Wir „feiern“ 1700 Jahre Konzil von Nizäa, so verrät uns die theologische Landschaft. Andreas Krebs fragt, was uns Nizäa eigentlich erklärt. Und was vielleicht auch nicht.
Ein Irritationsmoment
„Nizä-was?“ Ich bin in Begleitung meines Konferenz-Rollkoffers zum Sport gekommen. Mit einer kleinen Gruppe bunt zusammengewürfelter Menschen habe ich gerade ein schweißtreibendes Workout durchgestanden. Wir sitzen noch ein wenig zusammen und genießen gemeinsam das träge Hochgefühl, mit dem der Körper solche Anstrengungen belohnt. Die Unterschiede, die unsere „normalen“ Leben voneinander trennen, sind in diesem Augenblick belanglos. Doch mein Rollkoffer wartet. Wohin es denn gehe, werde ich gefragt. Zu einer Tagung. Über Nizäa, das Jubiläum.
Das „Nizä-was?“ klingt ratlos, aber freundlich. Man mag mich, obwohl ich einen seltsamen Beruf habe. Wir sind im Rheinland, noch sind viele hier getauft, hatten Religionsunterricht, sind zur Erstkommunion oder Konfirmation gegangen. Kirche ist trotzdem ein fremder Stern. Ich sage: Nizäa ist eine Stadt, die heute İznik heißt und in der Türkei liegt. Dort kamen vor siebzehnhundert Jahren Bischöfe zusammen, weil der römische Kaiser es so wollte. Sie formulierten ein Bekenntnis, nach dem Jesus Mensch und Gott sei. Gott kommt uns nahe und erlöst die Welt. Viele teilen diesen Glauben noch heute; auf der ganzen Welt verbindet er Christ*innen miteinander. Deshalb das Jubiläum… Mit jedem Satz klingen meine Worte brüchiger. Es wird still. Mir schießt durch den Kopf: Wer sind die vielen, die das glauben? Die Blicke, die sich auf mich richten, bleiben ratlos. Nun fühle ich mich wirklich wie ein Außerirdischer. Worum ging es nochmal in Nizäa? Ich weiß es selbst nicht mehr so richtig.
Wer sind die vielen, die das glauben?
Wer sich zwischen kirchlichen und anderen Bubbles hin- und herbewegt, kennt solche Irritationsmomente. Es gibt da einen Perspektivenwechsel: Ich sehe, was mir selbstverständlich scheint, durch die Augen der anderen, und das Vertraute wird mir plötzlich fremd. Diese Irritation will ich hier zum Ausgangspunkt machen. Aus den kirchlichen Bubbles und für die kirchlichen Bubbles wurde in diesem Jahr zu Nicäa schon einiges gesagt. Dass die übrigen Bubbles dafür wenig Interesse zeigen, kann man nur zur Kenntnis nehmen. Doch über Grenzgänger*innen wird wenig gesprochen. Als einer der ihren denke ich über Nizäa nach. Ich kenne die kirchliche Sprache. Ich kann auch erklären, was die Lehre bedeuten soll, dass Jesus Mensch und Gott sei. Doch wem erklären die Erklärungen noch etwas? Und was erklären sie mir?
Bruchstellen
In Lehrbüchern der Dogmatik heißt es: Jesus sei in allem Mensch wie wir gewesen und zugleich viel mehr als das – so würden es schon Texte des Neuen Testaments bezeugen. Sie würden andeuten, dass Jesus Christus schon vor seiner Geburt bei Gott gewesen sei (Phil 2,6; Kol 1,15); er sei das fleischgewordene Wort Gottes (Joh 1,14). In diesen Motiven sei die Überzeugung angelegt: Gott selbst werde in Jesus Mensch. Genau das drücke das Bekenntnis von Nizäa aus – in einer Sprache, die es der griechischen Philosophie entlehne: Gott und Jesus Christus seien „homoousios“, „wesensgleich“. In den Gottesbegriff werde damit eingetragen, dass Gott berührbar sei; nichts Menschliches sei Gott fremd. Im Kern gehe es darum, dass Gott selbst uns aus der Gottferne erlöse: Echte Erlösung sei nur denkbar, wenn die Trennung zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus überwunden sei.
Tragen diese Erklärungen noch?
Doch tragen diese Erklärungen noch? Als Theologe kenne ich die Bruchstellen in der zugrundeliegenden Gedankenkette. Worum es bei „Erlösung“ gehen könnte, ist den meisten nachvollziehbar, denn dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, ist eine verbreitete Empfindung. Aber warum braucht es eine Menschwerdung Gottes? Hat denn das Auftreten Jesu, das die Menschwerdung Gottes gewesen sein soll, etwas gebracht? Ist die Welt seitdem besser geworden? Sind wenigstens die Kirchen besser als die Welt? Nach alldem sieht es überhaupt nicht aus. Wer zudem sagt, man könne „echte“ oder „volle“ Erlösung bloß denken, wenn Gott wesensgleich mit dem Menschen Jesus sei, spricht Nicht-Christ*innen damit umgekehrt ab, „echte“ oder „volle“ Erlösung überhaupt denken zu können. Nicht nur die vermeintliche Tatsache, schon den korrekten Begriff von Erlösung hätten Christ*innen dann exklusiv für sich gepachtet. Was könnte sie darin rechtfertigen, solch einen steilen Anspruch zu erheben? Die Bilanz ihres oft weder erlösten noch erlösenden Handelns jedenfalls nicht. Und braucht es die Wesensgleichheit, um darauf vertrauen zu können, dass Gott am Schicksal der Menschen Anteil nimmt? Kann sich also, wer die Wesensgleichheit nicht teilt, Gott nur als fernes, teilnahmsloses Wesen vorstellen? Auch das leuchtet nicht ein.
