überidentifikation mit der Institution, ein unkritisches Verhältnis zu Autorität und Macht und eine unreife Sexualität befördern bzw. zementieren, lassen sich nach wie vor an allen Ecken und Enden entdecken. Natürlich gibt es auch andere Erfahrungen und bei mehr und mehr Verantwortungsträgerinnen und -trägern scheint die Botschaft anzukommen. Doch insgesamt bleibt die Wahrnehmung, dass es „der“ Kirche zuallererst um sich selbst geht. Echte Umkehr, glaubhafte Reue, wirksame Genugtuung schauen anders aus, fühlen sich anders an.
Dieser Befund ist institutionstheoretisch wenig überraschend, für eine seelsorgliche und dem Evangelium verpflichtete Institution aber natürlich ein großes Problem. Denn er untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Das berührt auch alle jene, die für diese Institution stehen. Bei Nietzsche heißt es: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Trifft das auch Ihre Erfahrung?
Ich meine, dass die Glaubens- und Kirchenkrise (nicht nur der katholischen Kirche!) viel mit der Verdrängung der Betroffenen von Missbrauch und ihres Leides zu tun hat. Das „Abspalten“ – analog zu psychologischen Verteidigungsmechanismen der als unerträglich erlebten Wunden und ihrer Träger – führt dazu, dass diese verstörende Wirklichkeit zwar verdrängt wird, aber dann unbewusst und verdeckt spürbar und wirksam ist. Der Mehltau an Mutlosigkeit, Kraftlosigkeit und mangelnden Ideen, der sich über weite Teile der Kirche gelegt hat, ist wohl ein Symptom für die Schuld und Scham, die Angst vor der Entdeckung des Versagens im Ureigenen – in der Sorge für die Bedürftigen und Schutzbefohlenen -, die hinter der polierten Fassade bzw. dem Bild von der perfekten Kirche liegen, die nicht beschmutzt werden darf. Anders kann ich mir nicht erklären, warum viel zu lange weder bei den Kirchenverantwortlichen noch bei weiten Teilen der Theologietreibenden die Auswirkung der Missbrauchs- und Vertuschungskrise auf den Glauben als solches thematisiert wurde. Glauben kann man nur, wenn man vertraut. Vertrauen entsteht, wenn man sieht, dass jemand das tut, was er oder sie sagt und vorgibt. Wo das Gegenteil nicht nur einmal, sondern gefühlt ständig und überall geschieht – wo also „die“ Kirche Betroffene missachtet und Täter schützt –, da wird das Fundament der Glaubwürdigkeit zerstört, und zwar nicht im Sinn einer persönlichen Bewertung. Hier steht vielmehr die Weitergabe der Substanz des Glaubens auf dem Spiel.
Wenn flächendeckend und über Jahrzehnte und Jahrhunderte – wie mittlerweile oft genug nachgewiesen – ein Bischof nach dem anderen Betroffene wie lästige Störenfriede behandelt, ihnen keine pastorale oder menschliche Zuwendung schenkt und nicht einmal die kirchlichen Normen zu Missbrauchsanschuldigungen befolgt, dann werden diese Menschen zum zweiten Mal zum Opfer. Darüber hinaus erodiert das Grundvertrauen in das Gesamt der Sendung und Botschaft der Kirche: wer könnte „um sich selbst besorgten Heuchlern“ und „lernunfähigen Seelsorgsbürokraten“ ihre Kernbotschaft vom liebenden und den Bedürftigen zugewandten Gott abnehmen, wenn sie selber genau das Gegenteil an den Tag legen? Die Lehre von der apostolischen Sukzession impliziert, dass das Glaubensgut von Bischof zu Bischof weitergegeben wird. Was aber, wenn viel zu viele Bischöfe die grundlegendsten Botschaften des Evangeliums selbst nicht beachten? Wer soll ihnen dann noch glauben, und das nicht nur in Fragen der Sexuallehre, wo der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit vielfach als eklatant und skandalös wahrgenommen wird?
