Florian Kleeberg wagt, angestoßen von einer Punkhochzeit, eine inspirierende Kontrastierung: Was könnten polyamore Beziehungen zwischen Menschen mit der Rede von Gott zu tun haben?
2016 war ich auf drei Hochzeiten. Die erste war eine katholische Eheschließung mit Festgottesdienst in einer Kirche, weißem Kleid, schwarzem Anzug, Eheversprechen, Trauringen, Brautstraußwerfen und einer sich anschließenden „typischen“ Feier im Gemeindezentrum. Die zweite war eine profan-materialistische Hochzeit im Standesamt mit Ja-Wort, drei wechselnden Outfits der Eheleute, Trauringen und einer großen Party in einem Club. Die dritte Hochzeit war eine Punk&Pagan-Hochzeit eines polyamor lebenden Paares. Statt Kirche und Standesamt wurde ein Handfasting-Ritual abgehalten. Statt der Ringe hatte sich das Brautpaar identische Tattoos auf ihre Oberarme stechen lassen. Statt Party im Pfarrheim oder Club gab es selbstgesungen Punkrock und Lagerfeuer unter freiem Himmel, an dem das Brautpaar im Kreis seiner weiteren Partner*Innen, Familienmitglieder und Freunde bis weit in die Morgenstunden feierte.
Ausdruck überfließender Liebe
Diese dritte Hochzeit war mein persönliches Highlight. Das lag nicht nur daran, dass ich als katholischer Theologe in jener Festgemeinde als Exot galt. Vielmehr wurde ich mit einer Frage konfrontiert, die mich seit dem umtreibt. Eine junge Frau hatte aus einem Seitengespräch mitbekommen, dass ich katholische Theologie studiert habe. Sie fragte mich, ob ich „zu denen gehöre, die glauben, dass Gott die Liebe sei.“ In der Tat kann ich an diesem Verständnis mit meinem Gottesbild gut anschließen und so bejahte ich ihre Frage. Die nächste Frage ging dann schon ans Eingemachte: Ob ich sinngemäß „der Überzeugung sei, dass das Wesen der Liebe darin bestünde, nicht bei und für sich selbst zu bleiben, sondern sich auf andere und anderes hin zu überschreiten.“ So ähnlich hätte ihr ein Reli-Lehrer den Schöpfungsakt Gottes als Ausdruck überfließender Liebe erklärt, die alles Geschöpfliche – die Welt mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen frei neben sich – ins Dasein liebt. Auch das teilte ich. Dann kam die Gretchenfrage: „Warum tut ihr Euch dann so schwer, Gott selbst und Eure Beziehungen polyamor zu denken – schließlich seid ihr doch nach Gottes Abbild geschaffen?“
Diese Frage hat mich nachhaltig irritiert und ich nehme sie zum Anlass, um sie mit Michel de Certeaus Gedanken zur „Apologie der Verschiedenheit“[1] ins Gespräch zu bringen.
1. Für eine Theologie der Verschiedenheit – Gedankenspuren von Michel de Certau
Ausgangspunkt für Certeaus Überlegungen bildet die Feststellung einer unmöglichen Vereinheitlichung der sich artikulierenden Ausdrucksweisen, Christ zu sein. Dies kulminiert in der Frage, ob es nicht gerade diese Verschiedenheiten sind, die das wahre Christsein ausmachen und als Konstante über alle Regionalismen, Epochen, sprachlichen Schismen und den Versuchen, alles identisch zu machen, gelten können. Dabei nimmt der Autor Bezug auf die biblische Erfahrung des jüdischen Volkes: „Das, was im Verlauf der Geschichte Israels unaufhörlich infrage gestellt wurde, ist nicht die Beziehung, sondern das, worin diese sich ausdrückt. Die Treue bleibt, ohne sich an andere Objekte zu binden…“[2] Certeau will darauf hinweisen, dass das Beziehungsband zwischen Gott und seinem Volk „eine[m] fortdauernden Wandel [unterliegt; F.K.] weil das Volk nie seinen Gott auf die Zeichen reduzieren darf, die es von ihm empfängt: der Tempel, das Wohlergehen, die Siege.“[3] Alle Zeichen haben nur temporären Bestand, wie sie ihren Verweischarakter behalten und nicht um ihrer selbst willen „zu goldenen Kälbern“ mit Ewigkeitsbestand erhoben werden. „Die Vernichtung von Gütern verweist auf den Primat der Beziehung.“[4]
Andersartigkeit
In die gleiche argumentative Richtung laufen Certeaus Verweise auf die bleibende Fremdheit Jesu Christi und des Evangeliums, die gerade darin ihrer Verschiedenheit bewahren, dass sie sich jeder Vereinnahmung ob ihrer Andersartigkeit entziehen.[5] Und diese Logik setzt sich auch in der Glaubensgemeinschaft fort, wofür Certeau exemplarisch auf den Konflikt zwischen Petrus und Paulus als auch auf das Gebot der Feindesliebe verweist, für die beide die jeweils bleibende Differenz konstitutiv ist.[6] Wo hingegen der Versuch unternommen wird, alle Verschiedenheiten zu Gunsten einer Vereinheitlichung aufzulösen, erliegt man der „Krankheit… der Identität …, die [die; F.K.] Tatsache der Verschiedenheit zurück zu weisen“[7] sucht.
