Wie wird die Macht von liturgisch Leitenden konzipiert? Wo ist sie notwendig? Wo wird sie überstrapaziert? Eindrücke von Studierenden aus einem digitalen ökumenischen Seminar zu „Macht und Liturgie“.
Ordnung ist das halbe Leben, besagt das alte Sprichwort. Egal, wie sehr ich mich früher als wenig ordnungsliebendes Kind darüber ärgerte, musste doch auch ich einsehen, dass etwas dran war. Ein Zimmer, in dem man die Spielsachen tatsächlich fand, in dem man nicht fürchten musste, die Playmobilfiguren ausversehen zu zertreten, sondern stattdessen Platz hatte sie zu arrangieren, war halt doch wesentlich besser zum Spielen geeignet als eines, in dem das blanke Chaos herrschte.
Gott lässt seine Macht walten, und aus dem Chaos wird Ordnung
Wir brauchen ein gewisses Maß an Ordnung. Sie schafft Raum zu handeln, uns zu entwickeln, ja, überhaupt zu leben. Nicht von ungefähr beschreibt der erste Schöpfungsbericht Gottes ersten Akt als Kampf gegen das Tohuwabohu. Gott lässt seine Macht walten, und aus dem Chaos wird Ordnung, und aus der Leere Lebensraum. Die göttliche Macht offenbart sich als ordnungsstiftendes und erhaltendes Moment, welches Leben ermöglicht und stützt. Schon ganz am Anfang gilt also: Um Ordnung zu schaffen braucht es Macht. Macht erst ermöglicht es, dass Räume entstehen in denen wir geordnet leben und handeln können – und auch feiern. Die Liturgie versucht dabei zu helfen, genau so einen Raum im Gottesdienst zu schaffen – und auch sie benötigt dabei stets Macht.
(Christine Fiedler)
Macht-Begriffe
Auf den ersten Blick ist der Begriff Macht oft negativ besetzt und steht in Verbindung zu Gewalt. Auf den zweiten Blick ist er weit vielschichtiger: Er beschäftigt Sozial- und Politikwissenschaft, Philosophie und Psychologie, genauso wie Literatur- und Wirtschaftswissenschaft und nicht zuletzt die Kunst! Ein wirklich interdisziplinärer Begriff. Deshalb ist es schwierig, eine einfache Definition zu finden.
In den Sozialwissenschaften wird Macht als Grundbegriff betrachtet, wie Energie in der Physik (Bertrand Russell), und wird zu einem produktiven, Kräfte verbindenden Element (Michel Foucault) von Gesellschaften[1]. Macht entsteht in der Vereinigung der Einzelnen (Hegel) immer dann, wenn Menschen zusammen handeln: »Über Macht verfügt nie ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange aufrecht, als die Gruppe zusammenhält.« (Hannah Arendt) Macht beruht also nicht nur auf simpler Zustimmung, der Konsens wird durch Autoritäten und Institutionen immer wieder neu hergestellt und gesichert. Der gesellschaftliche Zusammenhalt gerät erst dann in Schieflage, wenn Unberechenbarkeit und Gewaltandrohung der Machthabenden die Gesellschaft in Ohnmacht versetzen, wenn Hilflosigkeit und Angst – zumindest eine Zeit lang – zu bedingungslosem Gehorsam zwingen.
Macht beruht nicht nur auf simpler Zustimmung, der Konsens wird durch Autoritäten immer wieder neu hergestellt.
Aber was unterscheidet Macht von Herrschaft? Taugt Herrschaft als Vermittlungsbegriff zwischen Macht und Gewalt, da Herrschaft immer die Legitimation ihrer Macht braucht und Gewalt nicht entbehren kann? Oder steht hinter der Macht immer schon die Drohung?[2] Die Androhung von Strafe – zumindest für die, die sich nicht an den Konsens halten? Doch wie wird der Konsens begründet? Durch göttliche Setzung oder durch menschliches Recht (Naturrecht vs. Rechtspositivismus)?
