Der Ausgang des Brexit-Referendums war eine große Überraschung. Besonders das europäische Festland blickt mit Unverständnis nach Großbritannien. Martin Ott lebt in Lincoln/UK. Anhand kultureller und historischer Überlegungen hilft er die gesellschaftliche Dynamik auf der Insel besser zu verstehen.
Im Frühjahr dieses Jahres stand ich an der Kasse eines Supermarktes in Lincoln. Die Kundin vor mir wollte zwei Päckchen Paracetamol kaufen, was ihr von der Verkäuferin bzw. vom automatisierten Verkaufscomputer verwehrt wurde, der beim Scannen der zweiten Schachtel Alarm schlug. Auf Nachfrage der Kundin erklärte die Verkäuferin, daß es illegal sei, zwei Päckchen zu verkaufen, da könne sie nichts machen. Ich legte das zweite Päckchen Paracetamol auf die andere Seite des Trennhölzchens, bezahlte 30 Pennies (ca. 40 Cent) und reichte die zweite Packung vor den Augen der Verkäuferin an die erleichterte Kundin weiter. Als ich schließlich meinen eigentlichen Einkauf bezahlt hatte, fragte ich die Verkäuferin, was denn das für ein Gesetz sei, das den Verkauf von Paracetamol so strikt regulierte. “I am not sure, but I think it is one of these EU regulations!”, antwortete sie entschuldigend. Ich wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen und machte mich an die Recherche. Den Verkauf von Medikamenten im Vereinigten Königreich regeln die Verordnungen des „Medicines Act” der Britischen Regierung aus dem Jahre 1968 und seinen Ergänzungen in den Folgejahren. Verordnungen, Richtlinien und sonstige Rechtsakte der Europäischen Union spielen keine Rolle.
Die kleine Geschichte demonstriert, was viele Teile der Bevölkerung in Großbritannien über die Europäische Union denken: „Die in Brüssel“ sind verantwortlich für Bürokratie, Ineffizienz und Bevormundung. Ohne genaue Faktenprüfung, fast schon reflexartig, ist die EU schuld an den (zu) vielen Ausländern im Land und die Verschwendung von Steuergeldern; sie ermöglicht Deutschland und Frankreich anderen Ländern ihre politischen und wirtschaftlichen Agenden aufzuzwingen. Man ist nicht mehr Herr im eigenen Haus und hat genug von der Fremdbestimmung aus Brüssel.
„better the devil you know than the devil you don’t“ – aber es kam alles ganz anders.
Der Ausgang des Referendums am 23.6.2016 war dennoch für (fast) alle eine Überraschung. Selbst Politiker wie Nigel Farage und Boris Johnson hatten nicht mit einem Sieg der Leave Campaign gerechnet. Zu oft in der Geschichte Englands siegte am Ende einer politischen Auseinandersetzung ein konservativer Pragmatismus, der Risiken scheut und dem Bekannten den Vorzug gibt („better the devil you know than the devil you don’t“). Aber es kam alles ganz anders.
Drei Monate nach dem Referendum sind die Konsequenzen des Brexit immer noch nicht abzusehen. Es ist nicht klar, wann genau die britische Regierung den Austrittsantrag laut Artikel 50 des EU-Vertrages stellen wird. Das Referendum allein hat ja keine Rechtsbindung und manche „Bleiber“ hoffen auf eine Blockade im Parlament oder auf eine Verzögerungsstrategie der Regierung. Es ist nicht klar, welche Themen und Verträge überhaupt verhandelt werden sollen. Was wird aus der UK-Mitgliedschaft in der Europäischen Zollunion? Behält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Jurisdiktion? Wie werden die Mitglieder der EU verhandeln, insbesondere die Mitglieder der Visegrád Gruppe? Es ist nicht klar, wer überhaupt verhandeln soll, da in den vergangenen 30 Jahren alle derartigen Verträge von Brüsseler Beamten verhandelt wurden und es im Königreich keine Experten für internationale Verträge mehr gibt. Es ist nicht klar, welche wirtschaftlichen Konsequenzen Großbritannien und die EU, aber auch die europäische Finanzwirtschaft erwarten. Es ist nicht klar, wie sich die Finanz- und Wirtschaftsmetropole London entwickeln wird (manche träumen von einem Verbleib Londons in der EU).
Keiner wollte und konnte die Verantwortung übernehmen.
