Es gibt aktuell eine intensive Diskussion zur Rolle von Religionen, besonders des Islam, in der Öffentlichkeit. Konzentriert wird dies in der Debatte um den Islamismus. Bernhard Fresacher (Mainz) weist auf drei Fallen in der Diskussion hin.
Verbrechen wie in Wien, Nizza oder Dresden müssen aufgeklärt werden. So restlos wie möglich. Insbesondere angesichts der Plötzlichkeit, in der sie in eine Welt eingebrochen sind. Die Opfer haben ein Recht darauf, zu wissen: Warum? Ebenso die Angehörigen, alle Bürgerinnen und Bürger.
So berechtigt und notwendig der theologische Blick auf mögliche Ursachen in der Religion ist, so liegen in diesem zugleich einige Fallen.
Diese Aufklärung ist primär Sache der Staatsgewalt, der rechtsstaatlich legitimierten und kontrollierten Gewalt der Polizei, der Justiz, des Strafvollzugs. Da diese Verbrechen als islamistisch gekennzeichnet sind, mischen sich in diesen Vorgang zudem rasch Stimmen: Man müsse auch die Ursachen in der Religion benennen, um zukünftig zu verhindern, was gerade (wieder) unvorhergesehen passiert ist. Ohne falsche Tabus! Hierzu meldet sich auch die christliche Theologie zu Wort.
So berechtigt und notwendig der theologische Blick auf mögliche Ursachen in der Religion ist, so liegen in diesem zugleich einige Fallen. Drei davon will ich hervorheben. Sie kreisen um die Fragen: Was trägt tatsächlich zur Aufklärung bei? Und was arbeitet in Wirklichkeit der Ideologie dahinter zu?
Falle 1: Reduktion eines Menschen auf eine Identität: Mörder, Migrant, Islamist.
Mit der bewährten Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen (deren Trennung Voraussetzung ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit ist) kann man in die Falle tappen, die nach solchen Verbrechen nahezu automatisch zuschnappt, nämlich die Reduktion eines Menschen auf eine Identität: Mörder, Migrant, Islamist. Die nützliche Betrachtung aus einer Perspektive kann dazu führen, es damit zu belassen.
Wohin Stereotypisierungen dieser Art führen, wenn sie systematisch politisch und massenmedial betrieben werden, sehen wir gerade im Zusammenhang der US-Präsidentenwahl wie in einem Brennglas. Was vermeintlich das Zusammenleben vereinfacht, zerstört es in Wirklichkeit. Auf Polarisierungen in rechts und links, konservativ und liberal, weiß und schwarz, männlich und weiblich folgen Polarisierungen in diskriminierend und antidiskriminierend, rassistisch und antirassistisch, feministisch und antifeministisch, sexistisch und antisexistisch. In Jill Lepores Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika sind diese identitätspolitischen Stereotypisierungen hervorragend beschrieben. Sie sind erhellend für diese erste Falle der Ursachenforschung.
Falle 2: andere zum selbstkritischen Umgang mit den Ursachen in ihrer Religion aufzurufen, insbesondere mit dem Koran.
Eine zweite Falle lauert darin, andere zum selbstkritischen Umgang mit den Ursachen in ihrer Religion aufzurufen, insbesondere mit dem Koran. Die Täter seien schließlich radikalisierte Muslime (gewesen). Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, wirft mehrere Fragen auf, wenn dieser Appell von einer auf eine andere Religion gerichtet ist, von Christen an Muslime. Dabei fällt auf, dass man geneigt ist, Verbrechen von Anhängern anderer Religionen eher auf deren Religion zurückzuführen, während man diese im Fall der eigenen Religion eher der einzelnen Person zuschreibt. Man stößt auf denselben Reflex, die Tat als der eigenen Religion widersprechend zu qualifizieren. Wer sich mit einer solchen Tat auf den Koran berufe, verrate den Islam.