Errichtung einer wechselseitigen Anerkennung
Nach Certeau kann man dieser Krankheit begegnen, wenn man die „Erfahrung als Ort der Verschiedenheit“[8] zum Referenzpunkt nimmt, denn sie lehrt den Umgang mit Andersartigkeit. Da gibt es die geistliche Erfahrung. Darin artikuliert sich ein diskursiver Austausch um Wahrheit, der sich vom Geist inspiriert weiß und deshalb vom wortgetreuen Verständnis zu lösen traut. Beschreiben lässt sich jener Austausch als „Prozess, der von einer Erfahrung ausgehend auf seine Erhellung durch Gemeinschaft, von einer Ursprünglichkeit auf seine Vertiefung durch eine Gegenüberstellung, von einer Verschiedenheit zur Errichtung einer wechselseitigen Anerkennung“[9] verläuft. Dabei „beschreibt die Erfahrung einen geistlichen Weg oder erzählt den Prozess einer intellektuellen Vergewisserung, aber das, was sie als Rekurs oder als Bezugspunkt definiert, ist eine Reaktion auf eine frühere, bis dahin dafür geeignete Sprache, den Wegen des Geistes Gestalt zu geben, was aber von jetzt ab für ungenügend gehalten wird.“[10]
2. Brückenschläge zur Gretchenfrage der polyamoren Hochzeit
Damit zurück zu meiner Irritation. Die besagte Frage lautete: „Warum tut ihr Euch dann so schwer, Gott selbst und Eure Beziehungen polyamor zu denken – schließlich seid ihr doch nach Gottes Abbild geschaffen?“
Individualisiert, vielfältig, unstetig und komplex
Seitdem treibt mich das Thema um: Taugt der Begriff „Polyamorie“, der zur Kategorisierung für nicht-katholisch-konforme, zwischenmenschliche Beziehungsrealitäten genutzt wird, dazu, die innergöttliche Liebe und die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit Auswirkungen auf dessen Beziehungsgestaltung auszudrücken? Und könnte die mit diesem Wort verbundenen Andersartigkeit, Beziehung zu gestalten, dem klassisch katholischen Beziehungsverständnis mit der monogamen, unauflöslichen, durch exklusive Intimität sich auszeichnende Ehe als dessen Höchstform helfen, die dahinterstehenden, mit steigender Tendenz an der Realität zerschellenden Normen und Ideale zu entlasten? Denn möglicherweise wären „polyamore Beziehungsmodelle heute ‚realistischer‘, weil näher an der emotionalen wie auch gesellschaftlichen Realität …, die individualisiert, vielfältig, unstetig und komplex ist und nicht in ein binäres Ganz-oder-Gar-nicht-Schema passt“[11], wie es katholisch für die Ehe gilt.
Verstehen Sie die folgenden Überlegungen daher bitte als einen ersten assoziativen Bewältigungsversuch meiner Irritation, eines mich herausfordernden Deutungshorizontes oder um es in der Diktion Certeaus auszudrücken, eines „Durchbruch[s] des Anderen in … [mein; F.K.] Selbst“[12].