Was könnte sie darin rechtfertigen, solch einen steilen Anspruch zu erheben?
Nun berufen sich Christ*innen auf die Bibel. Allerdings verschleiert die elegante Formel, die Aussage der Wesensgleichheit sei in der Schrift schon „angelegt“, dass sie aus der Schrift eigentlich nicht begründbar ist. Einige spätere Texte des Alten Testaments setzen sich mit der Frage auseinander: Wie kann sich Gott in der Welt zeigen – in der Schöpfung, in der Thora –, ohne in der Welt aufzugehen? Dieses Problem führt zur Personifikation einer Mittlergestalt, der Weisheit. Im Buch der Sprüche (Spr 8, 22–36) erscheint sie als erstes Geschöpf Gottes, von Gott geboren; sie assistiert Gott bei der Erschaffung der Welt und leitet die Menschen zum guten Leben an. In den synoptischen Evangelien tritt Jesus als Gesandter dieser Weisheit auf. Mit ihr verbundene Funktionen und Motive können auch auf Jesus selbst übertragen werden (Mt 11–13). Das Johannesevangelium knüpft ebenfalls an die Theologie der Weisheit an, ersetzt den Begriff der Weisheit allerdings durch den des Wortes (Joh 1,1–14). Auch die Christushymnen, die im Philipper- und Kolosserbrief zitiert werden (Phil 2,5–11; Kol 1,15–20), sind am zwanglosesten im Rahmen der Weisheitstheologie verstehbar. Ihre Begriffe und Bilder rücken Jesus Christus sehr nah an Gott heran, gehen jedoch nie so weit, sein Wesen mit dem Wesen Gottes gleichzusetzen. Erst Nizäa unternimmt diese Kühnheit.
… dass die Andersdenkenden verstummen müssen …
Eine verbreitete Kritik nimmt dies zum Anlass, in der Wesensgleichheit einen Sieg der griechischen Philosophie über die Bibel zu erblicken. Allerdings wäre das ein seltsamer Sieg gewesen. In der damals führenden Philosophie, dem Neuplatonismus, ging man davon aus, dass es zwischen dem göttlichen Einen und der Vielheit dieser Welt so etwas wie metaphysische Schichten gebe, die das Eine mit dem Vielen vermitteln. Das göttliche Eine unvermittelt mit einer konkreten Person für wesensgleich zu erklären ist für den Neuplatonismus ein Unding – eine Art ontologischer Kurzschluss. Nicht allein über die Bibel, sondern auch über die Philosophie ging Nizäa also entscheidend hinaus! Übrigens verband Arius – der Presbyter aus Alexandria, der stellvertretend für viele Gegner*innen dieser Lehre stand – die biblische Weisheitstheologie eben mit dem neuplatonischen Schichtenmodell. Das war zumindest nicht dumm. Könnten wir lesen, was Arius selbst geschrieben hat, wäre vielleicht ein Autor zu entdecken, der sich redlich um ein schrift- und vernunftgemäßes Glaubenszeugnis mühte. Fast alle seiner Texte sind jedoch verloren; was er dachte, kann nur indirekt erschlossen werden. Das Konzil von Nizäa war nicht bloß das Diskurs-Ereignis, als das manche es im Rückblick idealisieren. Es hat Andersdenkende ausdrücklich verdammt. Daraus wurde abgeleitet, dass die Andersdenkenden verstummen müssen, ihre Schriften zu verschwinden haben – was nicht sofort, aber doch nach einiger Zeit gelang.
Eine Antwort auf Erlösungszweifel?
Nicäa ging also mit der Wesensgleichheit sowohl über die Bibel als auch über die Philosophie hinaus – und schuf damit ein Paradox, das die christliche Theologie seitdem beschäftigt. Jesus Christus ist Gott, aber auch Mensch („wesensgleich mit uns“, wie das Konzil von Chalzedon 451 das „wesensgleich mit Gott“ ergänzt). Wie soll man das denken? Man kann ein Paradox nicht denken. Manche christliche Theologien sehen darin ein Geheimnis, in das man sich versenken kann; oder einen Widerspruch, in dem die Widersprüche der Geschichte – oder die Widersprüche menschlicher Existenz – aufgehoben und überboten sind; oder einen theologischer Problemstand, hinter den man nicht zurückdarf. Viellicht ist das Paradox aber auch bloß ein Paradox.