Das sind nicht nur abstrakte, theoretische Fragen, sondern ganz praktische! Denn welche Macht haben z.B. der Priester und die Pfarrerin im Gottesdienst? Und woher? Wie weit geht die Stellvertretung Christi? Gilt sie nur für den Priester beim Altaropfer oder irgendwie doch für jede:n Christ:in? Und wie soll Gottesdienst gestaltet werden, dass alle mit dem Geheimnis in Berührung kommen? Ein weites Feld zum Nachdenken und Erkunden!
(Karsten Heim)
Macht ist nicht gleich Vollmacht
Die Frage nach Macht ist innerhalb der Kirchen wohl etablierter als die Institution selbst. Nur sind die Diskurse über Macht innerhalb der Kirchen für diese schon lange nicht mehr selbstverständlich. Aus gutem Grund werden nun auch von außen Machtgefälle hinterfragt. In den Blick genommen werden dabei diejenigen, die unausweichlich Macht ausüben müssen – Liturg:innen.
Die Figuren des Priesters und der Liturg:innen zeichnen ein asymmetrisches Bild von Macht. Sie bedienen sich – jenseits aller konfessionellen Amtstheologien – im Gottesdienst einer Vollmacht, welche ein Format wie die Predigt überhaupt erst ermöglicht. Diese Vollmacht gliedert die Gemeinde und schafft ein Verhältnis, in dem jede:r sich in einer nur schwer in Frage zu stellenden Rolle im Geschehen des Gottesdienstes wiederfindet.
Unabdingbar bleibt dabei, wie die Liturg:innen diese Vollmacht interpretieren und vor allem, nicht nur im eigenen Handeln, sondern auch als explizite Thematisierung der eigenen Autorität, kommunizieren. Nicht zuletzt im Anbetracht des politischen Kontextes, etwa beim Ermächtigungsgesetz von 1933, in dem Vollmacht zuweilen als absolute Machtzuweisung erteilt wurde, muss differenziert werden. In den griechischen Texten des Neuen Testaments wird der Begriff Vollmacht – Exusia (ἐξουσία) – ganz klar determiniert. Im Gegensatz zu der schlechthinnigen Macht im Ermächtigungsgesetz geht es hierbei um die Befähigung einen Auftrag durchzuführen. Diese Vollmacht kann also entzogen werden und so haben Liturg:innen eine Autorität auf Zeit.
Liturg:innen haben eine Autorität auf Zeit
Die Liturg:innen tragen die Verantwortung gegenüber der Gemeinde, ihre eigene Autorität, ganz im paulinischen Sinn, immer wieder selbst zu konterkarieren. Ziel muss es sein, den Finger immer wieder auf die durch die Vollmacht etablierte Abhängigkeit der Gemeinde zu legen. Die Autorität entfaltet sich in der bewussten Zurücknahme derselben. Erst wenn die Verhältnisse umgedreht, ausgehebelt, umgeworfen wurden, kann jedes einzelne Gemeindemitglied Verantwortung tragen, welche sich eben nicht in Untergliederung gegenüber den Liturg:innen, sondern gegenüber Gott äußert – subversive Autorität.
Liturgie kann nur in einem Raum der Freiheit stattfinden, in welchem Liturg:innen Beauftragung klar von Manipulationen trennen. Dabei bildet die Ordination das notwendige Korrektiv. Sie befähigt zur Vollmacht und stellt die Liturg:innen in die Verantwortung. Bei Verstößen gegen die jeweiligen Ordinationsgesetze der evangelischen Landeskirchen etwa folgt ein Verlust der Rechte und Pflichten der Ordination.
(Benjamin Debs)
In persona… wie bitte?!
Dem Gottesdienst wohnt ab und an dann doch ein Zauber inne. Wenn Liturg:innen das Brot halten, die Worte „dies ist mein Leib“ sprechen und dann wahlweise die Glöckchen klingeln oder ein Kreuz gezeichnet wird, dann fühlt sich das wirklich magisch an. Doch gleichzeitig stellen sich einige Fragen: Was ist hier geschehen? Wer spricht hier?
Die Gelehrten des Mittelalters fanden eine Lösung: Die Liturgen – damals noch ausnahmslos männlich – wirkten in persona Christi, also anstelle von Christus. Christus selbst muss die Einsetzungsworte sprechen – nicht der Priester. Hier liegt der Unterschied von Abendmahlsverständnis und Zauberei.
