John Kerry stößt die Debatte nochmals an: Ein- oder Zweistaatenlösung? Gregor Buß porträtiert die politische Lage und fragt, inwiefern ein jüdisch-demokratischer Staat überhaupt denkbar ist.
Ein Diplomat redet Klartext
Aufgrund einer Erkältung ist seine Stimme belegt, er atmet schwer, und dennoch hat man den amerikanischen Chefdiplomaten selten so entschlossen reden hören. In seiner letzten großen Rede als US-Außenminister will John Kerry nochmals auf das Thema zu sprechen kommen, das ihn während seiner vierjährigen Amtszeit am stärksten beschäftigt und vermutlich auch frustriert hat: der nicht enden wollende Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen. Seine kurz nach Weihnachten gehaltene Grundsatzrede, in der Kerry überraschend undiplomatisch spricht, erregt weltweit großes Aufsehen. Die Kernthese lautet: Nur eine Zweistaatenlösung bringt dauerhaft Frieden im Nahen Osten und garantiert Israels Existenz als jüdischer und demokratischer Staat. Einer Einstaatenlösung – also der Zusammenführung von Israel, Westbank und Gazastreifen in einem Staatsgebilde – müsste entweder der jüdische oder der demokratische Charakter des Staates Israel geopfert werden. Größtes Hindernis auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung sei der Siedlungsbau Israels, deshalb müsse dieser gestoppt werden. Wie nicht anders zu erwarten, stößt Kerrys Rede bei der israelischen Regierung auf Unmut. Für Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ist sein flammender Appell eine „große Enttäuschung“. Es stehe dem amerikanischen Außenminister nicht zu, Israel zu belehren. Kernproblem des Konflikts sei nicht der israelische Siedlungsbau, sondern die Tatsache, dass die palästinensische Seite Israel nicht als jüdischen Staat akzeptieren wolle.
Nur eine Zweistaatenlösung bringt dauerhauft Frieden, so Kerry.
Dieser Vorfall der letzten Tage hat noch einmal deutlich gemacht, wie verfahren die Lage im Nahostkonflikt ist. Eine Lösung scheint weiter entfernt denn je. Auf israelischer Seite wächst das Lager derer, die für eine Einstaatenlösung plädieren, auf palästinensischer Seite wächst der Widerstand gegen den jüdischen Charakter des Staates Israel und den expansiven Siedlungsbau. Kerrys Rede hat also nicht nur deshalb so viel Aufsehen erregt, weil er klare Worte gewählt hat, sondern auch, weil er an der Kernfrage des Staates Israel gerührt hat: Wie kann es auch in Zukunft gelingen, dass dieser Staat sowohl jüdisch als auch demokratisch ist?
Ein schwieriger Spagat
Die Frage der Vereinbarkeit bzw. des Gleichgewichts zwischen einer jüdischen und einer demokratischen Grundverfasstheit ist dem Staat Israel in die Wiege gelegt. Schon in der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 wird vom „jüdischen Staat im Land Israel“ gesprochen und zugleich den in Israel lebenden Araber*innen „volle bürgerliche Gleichberechtigung“ garantiert. Seither bildet der Spagat zwischen dem jüdischen und demokratischen Charakter eine der Grundübungen israelischer Politik. Derzeit wird dieser Spagat jedoch immer schwieriger, was sich anhand einiger Schlaglichter schnell verdeutlichen lässt: Der Zusammenbruch autoritärer Regime in Israels Nachbarschaft – Syrien, Irak, Ägypten, Libyen – hat der Weltöffentlichkeit nochmals deutlich vor Augen geführt, dass der jüdische Staat die letzte demokratische Bastion im Nahen und Mittleren Osten ist. Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Gerichte, politische Partizipation, Bekämpfung der Korruption – in all diesen Statistiken ist Israel weit führend in der Region. Gleichzeitig häufen sich in den letzten Jahren Versuche, stärker den jüdischen Charakter des Staates herauszustreichen. Seit 2014 gibt es in der Knesset, dem israelischen Parlament, Bemühungen, ein neues Grundgesetz zu verabschieden, das den jüdischen Nationalcharakter des Staates Israel zementieren soll. Seit 2015 gehört mit der Partei Jüdisches Heim eine explizit nationalreligiöse Kraft zur Regierungskoalition, darüber hinaus sind mit Vereinigtes Tora-Judentum und Schas zwei ultraorthodoxe jüdische Parteien an der aktuellen Regierung beteiligt. Es gibt eine wachsende Zahl an Übergriffen von Juden und Jüdinnen auf Nichtjuden und -jüdinnen in Israel, beispielsweise den Brandanschlag jüdischer Extremisten auf das deutschsprachige Benediktinerkloster Tabgha am See Genezareth im Sommer 2015. Anfang 2016 sorgte ein Schulbuchstreit in der israelischen Öffentlichkeit für Aufsehen. In einer Neuauflage eines weit verbreiteten Schulbuchs soll der jüdische Charakter des Staates Israel stärker hervorgehoben werden. Im Sommer 2016 verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das die Arbeit von regierungskritischen Organisationen weiter einschränkt. Zuletzt wurde ein Gesetzentwurf diskutiert, der den Einsatz von Lautsprechern an Moscheen eingrenzen soll.
