Michel Foucault, Jacques Derrida und andere Vordenker der sogenannten ‚Postmoderne’ sind nicht für den zunehmenden Wahrheitsverlust in der politischen Debatte verantwortlich, meint Christian Bauer.
Die Postmoderne ist in Verruf geraten. Ihr zugerechnete Autoren wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Jean-François Lyotard wurden in der ZEIT bzw. SPIEGEL ONLINE kürzlich dafür verantwortlich gemacht, dass die Wahrheitsfähigkeit politischer Diskurse erodiert und alternative Fakten zunehmend hoffähig werden.
Wo eine „kulturwissenschaftliche Linke“ (M. Hampe) alles in postmoderne Beliebigkeit auflöse, könne man keine objektiv wahren Tatsachen mehr einklagen. Gibt es einen entsprechenden „Kausalzusammenhang zwischen linker Theoriebildung und dem Erstarken des Rechtspopulismus“ (Ch. Stöcker)?
Habitualisiert ironische Distanzierung
Diskutiert wurde über die genannten Autoren der French Theory schon immer. Von „Lacancan und Derridada“ war bereits 1986 die Rede und von einer parawissenschaftlichen „Frankolatrie in den Kulturwissenschaften“ (K. Laermann). Alles nachvollziehbare Abwehrreflexe, die eine habitualisiert ironische Distanzierung erlauben, ohne sich der eigentlichen Herausfor-derung des kritisierten Denkens zu stellen.
Diese besteht in einer Aufklärung über den empirisch nachweisbaren Konstruktionsgehalt von scheinbar ‚wahren’ Begriffen, über deren geschichtliche und gesellschaftliche Produktionsbedingungen man nicht einfach hinweggehen kann. Nietzsche hat von einer Genealogie der Moral gesprochen, Foucault von einem quasitranszendentalen historischen Apriori aller Diskurse. Das heißt nichts anderes als dass auch deren vermeintlich objektive Wahrheit eine Genealogie hat – und die Geschichte die Bedingung ihrer Möglichkeit ist.
Derrida im Weißen Haus?
Die genannten Autoren sind längst Klassiker auch in dem Sinn, dass man sie gar nicht mehr gelesen haben muss, um eine starke Meinung dazu zu äußern. Wie postmodern: Man kann gegen sie argumentieren, ohne über präzise Sachkenntnis zu verfügen! Gegen diese theoretische Uninformiertheit mancher Kritiker hilft nur eine möglichst genaue Textlektüre, die dann auch die immense Heterogenität der mit dem Begriff der ‚Postmoderne’ gelabelten Autoren erkennen lässt.
Es handelt sich um enorm vorraussetzungsreiche Denker, die sich zum Teil vehement gegen diese vereinfachende Zuschreibung gewehrt haben. Zumindest sollte man mit Blick auf die Genannten diskursive Kurzschlüssen vermeiden. Steven Bannon beispielsweise spricht von einer Dekonstruktion des Staates – und es wäre kurzschlüssig, aufgrund dessen zu sagen: Aha, Jacques Derrida sitzt nun auch im Weißen Haus. Diese Argumentation läuft so ziemlich allem zuwider, wofür Derridas spätaufklärerisches Projekt der Dekonstruktion steht. Was aber ist dessen normativer Anspruch jenseits eines Postmodernebegriffs, der meist denuntiatorisch im Sinne entgrenzter Beliebigkeit verwendet wird?
Widerstreit ohne schlichtende Metainstanz
Die ‚postfaktische’ Herausforderung durch Trump & Co irritiert jeden vernunftbasierten, konsensorientierten Diskursbegriff – und zwar ganz egal, ob er nun mit der Analytischen Philosophie eher objektivistisch-deskriptiv oder mit der Kritischen Theorie eher intersubjektiv-normativ eingefärbt ist. Die brisante Frage lautet in beiden Fällen: Wie diskutiert man mit einem Diskursverweigerer?