Der Salzburger Dogmatiker Hans-Joachim Sander hat ein Buch zu den Folgen der Missbrauchskrise für den Glauben geschrieben. Es heißt „Anders glauben, nicht trotzdem.“ Der Blick in den Abgrund des Missbrauchsskandals: Was bedeutet er für Sie persönlich, für Ihre Existenz als Priester und Jesuit? Und wenn Sie es beantworten wollen: für Ihren Glauben?
Die Begegnung mit Betroffenen von Missbrauch und der Widerstand von vielen in Kirche und Gesellschaft, sich mit Missbrauch auseinanderzusetzen, hat mich sehr verändert, und das geht auch weiter: wie ich mich und mein Jesuitsein und Priestersein erlebe und sehe. Die Begegnungen mit Betroffenen erlebe ich sehr unterschiedlich: je nachdem, wie groß die Wut, die Traurigkeit oder die Erwartungshaltung sind. Oft kann ich auch nur zuhören und versuchen, dem Leid und der Verzweiflung nicht auszuweichen. Ich bin vielen Betroffenen dankbar für ihr Vertrauen, und ich fühle mich oft ohnmächtig, besonders bei Fragen wie „Warum ist das mir passiert? Warum hat Gott nicht geholfen?“
Ich habe auf meinem Weg innerlich sehr schwierige Zeiten durchlebt, aber ein Grundvertrauen ins Leben und in seinen Sinn habe ich immer gespürt. Dass Jesus bei uns ist – auch in den dunkelsten Stunden -, und dass Gott uns im tiefen Tal begleitet, daran glaube ich. Übrigens habe ich auch von meinen theologischen Lehrern und geistlichen Begleitern immer eine Weite erfahren: Dogma als Eröffnung eines Glaubensraumes – nicht als seine absolute Fixierung – und Beten als personales Einüben – nicht nur als rituelles Feiern. Meine Familie war zwar selbstverständlich katholisch, und ich war Ministrant, Sternsinger und Kirchenchormitglied. Aber meine Eltern waren allergisch allen Formen von Klerikalismus gegenüber. Und als geistlicher Begleiter, in der Beichte und vor allem als Psychotherapeut habe ich in tiefe menschliche Abgründe des Lebens geblickt, so dass ich einen nüchternen Blick darauf entwickelte, wie angefochten und gebrochen christliches und auch priesterliches Leben sein kann.
Was mir mit Blick auf die Kirche am meisten zusetzt, ist das Fehlen von Mut und Kraft in der Kirchenleitung, wenn es bei der Aufarbeitung von Missbrauch darum geht, Schuld einzugestehen und die Konsequenzen – die persönlichen und strukturellen – zu ziehen. Dieses Zaudern und Zögern ist schwer erträglich, und ich verstehe auch, warum viele Betroffene keine Hoffnung mehr in diese Kirche setzen, und warum viele Zeitgenossen kein Interesse mehr an einem kirchlichen Glauben haben: weil sie merken, dass es in der Kirche zu oft um sie selbst geht und nicht um die Botschaft Jesu. Was tun? Auch ich mache Fehler und bin begrenzt, aber ich mache das, was mir mit bestem Wissen und Gewissen möglich ist. Dazu hat es immer Leute – in meinem Orden, an der Uni, bei Freunden und Wohltätern – gegeben, die mich unterstützt haben. Seit ein paar Jahren merke ich auch, dass es mehr und mehr in der Kirche und darüber hinausgibt, die gemeinsam auf diesem Weg sind. Das gibt mir Hoffnung.
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Das Interview führte Rainer Bucher.
Hans Zollner SJ ist Theologe, Psychologieprofessor und Psychotherapeut und Direktor des Institute of Anthropology. Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care (IADC) an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Von 2014 bis 2023 war er Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen.
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