Die Wochen und Monate seit dem 23. Juni haben im Königreich ein politisches Erdbeben ausgelöst. Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse hat man den Eindruck unmittelbarer Zeitzeuge eines geschichtlichen Umbruchs zu sein. Der Rücktritt Camerons war „irgendwie“ konsequent, hat aber auch dazu beigetragen, die politische Verantwortung des englischen Premierministers aus dem Blick- und Schußfeld zu nehmen; angesichts des grassierenden Populismus in UKIP und unter den Torries war es dumm und blanker Irrsinn (sorry – da gibt es für mich kein anderes Wort) eine so komplizierte Frage wie die Mitgliedschaft in der EU mit einem einfachen Ja oder Nein abstimmen zu lassen. Als Cameron seine Rücktrittserklärung vor der Downing Street Nr. 10 verlesen hatte, drehte er sich um und kehrte – eine Melodie summend – in seinen Amtssitz zurück. Ist Cameron doch der typisch englische Dandy, der in Eton er- und verzogen, dem Gemeinwesen, das er soeben in seine größte Nachkriegskrise gestürzt hatte, nun gutgelaunt und ohne Reue Adieu sagen kann? Fast im Stundenrhythmus kamen die Nachrichten vom Ende der politischen Karrieren von Boris Johnson, Michael Gove und Nigel Farage („The Three Brexiteers“). Plötzlich waren nach dem Referendum die führenden Köpfe beider Lager verschwunden. Keiner wollte und konnte die Verantwortung übernehmen, das Land war führungs- und orientierungslos – ein Abbild der tatsächlichen Situation im Land.
Die “Leave”-Kampagne war mit einem roten Bus unterwegs, der folgende Aufschrieb trug: “We send the EU £350m a week – Let’s fund our NHS instead – Vote leave – Let’s take back control”. Am 24.Juni, ein Tag nach dem Sieg der Leave Campaign verkündete UKIP Leader Nigel Farage: “Es war ein Fehler zu versprechen, daß die 350 Millionen Pfund, die per Woche nach Brüssel überwiesen werden, dem nationale Gesundheitssystem zugute kommen.” Die Gelder könnten nicht zugesagt werden und er habe dieses Versprechen auch nie gemacht. Es wäre interessant zu wissen, wieviele Wählerinnen und Wähler gerade wegen diesem Versprechen mit „Leave“ gestimmt hatten! Das englische Pfund verlor 10% an Wert und kostete erstmals seit 1985 weniger als 1,30 US-Dollar. Der Schock im Lande war riesig; den Menschen dämmerte es zum ersten Mal, dass die Entscheidung tatsächlich neue Fakten geschaffen hatte und was da womöglich auf sie zukommen könnte.
Aber England gehört doch zu Europa!“ seufzen die anglophilen Deutschen.
Wann immer ich in Deutschland bin, sprechen mich Freunde und Geschäftspartner auf den Brexit an. Sie verstehen nicht, warum die Engländer so dumm sein können, die EU zu verlassen; sie sind verärgert und entrüstet über den Egoismus auf der Insel, der immer nur die eigenen nationalen Vorteile („What is the best deal for UK“), nie aber gesamteuropäische Interessen im Blick hat. „Aber England gehört doch zu Europa!“ höre ich die enttäuschten anglophilen Deutschen seufzen.
Die Gründe für die Brexit-Entscheidung der Engländer sind divers und nicht auf einen Nenner zu bringen. Man sollte auch nicht vergessen, wie knapp die Entscheidung war: 51,9% oder 17,410,742 Stimmen für “Leave”, 48,9% oder 16,141,241 Stimmen für “Remain”. Die “splendid isolation” (“wunderbare Isolation“) war vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts eine Konstante britischer Außenpolitik, um durch Nicht-Beteiligung an dauerhaften Allianzen den Ausbau der überseeischen Kolonien voranzutreiben. Die englische Historikerin Linda Colley markiert den Beginn des englischen protestantischen Empire unter Oliver Cromwell (gegen das katholische Römische Reich Deutscher Nation auf dem Kontinent) mit einem klaren anti-europäischen und anti-katholischen Affront. Cromwells Begriff des „Empire “ wäre damit nicht sehr weit entfernt von der Idee der „Souveränität“, die Brexitkämpfer gegen die Europäischen Kommission im 21. Jahrhundert setzen; der Erzfeind Katholische Kirche erscheint sozusagen im Gewand der Kommission in Brüssel. Das Erbe und die Botschaft Cromwells an die Briten von heute ist: Regelt eure Angelegenheiten selber!
„Vorsprung durch Technik“ ist der Satz in Deutsch, den jeder Engländer kennt.