Qualität, Intensität und Intimität
Dazu eine kurze Beschreibung des Phänomens: Polyamorie[13] „kombiniert eine lateinische Wortwurzel amore (Liebe) mit dem Griechischen poly (viele). Das Zusammenspiel dieser Elemente ergibt einen Sinngehalt von ‚viele Lieben‘ oder ‚mehr als eine [Person; F.K.] [l]ieben‘.“[14] Im zwischenmenschlichen Kontext bezieht sich dieses Phänomen „eher auf eine Beziehungsstrategie als auf ein bestimmtes sexuelles Verhalten in einer Beziehung. Polyamory ist gekennzeichnet durch das Interesse eines oder beider Partner, mehr als eine sexuelle und/oder romantische Beziehung gleichzeitig zu führen, öffentlich und mit dem Einverständnis des anderen Partners.“[15] Dabei sind „Offenheit, Kommunikation und Konsensfindung“[16], Wertschätzung und Respekt unverzichtbare Bestandteile von polyamoren Beziehungen und finden ihre Ausgestaltung „in jeglicher Kombination von Primär-, Sekundär- und Tertiär-Partnerschaften.“[17] Zeichnet sich die Primärbeziehung durch eine „verbindliche Langzeit-, ehe(ähnlichen) Intim-Beziehung“[18] aus, die die Kernbeziehung in jeglicher Hinsicht bildet, lassen sich davon die Sekundär- und Tertiär-Beziehungen in abnehmender Bedeutsamkeit für das alltägliche Zusammenleben und die geteilte Verantwortung, jedoch nicht bezogen auf die Qualität, Intensität und Intimität der Beziehungen unterscheiden.[19] Treue, Verlässlichkeit und Liebe prägen die jeweiligen Beziehungen und konkurrieren ob der Unvergleichlichkeit jede einzelnen Ausgestaltung gerade nicht miteinander, da sie in ihrer Einzigartigkeit hoch- und wertgeschätzt werden. Der einzig wesentliche Unterschied zur christlich exklusiven Beziehungsform der Ehe scheint die Offenheit für nicht exklusiv gelebte Intimität zu sein.[20]
3. Irritierende Denkanstöße und Anfragen
Damit möchte ich meine irritierenden Denkanstöße und Anfragen bezüglich der Polyamorie transparent machen, die mir im Anschluss an die Hochzeit gekommen sind:
- Unabhängig davon, wie man Trinität denkt, wird man gut katholisch Gott als Wesen in drei Personen glauben. Entpersonalisiert man den Heiligen Geist trinitätslogisch nicht als abstrakte Liebe zwischen Vater und Sohn, sondern belässt man jedem der drei Personen ihren Selbststand, wäre dann möglicherweise die Beschreibung, dass Gott in sich polyamor liebt – weil in der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Geist und damit nicht exklusiv auf einen anderen – eine der heutigen Zeit angemessene Ausdrucksweise? Zu berücksichtigen wären natürlich in diesem Zusammenhang die Geheimnishaftigkeit Gottes sowie die Grenzen der Sprache und des Denkens, die nicht zuletzt in der Analogielehre ihren Ausdruck gefunden haben und bei einer solchen Ausdrucksweise zu berücksichtigen wäre
- Folgt man jedoch der Spur, dass Gott ob seiner inklusiven Liebeweise über sich hinaus – als sich übersteigende Liebe – Menschen liebt, könnte man dann nicht womöglich auch in der Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch die Liebesbeziehung zu jedem und jeder als viel-liebend/polyamor, weil einzigartig, unvergleichlich und damit nicht konkurrierend charakterisieren?
- Analog zu Certeaus Problemanalyse, dass das „Volk nie seinen Gott auf die Zeichen reduzieren darf, die es von ihm empfängt“, stellt sich die Frage, ob nicht genau diese verabsolutierte Reduktion in der christlichen Tradition mit der klassisch-katholischen Ehe als monogame Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau als die einzig legitime und von Gott gutgeheißene Ausdrucksform von Liebe passiert ist? Wäre womöglich polyamore Beziehungsgestaltung auch in diesem Fall die irritierende Verschiedenheit, der es bedarf, um dem Einheitlichen von Beziehung auf die Spur zu kommen – allen sicher geglaubten, ja vielleicht verabsolutierten Zeichen und Gütern zum Trotz: nämlich Treue, Verlässlichkeit und Liebe? Und wäre dann wirklich entscheidend, ob man seine Liebe divers oder nicht divers Ausdruck verliehe?