Wie schwer es den Kirchen fällt, selbstkritisch die Ursachen im System an den Wurzeln der eigenen Religion zu betrachten, zeigt sich bei der im Raum dieser Kirchen verbreiteten sexualisierten Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Auch die gewaltbeschreibenden und -verherrlichenden Texte der Bibel sind zwar Thema in den theologischen Diskursen, aber nahezu unbekannt in der Öffentlichkeit – im Übrigen im Unterschied zum Koran.
Falle 3: Man konfrontiert die Schwächen der anderen mit den eigenen Stärken, anstatt Schwächen mit Schwächen und Stärken mit Stärken zu vergleichen
Damit ist die dritte Falle aufgestellt. Man konfrontiert die Schwächen der anderen mit den eigenen Stärken, anstatt Schwächen mit Schwächen und Stärken mit Stärken zu vergleichen. Interreligiöse Dialoge werden nicht durch Belehrung, sondern durch Selbsterkenntnis gefördert. Den anderen Hausaufgaben zu erteilen, bewirkt das Gegenteil.
Zugleich beantwortet es nicht die Frage, wer denn diese Hausaufgaben erledigen soll. Wer absolviert sie? Wer prüft sie? Nach welchen Verfahren? Woran ist zu erkennen, dass eine selbstkritische Reflexion stattgefunden hat bzw. stattfindet? Religionen sind komplexe Gebilde und nicht mit den Individuen oder den Organisationen zu verwechseln, die sich ihnen zugehörig fühlen.
In der Regel richten sich solche Aufarbeitungsappelle an Organisationen, die sich selbst die Repräsentation von Muslimen, Juden, Katholiken, Protestanten oder anderen zuschreiben. Wie weit dabei die Vorstellungen auseinander gehen können, zeigt schon ein innerchristlicher Vergleich zwischen Katholizismus und Protestantismus. Zur Legitimation von Repräsentation genügt es nicht (mehr), sich auf subjektiv gewisse oder amtlich definierte Offenbarung zu berufen.
Die Kirchen sind ebenso wie alle Religionen auf Akzeptanz angewiesen, Optionen, die man auch alternativ wählen kann. Diese Lage rührt nicht primär aus den Religionen selbst, sondern aus den modernen gesellschaftlichen Rahmen, die unter anderem auch von staatlicher Seite gesetzt sind.
Religion, die eigene und die der anderen, für ein friedliches Zusammenleben der Menschen stark machen.
Moderne Rechtsstaaten mit ihrem Gewaltmonopol haben ein konstitutives Interesse am friedlichen Zusammenleben der Menschen. Aus der Geschichte wissen sie, dass die Religionen ein Unruheherd sind und dass sie zugleich auf diese Religionen angewiesen sind. Religionsfreiheit ist als ein hohes Gut anerkannt. Priorisierungen oder Kontrastierungen von Religionen tragen nicht zum Frieden bei.
Deshalb stehen neben Polizei, Justiz und Strafvollzug auch Schulen und Universitäten unter staatlicher Aufsicht. Der Religionsunterricht bspw. hat so gestaltet zu sein, dass er zum Frieden beiträgt, ebenso die Theologie.
Die Theologie sollte nicht Öl ins Feuer gießen, sondern Religion, die eigene und die der anderen, für ein friedliches Zusammenleben der Menschen stark machen. Es gilt, das Beste herauszuholen.
Wir Menschen dürfen uns von niemand auseinanderdividieren lassen. Identitätspolitische Sortiermechanismen welcher Art auch immer sind Einfallstore einer Gewalt, die staatlich unterbunden werden muss.
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Autor: Dr. Bernhard Fresacher ist bildungs- und kulturpolitisch tätig im Katholischen Büro Mainz – Kommissariat der Bischöfe Rheinland-Pfalz, sowie Titularprofessor für Fundamentaltheologie an der Universität Luzern.
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