Gibt es eine Türkei jenseits von Erdoğan? Nicolas Bleck entführt auf eine spannende Entdeckungsreise nach Istanbul. Und er behauptet: Die Türkei ist viel bunter als der schwarze Anzug ihres Präsidenten!
„Türkei politisch! Die Generation Gezi heute…“ Unter diesem Motto hatte der „Dinnerclub“ in Innsbruck zum Abendessen geladen. Ich war zum ersten Mal bei einer vom Dinnerclub organisierten Abendveranstaltung und sehr gespannt darauf, was mich wohl erwarten würde. Allerlei kulinarische Leckereien aus der Türkei wurden mir und den anderen neugierigen Gästen serviert. Nachdem wir uns die Bäuche voll geschlagen hatten, stand etwas schwer Verdauliches auf der Speisekarte: die Gezi-Proteste, die 2013 in Istanbul stattgefunden hatten, waren Anlass, um über die heutige politische Lage in der Türkei zu diskutieren. Dabei ist mir ein Satz von Mesut Onay, der für die Innsbrucker Grünen im Gemeinderat sitzt, besonders in Erinnerung geblieben: „Es gibt eine Türkei jenseits von Erdoğan.“ Über diese Türkei möchte ich hier schreiben.
Vergangenen Herbst bin ich nach einem 13-monatigen Aufenthalt in der Türkei in meine Wahlheimat Innsbruck zurückgekehrt. Als Erasmus-Student hatte ich zwei Semester lang an der „Yeditepe Üniversitesi“ in Istanbul Geschichte studiert. Wenn ich heute gefragt werde, wie es mir in der Türkei denn so ergangen sei, dreht sich das Gespräch oft um Bombenanschläge und versuchte Militärputsche. Anscheinend denken zur Zeit viele Menschen zuerst an diese Negativschlagzeilen, wenn die Rede auf die Türkei kommt. Kein Wunder. Schließlich wird die Türkei in der Berichterstattung der Medien fast nur in Zusammenhang mit den aktuell brisanten politischen Konflikten thematisiert. Es stimmt, dass die sich seit Sommer 2015 verschärfende politische Situation meine Erasmus-Zeit geprägt hat. Doch wenn es in einem solchen Türkei-Gespräch nur noch um die Machenschaften von Präsident Erdoğan geht, bleibt ein fader Nachgeschmack zurück. So viel Platz möchte ich Herrn Erdoğan im Erzählen über meine Erlebnisse in Kleinasien gar nicht lassen. Die Türkei ist so viel bunter als der schwarze Anzug ihres Präsidenten. Und auch bunter als die in den Nachrichten allgegenwärtige türkische Nationalflagge.
Spaziergang durch Istanbul
Wer sich davon überzeugen möchte, ist herzlich eingeladen, mich auf einen Spaziergang durch Istanbul zu begleiten. Wir starten am Taksim-Platz, dem Herzen des modernen Istanbul. Den gepanzerten Wasserwerfer der Polizei, der hier Tag und Nacht stationiert ist, lassen wir links liegen und schlendern hinüber zu der kleinen Ansammlung von Bäumen am nördlichen Ende des Platzes. Es handelt sich hierbei um den durch die Proteste von 2013 zu Berühmtheit gelangten Gezi-Park, den ich mir immer größer vorgestellt hatte. Doch für eine Stadt wie Istanbul, in der Stadtplaner anscheinend keine Gedanken an Grünanlagen verschwendet haben, ist der Gezi-Park eine grüne Oase. „Gezi“ bedeutet so viel wie Spaziergang. Ohne den Mut vieler Istanbuler, die vor vier Jahren gegen die Pläne der Regierung, den Park in ein Einkaufszentrum zu verwandeln, protestiert haben, würden wir nun wohl vor einem Betonklotz stehen. Unser Weg führt uns entlang einer Hauptverkehrsader nach Şişli. Hier pulsiert der Verkehr der Metropole. Beim Überqueren der Straße versuchen wir nicht überfahren zu werden. Ein großer Schritt hilft uns über einen quer auf dem Bürgersteig liegenden Straßenhund hinweg. Alle Viere von sich gestreckt fläzt er in der Sonne und lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen. Ein Meister der Gelassenheit mitten im Trubel und Gewusel der Stadt am Bosporus, deren Einwohnerzahl inoffiziell auf 20 Millionen Menschen geschätzt wird.