- Und zu guter Letzt: Es gibt die Erfahrung, dass sich Menschen im Laufe ihres Lebens in mehr als einen anderen Menschen verlieben können und es tun. Müsste man den Menschen dann nicht sogar als ontologisch viel-liebend / polyamor bestimmen, und wäre das womöglich die von der Dame auf der Hochzeit angesprochene Gottebenbildlichkeit des Menschen? Wird aber diese nicht durch ein Ideal konterkariert, dass den einzig legitimen Ausdruck von Liebe samt der dazugehörigen Intimität in einer exklusiven Beziehung (zwischen einem Mann und einer Frau) verortet und normiert, wodurch ja jede andere Ausdrucksform – egal, ob nun exklusiv oder inklusiv – abqualifiziert und als Sünde markiert wird?
Apologie der Verschiedenheit
Womöglich sind Sie jetzt irritiert und denken sich, das sind ja nur Fragen eines verstörten Theologen, der ein gesellschaftlich auftretendes Beziehungsphänomen, das dem christlichen Beziehungsverständnis in seiner Denkweise völlig fremd ist, mit genau diesem in Bezug zu bringen versucht, wodurch er eigentlich nur die Beziehung von Gott und Mensch diversifiziert. Aber vielleicht machen Sie es wie Michel de Certeau und nehmen meine Gedanken als die von Ihren Überlegungen ganz Anderen, die es in einer Apologie der Verschiedenheit mit Ihren Gedanken zusammen zu bedenken gilt. Sie wären dann ein Ausdruck dafür, das Christsein für sich verschieden zu leben und inhaltlich durchbuchstabieren, ohne den Anspruch an eine gemeinsame Basis für das Christsein aufzugeben – bei der es jedoch nicht darum geht, der Krankheit der Identität zu erliegen.
Dr. Florian Kleeberg ist Fortbildungsreferent für pastorales Personal im Bischöflichen Generalvikariat Münster.
[1] Michel de Certeau, Der Fremde oder Einheit in Verschiedenheit, Stuttgart 2018, 175-211, nachfolgend zitiert als: de Certeau, Der Fremde oder Einheit in Verschiedenheit.
[2] Ebd., 196.
[3] Ebd., 196.
[4] Ebd., 197.
[5] Vgl. dazu die Ausführungen ebd., 197-201-
[6] Vgl. ebd., 201, wo Certeau festhält: „Die Verschiedenheit hört nicht auf, als Ferment an der Einigung zu arbeiten, das deren Sinn keimen und erblühen lässt; und sie taucht immer von drinnen und draußen mit den anderen auf.“
[7] Ebd., 202.
[8] Ebd., 204.
[9] Ebd., 204.
[10] Ebd., 204.
[11] Imre Hofmann, Wenn Beziehungsideale an der Realität scheitern, in: Hoffmann, Imre / Zimmermann, Dominique (Hg.), Die andere Beziehung. Polyamorie und Philosophische Praxis, Stuttgart 2012, 45-61, hier: 45.
[12] Certeau, Der Fremde oder Einheit in Verschiedenheit, 178.
[13] Vgl. zu einem ersten Überblick Thomas Schroedter / Christina Vetter, Poyamory. Eine Erinnerung, Stuttgart 2010.
[14] Klesse, Christian, Polyamory – von dem Versprechen, viele zu lieben. Ein Kommentar zum Forschungsstand, in: Zeitschrift für Sexualforschung 20 (2007, 4), 316-330, 317.
[15] Carol Queen, Bisexuality, Sexual Diversity, and the Sex-Positive Perspective, in: Firestein, Beth A. (Hrsg.), Bisexuality. The Psychology and Politics of an Invisible Minority. Thousand Oaks: Sage Publications 1996,103-124, 111.
[16] Klesse, Polyamory – von dem Versprechen, viele zu lieben, 316.
[17] Schroedter / Vetter, Polyamory. Eine Erinnerung, 47.
[18] Schroedter / Vetter, Polyamory. Eine Erinnerung, 46.
[19] Vgl. ebd., 46f.
[20] Vgl. Imre Hofmann, Das Maß der Liebe, in: Hoffmann, Imre / Zimmermann, Dominique (Hg.), Die andere Beziehung. Polyamorie und Philosophische Praxis, Stuttgart 2012, 72-94, hier besonders 77f.
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