Wie soll man das denken? Man kann ein Paradox nicht denken.
Umso erklärungsbedürftiger wird, warum es zur Herausbildung dieses Paradoxes kam, obwohl weder die Bibel noch die Philosophie zwingende Gründe dafür gaben. Dazu will ich eine Vermutung wagen. Für Befürworter*innen der Wesensgleichheit spielte das soteriologische Argument – man könne Erlösung nur denken, wenn Jesus Mensch und Gott sei – eine wichtige Rolle. Als Argument überzeugt es mich, wie gesagt, nicht. Aber vielleicht hatte es den Hintergrund, dass man sich schon damals der Erlösung nicht mehr völlig sicher war. Auch im 4. Jahrhundert nach Christus konnte man fragen, warum die Welt noch immer von Verbrechen, Leid und Tod gezeichnet ist: Warum hat sich die erwartete Neuwerdung der Schöpfung nicht vollzogen? Die Behauptung der Göttlichkeit Jesu kann man als Abwehr dieses Zweifels deuten: Wer Jesus Christus für wesenseins mit Gott erklärt, sichert die Erlösungshoffnung maximal gegen jeden Zweifel ab. Mag die Realität auch anders aussehen – dass Jesus Christus uns tatsächlich erlösen kann, uns irgendwie schon erlöst hat und in jedem Fall noch erlösen wird – all das scheint so sicher wie möglich, wenn Jesus im Wesen niemand anderes als Gott ist. Jesu Göttlichkeit wird zur Garantie der christlichen Heilszusage, gegen alle gegenwärtige Erfahrung.
Wer Jesus Christus für wesenseins mit Gott erklärt, sichert die Erlösungshoffnung maximal gegen jeden Zweifel ab.
Erlösungszweifel können auch in Form der Weltflucht auftreten. Es gab auch Gruppen, die ein Bild von Jesus als transzendenter Wesenheit zeichneten. Dreihundert Jahre nach seinem Auftreten war die Welt noch immer voller Schrecken und Aussichtslosigkeit: Da lag es nahe, die Erlösungshoffnung ins Jenseitige und Geistliche zu verlegen. Die leibliche Welt wurde verabschiedet, um die Heilserwartung ins Überweltliche zu retten. Hiergegen richtet sich das Beharren darauf, dass Jesus Christus auch ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Auf diese Weise bürgt seine Gestalt dafür, dass Erlösung nicht bloß geistlich ist, sondern auch eine leibliche und geschichtliche Dimension besitzt. Das Bekräftigen der vollen Menschlichkeit Jesu sichert die Hoffnung, dass die Welt als Ganze in das Heilsgeschehen einbezogen bleibt.
In dieser Perspektive wäre das eigentliche Problem der nizänischen Christologie eine angefochtene Erlösungshoffnung. Das Reich Gottes war noch immer nicht gekommen, sollte man aufgeben? Das Nizänum lässt sich da als doppelte Rettungsstrategie verstehen: Jesu Göttlichkeit bewahrt den Glauben an die Wirklichkeit der Erlösung gegen die Erfahrung einer unerlösten Welt. Jesu Menschlichkeit hingegen verbürgt Erlösung für die gesamte Schöpfung. Die Gott-Menschlichkeit Jesu bewahrt die christliche Verheißung also gegen zwei verschiedene Anfechtungen – gegen die Enttäuschung über ihr Ausbleiben; und gegen die resignierte Verlagerung ins Jenseits.
Hoffnung ohne Garantien
In dieser Deutung rücken mir die Aussagen des Nizänums wieder etwas näher. Denn ich höre nicht nur Vergewisserung darin, sondern auch Zweifel, in denen meine eigenen Zweifel einen Resonanzraum finden. Was bedeutet es für das Christentum eigentlich, auch 1700 Jahre nach dem Konzil von Nicäa noch immer darauf zu warten, dass die so energisch bekräftigte und garantierte Erlösungszusage sich erfüllt? Die heutige Lage ist ja immer noch nicht besser! Irgendwie ist doch auch begreiflich, dass nicht nur die Menschen, mit denen ich Sport mache, mit diesen Dingen nichts mehr anzufangen wissen. Vor ihnen die hergebrachten Formeln vollmundig zu wiederholen, ist keine Option. Ihre Skepsis und ihr Unverständnis spüre ich auch in mir selbst. Ja, ich möchte die theologischen Kühnheiten und Paradoxien der Vergangenheit weiterhin bedenken und würdigen, aber ich möchte auch akzeptieren, dass sie im Moment nicht weiterhelfen – ganz sicher nicht dabei, den christlichen Glauben anderen zu erklären, und zumindest mir auch nicht dabei, ihn mir selbst zu erklären. Stattdessen möchte ich eingestehen, dass die christliche Hoffnung prekär ist. Dass sie ein Wagnis ohne Garantien ist. Und dass sie trotzdem – obwohl ich es nicht erklären kann – auch meine Hoffnung ist.
Prof. Dr. Andreas Krebs ist Professor für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie am Alt-Katholischen Seminar der Universität Bonn.
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