Der Spagat zwischen dem jüdischen und demokratischen Charakter ist eine der Grundübungen israelischer Politik.
Das Israel Democracy Institute, eine unabhängige Forschungseinrichtung mit Sitz in Jerusalem, kommt daher in seinem diesjährigen Bericht zur Lage der Demokratie in Israel zu einem gemischten Ergebnis: Israels Demokratie stehe zwar nicht am Rande des Abgrunds, es gebe jedoch Hinweise auf eine schrittweise Veränderung „von einem liberal-demokratischen Ethos, das die Menschen- und Bürgerrechte betont, hin zu einem republikanisch-demokratischen Ethos, das Wert legt auf die Stärkung des ethnisch-jüdischen Charakters staatlicher Einrichtungen und der politischen Kultur“[1]. Besonders beunruhigt die Autor*innen, dass drei Viertel der arabischen Israelis den jüdischen Charakter ihres Staates ablehnen und gleichzeitig mehr als die Hälfte der jüdischen Israelis allen Mitbürger*innen das Wahlrecht entziehen würden, die gegen den jüdischen Charakter des Staates sind.[2] Von einer weiteren Zuspitzung der Debatte um die zugleich jüdische und demokratische Verfassung Israels ist also auszugehen.
Der Esel des Messias
Mit seinem Appell für eine Zweistaatenlösung hat John Kerry also den Finger in die Wunde gelegt. Will Israel die schwierige Balance zwischen jüdisch und demokratisch halten, muss es den Weg für ein selbständiges Palästina frei machen. Allein schon aufgrund demografischer Faktoren (in Israel leben derzeit etwa 6,2 Mio. Jüdinnen und Juden und 1,7 Mio. Araber*innen, in den Palästinensergebieten 4,7 Mio. Araber*innen) würde eine Einstaatenlösung entweder den jüdischen oder den demokratischen Charakter Israels beenden.
Balance zwischen jüdisch und demokratisch fordert selbständiges Palästina
Aus Sicht vieler Kommentator*innen kommt Kerrys Rede jedoch Jahre zu spät. Inzwischen haben sich die politischen Realitäten in Israel so weit nach rechts verschoben, dass die Brandrede des Außenministers nicht mehr als Wiederbelebungsversuch, sondern als „Grabrede auf die Zweistaatenlösung“ (so Peter Münch, Israel-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung) in die Geschichte eingehen wird. Auch israelische Kommentator*innen sehen die zunehmende Verschmelzung von Religion und Politik mit großer Sorge. Uri Misgav von der liberalen Tageszeitung Haaretz, zum Beispiel, wähnt Israel bereits auf dem Weg in die Theokratie.[3] Für ihn scheint sich allmählich zu bewahrheiten, was nationalreligiöse und ultraorthodoxe Stimmen im Judentum schon vor Jahrzehnten prophezeit und ersehnt haben: Der liberal-demokratische Staat Israel ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur messianischen Zeit, er ist der Esel, auf dem der Messias reitet.[4]
Ethnische Demokratie?