Das politische Hauptproblem der Gegenwart dürfte denn auch darin bestehen, dass es in ihrem universalen „Widerstreit“ (J.-F. Lyotard) keine durchsetzungsstarke, übergeordnete Schlichtungsebene gibt, an die man gegen den Tatbestand appellieren könnte, dass es sich eben um einen Widerstreit ohne schlichtende Metainstanz handelt. Sich beispielsweise für die Universalität der Menschenrechte einzusetzen, ist auf dem diskursiven Kampfplatz der Gegenwart nur ein Geltungsanspruch unter vielen (wenn auch eine unbedingt anzustrebender). Das zu negieren, ist selbst wiederum nur eine Strategie in diesem universalen Widerstreit – so wie auch Derridas Projekt der Dekonstruktion.
Klassischer Einwand
Gegen diese Position könnte man nun den klassischen Einwand von Jürgen Habermas vorbringen, sie beanspruche selbst einen quasiolympischen Metastandpunkt – doch gerade diese Kritik ist ein Beleg für die Stärke der These. Zeigt sie doch, dass auch der Geltungsanspruch dieser Position nicht universal anerkannt wird. Auch sie kann keine Metaposition beanspruchen – und ist in der unaufhebbaren Differenz von formuliertem Geltungsanspruch und realer Durchsetzbarkeit dennoch mehr als nachvollziehbar.
Idealtypisch personalisiert: Lyotard hat recht, aber Habermas ist wünschenswert. Letztlich ist es absurd: Im Widerstreit universal uneinlösbarer Geltungsansprüche hat man nur die Mittel Lyotards, um Habermas’ berechtigtes Anliegen durchzusetzen: Diskurs als ein möglichst herrschaftsfreies kommunikatives Handeln.
Neuer Existenzialismus
Dieses Paradox ist nun aber das genaue Gegenteil von postmoderner Beliebigkeit. Denn es bedeutet, sich für die eigenen Überzeugungen in unvertretbarer Weise einzusetzen – im Wissen um ihre prinzipielle universale Undurchsetzbarkeit. Vielleicht sollte man daher Theodor W. Adornos berühmtes Wort, es gebe kein richtiges Leben im falschen, umkehren und um Albert Camus erweitern.
Wieder mehr Camus lesen
Denn es gibt ein richtiges Leben ja nur im falschen. Ein anderes haben wir nämlich nicht, es wäre eine blanke Utopie. Das ist absurd, mindestens aber paradox – vielleicht müssen wir uns Sisyphos genau deswegen als einen glücklichen Menschen vorstellen… Und möglicherweise sollten wir auch wieder mehr Camus lesen.
Oder aber Hannah Arendt. Sie bezieht sich in einem Text über Sokrates auf die wütende Polemik Platons gegen die doxa (die bloße Meinung und ihren trügerischen Schein), die zu den Grundlagen seines demokratieskeptischen Wahrheitsbegriffs gehöre:
„Die platonische Wahrheit ist immer der genaue Gegensatz zur beliebigen Meinung. Das Schauspiel, wie Sokrates seine eigene doxa gegen die unverantwortlichen Meinungen der Athener stellt und von einer Mehrheit niedergestimmt wird, brachte Platon dazu, Meinungen insgesamt zu verachten und sich nach absoluten Maßstäben zu sehnen.“ Nun ist genau diese Behauptung von absoluten Maßstäben aber leider auch selbst wieder nur eine Meinung im allgemeinen Widerstreit um die Wahrheit.
Womit sich arbeiten lässt
Es gehört zum kleinen Einmaleins der Semiotik, in diesem universalen Wahrheitsstreit das Bezeichnete („Signifikat“) und das Bezeichnende („Signifikant“) auseinanderzuhalten. Das wäre auch im politischen Diskurs der Gegenwart vonnöten. Zu vermeiden wäre jede Verwechslung von Wirklichkeit, die unserem direkten Zugriff entzogen bleibt, und Zeichen, die ihrer sprachlichen Repräsentation dienen.
Kurz gesagt: Unsere ohne schlichtende Metainstanz widerstreitende Gegenwart ist nicht, wie sie nun einmal ist, weil die Postmodernen sie so beschreiben, wie sie es eben tun – vielmehr beschreiben diese sie so, weil ist, wie sie ist. Damit lässt sich arbeiten.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Innsbruck und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Bildquelle: Die Bäckerei, Innsbruck