Auf römisch-katholischer Seite lud man die Formel in persona Christi weiter auf und begründete damit eine priesterliche Dominanz. Mitunter entsteht der Eindruck, dass der Priester in persona Christi eine Form von Identität mit Christus teile – und das ist heikel: Denn so begründet man vielerorts, warum Frauen vom Priesteramt ausgeschlossen sind.
statt in persona Christi – eher „im Angesicht Christi“
Wer sich auf in persona Christi beruft, meint biblische Schützenhilfe zu haben: Schließlich ist die Formel wortgleich aus der lateinischen Bibel übernommen (2 Kor 2,10). Mit Blick auf den Urtext geht der Schützenhilfe jedoch bald das Pulver aus: Wo die lateinische Bibel mit in persona Christi übersetzt, ist eher „im Angesicht Christi“ gemeint. Der Anspruch, dass Liturg:innen „in der Person Christi“ handeln, und ihre damit einhergehende Überhöhung sind weniger biblisch, sondern fußen vielmehr auf einer schlechten Übersetzung.[3]
Diese Lesart setzte sich auch deshalb durch, weil gewichtige Autoritäten sie vertraten und der lateinische Übersetzungsumweg kräftig hilft: Er verengt die Deutungsmöglichkeiten und führt auf falsche Fährten. Er provoziert dazu, die antike persona mit dem modernen Personenbegriff zu verknüpfen, der Identität von Priester und Christus suggeriert.
Doch hier zeigt sich wieder: Den biblischen Texten wohnt subversives Potential inne. Wer selbst übersetzt oder verschiedene Übersetzungen liest, erkämpft sich ein großes Stück Deutungshoheit zurück!
(Arvid Büntzel)
Macht im Gebet
Ein weiteres Feld von Macht und Amt in der Liturgie zeigt die katholische Theologin Eva-Maria Faber am Aspekt des Betens auf. Dabei kommt sie zu dem Schluss, es sei „der Liturgie nicht entsprechend, wenn Menschen […] innerhalb der Liturgie zu wenige Orte finden, in persönliches Gebet hineinzufinden“[4]; neben dem gemeinschaftlichen Gebet habe dieses zu wenig Raum.
Im Grundsatz gemeinschaftlicher und partizipativer Liturgie liegt zwar, so auch Faber, keinesfalls etwas Schlechtes. Dennoch lässt sich anfragen, ob nicht im Element des Gemeinsamen die Ohn-Macht Einzelner gerade ihren Anfang nimmt. Ist es die Macht der Gemeinschaft, wohinter ein:e Einzelne:r zurücktreten muss? – Das scheint zu eng: Das Christ:innentum ist Gemeinschaftsreligion, und ohne das Wir bleibt das Ich eben allein. Gerade damit das Wir aber funktioniert, liegt Verantwortung bei den Vorsteher:innen der Liturgie: Man denke z.B. an Räume stiller Zeit vor Orationen und Gebeten wie sie in Messbuch und Agende vorgesehen sind; hier sollen die Feiernden u.a. Gelegenheit zur individuellen Entfaltung erhalten. Gerade derartige Elemente, die das dialogische Wesen des Gottesdienstes nicht nur mit einer zweiten Perspektive versehen, sondern es auch im Sinne von neuen, meditativen Räumen personaler Gotteserfahrung unterbrechen können, sind in der Praxis leider eher selten wahrzunehmen.
meditative Räume personaler Gotteserfahrung
Wenn Liturgie nicht nur Selbstzweck sein möchte, sondern Menschen anzusprechen, ihnen Heil und Segen zu vermitteln sucht, dann ist im Sinne der Inklusion aller auch hier die Macht der Gestaltung bedeutsam. Der Einfluss liturgisch Leitender wird machtvoll: Auf die (Über-)Fülle in Gottesdiensten oder den Raum für Individualität, der eröffnet werden kann – oder eben nicht. Oder aber in Form von Selektion, z.B. darin, wofür in Fürbitten wie gebetet wird – oder wofür eben nicht.