Andere jüdische Intellektuelle sind weniger pessimistisch als Uri Misgav. Aus ihrer Sicht kann die Quadratur des Kreises durchaus gelingen und Israel auch in Zukunft seinen jüdischen und demokratischen Charakter bewahren. Der in Haifa lehrende Soziologe Sammy Smooha hat beispielsweise das Konzept einer ethnischen Demokratie entwickelt und im Staat Israel den Prototypen dieser Regierungsform ausgemacht.[5] Eine noch prominentere Stimme ist Moshe Halbertal, Religionsphilosoph an der Hebräischen Universität in Jerusalem, der zwischen den verschiedenen Bedeutungen von jüdisch zu unterscheiden versucht. Auch er sieht Israel in der Gefahr, in einen Religionsstaat oder einen extremistischen Nationalismus abzudriften, wenn einzig der religiöse oder ethnische Gehalt des Wortes jüdisch hervorgehoben wird. Für ihn birgt jüdisch aber auch eine kulturelle Dimension. Wie alle anderen demokratischen Nationalstaaten weise Israel eine bestimmte kulturelle Prägung auf und habe ein Recht auf diese Kultur.[6] Insofern bilde Israel nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In der in Deutschland immer wieder aufflammenden Leitkulturdebatte würde er womöglich eine Bestätigung seiner Auffassung sehen.
Kulturelle Prägung bei ethnischer Neutralität?
Ist damit die Quadratur des Kreises gelungen? Weisen die Vorschläge von Smooha und Halbertal einen gangbaren Weg? Zum einen ist klar, dass beide Konzepte nur unter der Bedingung einer Zweistaatenlösung realisierbar wären. Zum anderen stellt sich aber selbst im Falle einer Zweistaatenlösung weiterhin die Frage, ob sich Israels ethnische Demokratie bzw. Recht auf Kultur tatsächlich mit anderen liberalen Demokratien des Westens gleichsetzen lässt. Auch hier werden von jüdischer Seite große Zweifel angemeldet. Omri Boehm, der an der New School for Social Research in New York lehrt, wendet gegen Halbertal ein, dass ein demokratischer Staat kulturell zwar nicht neutral sein müsse, ethnisch jedoch sehr wohl – und dies sei in Israel nicht gegeben. Insofern sei der Zionismus mit humanistischen Werten nicht vereinbar.[7] In dieselbe Kerbe schlägt die Soziologin Eva Illouz von der Hebräischen Universität, wenn sie in ihren Essays und Kolumnen daran erinnert, dass sich in einer liberalen Demokratie der Staat „nicht mit einer religiösen oder ethnischen Gruppe identifizieren sollte“[8] und Israel folglich davon profitieren würde, wenn es sich stärker „auf die universalistischen Stränge der jüdischen Tradition besinnen“[9] würde.
Diese kurzen Einblicke in die unterschiedlichen Positionen machen deutlich, dass die Diskussion um den besonderen Charakter des Staates Israel vermutlich nicht so schnell abebben wird. Angesichts einer zunehmenden nationalreligiösen Prägung des Landes bleibt zu hoffen, dass der Esel des Messias nicht so schnell ins Stolpern gerät. Ab dem 20. Januar, dem ersten Tag nach dem Amtsende von John Kerry, werden ihm sicherlich neue Steine in den Weg gelegt.
Gregor Buß ist Fellow der Martin Buber Society und unterrichtet an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
[1] The Israel Democracy Institute: Israeli Democracy Index 2016, S. 26.
[2] Ebd., S. 17.
[3] Vgl. Uri Misgav: „Israel, on the Road to Theocracy“, in: Haaretz, 22.12.2015.
[4] Vgl. hierzu das gleichnamige Buch von Seffi Rachlevsky: HaMoro shel Mashiah (hebr.), Tel Aviv 1998.
[5] Sammy Smooha: „The model of ethnic democracy: Israel as a Jewish and democratic state“, in: Nations and Nationalism 8 (2002), Nr. 4, S. 475-503.
[6] Vgl. Moshe Halbertal: „Hatitkan medina jehudit demokratit?“ (hebr.; dt.: Kann es einen jüdisch-demokratischen Staat geben?“), in: Haaretz, 27.04.2013. – Vgl. außerdem ders. und Avishai Margalit: „Liberalism and the Right to Culture“, in: Social Research 61 (1994), Nr. 3, S. 491-510.
[7] Vgl. Interview mit Omri Boehm im Deutschlandfunk: „Zionismus nicht vereinbar mit humanistischen Werten“, 08.02.2015, abrufbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/philosoph-omri-boehm-zionismus-nicht-vereinbar-mit.1184.de.html?dram:article_id=306399
[8] Eva Illouz: „Ist Israel zu jüdisch?“, in: dies., Israel. Soziologische Essays, Berlin 2015, S. 46-62, hier S. 49.
[9] Ebd., S. 59.
Foto: Gregor Buß