Tarek El-Sourani plädiert dafür, dass sich MuslimInnen konstruktiv mit ihrer lebendigen geistesgeschichtlichen Tradition auseinandersetzen. Dies trägt auch zum guten Zusammenleben zwischen MuslimInnen und NichtmuslimInnen bei.
Einzige Reformoption: Liberale Modernisierung?
Längst haben sich zwei Losungen in den zu meist groben und hitzigen gesellschaftspolitischen Debatten über den Islam in Deutschland verdichtet. Der Ruf von zahlreichen JournalistInnen und KommentatorInnen angesichts der gewalttätigen Exzesse muslimischer TerroristInnen im globalen Dorf ist dabei einhellig: Reform und liberale Interpretation werden dem mörderischen Fieber Einhalt gebieten. Statt sich also über antimuslimsche Ressentiments zu beklagen, so der Tenor, sollten MuslimInnen sich endlich um die längst notwendige Modernisierung ihrer Religion bemühen.
Religiöse Traditionsbestände sind unverzichtbare Ressourcen für die innermuslimische Selbstreflexion.
Der auf dem ersten Blick verständliche Reflex verkennt aber kurzerhand, dass die vollständige Infragestellung religiöser Traditionsbestände die MuslimInnen von grundlegenden Ressourcen für die so wichtige innermuslimische Selbstreflexion abschneidet. Eben jene vielschichtigen und komplexen Traditionen, die von pluralen Rechtsmeinungen, über mehrdeutige Korankommentare, bis hin zu den großen ethischen Abhandlungen oder metaphysischen Betrachtungen reichen. Ein enormer geistiger Fundus, der sich über die Jahrhunderte angesammelt hat und dessen Tragweite in der Regel weder dem allgemeinen Muslim noch dem Außenstehenden bekannt ist.
Luther – ein wenig hilfreiches Reformvorbild
Gerade dann ist der fromme Wunsch nach Reformation wenig hilfreich, wenn er sich auf das Wirken und Denken Luthers bezieht. Schließlich ist die als Wahhabismus bekannt gewordene Erscheinung eine Reformbewegung, die mit ihrem traditionsfeindlichen, reformatorischen „Sola Scriptura“ den Ballast der jahrhundertealten Auslegungstraditionen bereinigen will. Zudem lässt er völlig die unterschiedlich gelagerten historischen Konstellationen der deutschen Fürstentümer im 16. Jahrhundert und der Gegenwart des 21. Jahrhundert außer Acht.
Nicht selten beschleicht einen das Gefühl, dass der reformatorische Ruf zur bloßen Parole geworden ist, um den kulturellen Besitz auf der einen und das Defizit auf der anderen Seite anzuzeigen. Ähnlich wie bei IslamistInnen aller Couleur verbirgt sich hinter der Vorstellung noch die Idee des Islam als eines abgeschlossenen und totalen Gefüges, statt das Bild einer lebendigen Religion. Leben ist Dynamik und Wandel. Eben das scheint den sogenannten Weltreligionen ohnehin zu eigen zu sein, angesichts ihrer stabilen historischen Kontinuität. Der Ruf tendiert aber auch zu einer wenig differenzierten geschichtlichen Wahrnehmung und der Missachtung maßgeblich islamwissenschaftlicher Befunde. Ein wichtiger Erklärungsansatz, vielleicht der sogar der schlüssigste, kommt von Orientalisten und Schriftsteller Navid Kermani:
„Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.“
Navid Kermani
Der liberale Standpunkt hingegen, der sich vollkommen von der heterogenen Tradition abgeschieden sieht, oder sich gar aus einer Fundamentalopposition zu ihr zu generieren versucht und dabei viel medialen Beifall und gesellschaftliche Unterstützung erhält, mag zwar für eine kleine Minderheit eine Option sein, aber auch ihm ermangelt es an lebendigen Bezügen zur muslimischen Geistesgeschichte.
Reform durch lebendige Traditionsbezüge
Dass die MuslimInnen ihre Tradition und Offenbarung argumentativ vermitteln, kritisch befragen und selbstreflexiv verantworten lassen müssen, ist einleuchtend und notwendig. Dabei sollten aber auch vor allem jene Gelehrten Beachtung finden, die zwar keine unverzügliche radikale Reform aufweisen, wohl aber jene Flexibilität und Anpassungsgabe besitzen, die den Weltreligionen zu eigen sein scheint. Denn nicht wenige traditionelle Gelehrte bemühen sich, zwar leise aber mindestens genauso kreativ, die autochthoneren Traditionen und Normen an moderne Anliegen und Ansprüche anzugleichen und damit das gute Zusammenleben zwischen MuslimImnen und NichtmuslimInnen zu ermöglichen. Bei allen berechtigen zivilgesellschaftlichen Forderungen an den religiösen Diskurs und die Haltung der MuslimInnen, sollte auf der anderen Seite die eigene religiöse Welt der MuslimInnen und damit ein eigener Weg zur ethischen Erneuerung zugestanden werden.
Tarek El-Sourani hat in Leipzig und Berlin Arabistik und Islamwissenschaft studiert.
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