Gerade in zu straffen Liturgien oder zu selektiven Gebeten geht mit der Abwertung des Individualgebets eine unverzichtbare Erfahrungsdimension unter. Doch es geht auch anders: Man denke z.B. zurück an den neugewählten Papst Franziskus, der sich vor seinem ersten päpstlichen Segen im Ersuchen um stilles Gebet auf der Benediktionsloggia der Individualität und Vielfalt der Beter:innen anvertraute. Plötzlich: Ein Raum war geschaffen, der mehr sagte als viele Worte – die Gemeinschaft aus Papst und Gläubigen war danach eine andere. Vielleicht gerade deswegen?
(Stefan Bamesberger)
Ordnung ist das halbe Leben II
Jede liturgische Entscheidung ist auch ein Machtakt. Welche Form von Liturgie gefeiert, welche Musik gewählt, welche Worte gesprochen, ja wer in die Fürbitten eingeschlossen wird, sind alles Entscheidungen, die eine bestimmte Art der Ordnung etablieren und andere Ordnungen, Formen, Möglichkeiten sogleich verwerfen. Es mag den bemühten Organisator:innen oftmals gar nicht bewusst sein, doch sie üben dabei aktiv Macht über die Gemeinde aus – und selbst ein unausgesprochenes Wort kann zum Machtwort werden.
Ja, Ordnung ist das halbe Leben. Doch nur das halbe. Außerhalb der Ordnung, in der wir uns bewegen, die wir etablieren oder erhalten, gibt es andere Handlungsräume. Es sind Räume, die wir nicht betreten, nicht erkunden, manchmal gar verschließen. Liturgie braucht Raum, Liturgie braucht Ordnung, Liturgie braucht Macht – doch die Macht, die Liturgie braucht, ist eine, die Räume erschafft, nicht eine, die einen bestimmten Raum, eine bestimmte Ordnung, gar mit irgendeiner Form von Gewalt schützt. Es muss eine Macht sein, die an die Räume in der anderen Hälfte jenseits der Ordnung denkt und bereit ist, auch diese stets aufs Neue zu entdecken und zu gestalten.
(Christine Fiedler)
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Autor:innen:
Stefan Bamesberger, Kath. Theologie, Tübingen/Erfurt
Arvid Büntzel, Ev. Theologie, Leipzig
Benjamin Debs, Ev. Theologie, Leipzig
Christine Fiedler, Ev. Theologie, Leipzig
Karsten Heim, Ev. Theologie, Leipzig
Das Seminar „Liturgie und Macht“ fand im Juni 2021 in Kooperation zwischen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt (Prof. Dr. Benedikt Kranemann, Christopher Tschorn) und des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD bei der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig (Prof. Dr. Alexander Deeg, Dr. Christian Lehnert) statt.
Beitragsbild:
[1] »Wer Macht sagt, sagt Gesellschaft, doch wer Gesellschaft sagt, sagt immer auch Macht.« Sofsky, Wolfgang; Paris, Rainer: Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition. Opladen 1991, S. 9.
[2] Vgl. Kondylis, Panajotis: Der Philosoph und Macht. Eine Anthologie. Hamburg 1992, S. 32.
[3] Zerfass, Alexander: Gottesdienst und Hierarchie. Zum liturgischen Handeln des Priesters »in persona Christi capitis«, in: Hoff, Gregor; Knop, Julia; Kranemann, Benedikt (Hrsg.): Amt – Macht – Liturgie. Theologische Zwischenrufe für eine Kirche auf dem synodalen Weg, (QD, Bd. 308), Freiburg 2020, S. 137-150, hier S. 139f.
[4] Faber, Eva-Maria: Persönliches in Gemeinschaft. Liturgisches Beten in der Spannung von Intimität und öffentlich-sozialer Handlung, in: Dalferth, Ingolf – Peng-Keller, Simon (Hrsg.): Beten als verleiblichtes Verstehen. Neue Zugänge zu einer Hermeneutik des Gebets (QD, Bd. 275), Freiburg 2016, S. 197-229, hier S. 228.