Mehr als in anderen europäischen Ländern bezieht Großbritannien seine Identität aus den zwei Weltkriegen, die sie gegen Deutschland gewonnen hat. Es vergeht fast keine Woche, in der nicht öffentlich und mit viel Presse irgendeines Kriegsereignisses gedacht wird. Die Tatsache, daß heute in der EU der Verlierer den Sieger dominiert, ist ein Stachel im Fleisch des Engländers, der tiefer sitzt als man sich das selbst eingestehen will. Die Audi-Werbung „Vorsprung durch Technik“ ist der Satz in Deutsch, den jeder Engländer kennt. Die britische Industrie hat seine Automobilindustrie fast vollständig an die Deutschen und andere Ausländer verloren: (Mini, Rover und Rolls Royce an BMW, Bentley an VW, Jaguar, Aston Martin und Land Rover gehören zu Ford). „Vorsprung durch Technik“ ist das von der Werbung jeden Tag wiederholte Mantra von der Minderwertigkeit der Briten gegenüber den Deutschen. Und das, obwohl die Briten sich doch allen anderen Nationen und Kulturen gegenüber als „morally superior“ empfinden.
Ich bin mir selbst nicht sicher, ob und wie diese historischen oder kulturellen Überlegungen wirklich beitragen die augenblickliche gesellschaftliche Dynamik auf der Insel zu erklären. Der Erfolg der Leave Kampagne beruhte darauf, daß sie mit den Themen Ausländer und Selbstbestimmung den öffentlichen Nerv getroffen hat. EU-Bürger im Land, Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea, britische nicht-weiße Staatsbürger aus den ehemaligen Kolonien, alle wurden in den einen Ausländertopf geworfen und die Angst vor Überfremdung geschürt. Frustrationen über den Verlust der Souveränität, als z.B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Urteil eines englischen Gerichts bzgl. der Auslieferung eines islamischen Extremisten überstimmt hatte, werden der EU angelastet und zum Dauerzustand hochstilisiert (obwohl Beitritt zum und Mitgliedschaft im EGMR nichts mit der EU zu tun haben). Seriöse Bild- und Printmedien haben sich auch um Sachlichkeit und Informationsvermittlung bemüht, aber es war im Ganzen doch eine emotionale und hoch ideologisierte Debatte. Die Attacke Boris Johnsons auf Barak Obama (seine kenianische Abstammung und seine – deswegen – antibritische koloniale Attitude) hat am deutlichsten gezeigt, wie der Rat des mächtigsten Mannes der Welt mit billigen populistischen Sprüchen lächerlich gemacht wurde. Die Briten nahmen die Außenwahrnehmung und die Außenwirkung ihres Referendums nicht zur Kenntnis, weder die Wählerinnen und Wähler noch die Politikerinnen und Politiker. Die oft in Frankreich und Deutschland vorgetragene Überlegung, daß die europäische Integration eine aus leidvoller Erfahrung gewonnene Überzeugung ist und krisen- und kriegspräventiv wirken soll, spielt in England keine Rolle. Die Kirchen positionierten sich vorsichtig auf der „Remain“-Seite, aber ihre Stimmen hatten wenig Einfluss auf den öffentlichen Diskurs.
Was ist die Vision für eine „kleine Insel am Rande Europas“?
Wie geht es weiter? Je nach politischem Gusto und persönlicher Präferenz können alle möglichen Szenarien durchgespielt werden. Irgendwie wird es natürlich immer weitergehen, Großbritannien wird eine Industrienation bleiben und im politischen und wirtschaftlichen Austausch mit Europa stehen. Aber das politische System muss nun auch innenpolitische Herausforderungen annehmen, die durch die Brexit-Krise deutlicher zu Tage treten: das Fehlen einer Verfassung, das mögliche Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreiches, die Verschiebungen im Commonwealth, das Wahlsystem, das Gesundheitssystem, der Umbau der Wirtschaft. Welche Vision haben britische Politikerinnen und Politiker nach dem Brexit für ihre „kleine Insel am Rande Europas“? Es muss sich erst noch erweisen, ob und wie das Vereinigte Königreich (oder das, was von ihm übrig bleibt) sich für das 21. Jahrhundert fit macht.
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Dr. Martin Ott arbeitet freiberuflich als Autor und Berater für Führungskräfte in der Industrie und in der Entwicklungszusammenarbeit. Nach beruflichen Engagements in Deutschland, Malawi, Senegal und Großbritannien lebt er heute mit seiner Familie in Lincolnshire/UK.
Bild: Heike, pixelio.de