Unweit des großen armenischen Friedhofs treffen wir uns mit Leon Aslan Coşkun in seinem Büro zum Mittagessen. Leon ist Seniorpräsident und Mitbegründer der Unternehmensberatung „Mazars Denge“. Er ist mittelgroß und schlank, hat eine Halbglatze und trägt seinen grauen Bart ganz kurz. Mit müdem Blick und einem freundlichen „¡Hola!“, das seinen türkischen Akzent erkennen lässt, begrüßt er uns. Wieso begrüßt er uns auf Spanisch? Leon ist sephardischer Jude. Seine Vorfahren sind vor über 500 Jahren vom spanischen Herrscherpaar Isabel und Fernando vor die Wahl gestellt worden: Entweder zum Christentum konvertieren, oder die Iberische Halbinsel verlassen. Leons Vorfahren entschieden sich dafür zu emigrieren. Von Sultan Bâyezîd II., der sich über ihre kaufmännischen Qualitäten freute, wurden sie in Istanbul willkommen geheißen. Bis heute gibt es eine bedeutende jüdische Gemeinde in Istanbul, die allerdings stark am Schrumpfen ist. Leons ursprünglicher Nachname klingt überhaupt nicht Türkisch. Eigentlich heißt er Levi. Doch im Zuge der von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk durchgeführten Nachnamen-Reform von 1934 hat sein Großvater einen türkischen Nachnamen verpasst bekommen. Heute ist Leon nicht mehr traurig darüber Coşkun zu heißen. Übersetzt bedeutet dieser Name nämlich „begeistert und enthusiastisch“. Auch seinen Vornamen „Leon“ trägt er in eingetürkter Version im Pass. Leon Aslan, der Löwe. Zusammen mit seinem Nachnamen heißt er also „der begeisterte Löwe“.
Leons Chauffeur bringt uns im schwarzen Mercedes durch ein Gassengewirr zurück zum Taksim-Platz. Auf dem Weg dorthin blicken wir links durch die getönten Fensterscheiben und sehen die in der Sonne glitzernde Glasfassade der Trump-Towers (ja, die gibt’s auch in Istanbul). Als Donald Trump im Wahlkampf angekündigt hatte, Muslimen die Einreise in die USA verwehren zu wollen, hatte der türkische Besitzer der Istanbuler Trump Towers angekündigt, die Beziehungen zu seinem Geschäftspartner Trump zu überdenken. Der Hochhauskomplex trägt jedoch bis heute den Markennamen „Trump“. Nun blicken wir rechts durch die Scheiben und sehen ein Gecekondu, das sich wortwörtlich im Schatten des Wolkenkratzers befindet. „Gecekondu“ bedeutet „über Nacht gebaut“ und bezeichnet eine informelle Siedlung. Und in der Tat sehen die schiefen Häuser, die meist nur mit Wellblech abgedeckt sind, so aus, als seien sie in einer Nacht- und Nebelaktion errichtet worden. Die Menschen, die hier hausen, unter ihnen viele Sinti und Roma, leben in Armut und bestreiten ihren Lebensunterhalt nicht selten mit dem Recyceln von Plastik und Papier. Auch Kinder betätigen sich als Müll-Recycler, ziehen mit Zugkarren, die größer sind als sie selber, durch die hügelige Stadt und durchwühlen die Mülltonnen nach Wiederverwertbarem. Ihre Beute bringen sie zu Sammelstellen, die den Müll weiter an Firmen verkaufen. Wie viel Geld verdient man auf diese Weise?
Das Leben spielt sich auf der Straße ab
Die Antwort auf diese Frage finden wir im Stadtteil Tarlabaşı, den wir vom Taksim-Platz aus erreichen, wo uns der Chauffeur mit einem „Hoşça kal“ (Macht’s gut) abgesetzt hat. Tarlabaşı ist eine der No-Go Zonen Istanbuls. Sie wird nur durch einen großen Boulevard von der Istiklal-Straße getrennt. Die Istiklal ist Istanbuls Flaniermeile und eine der meist frequentierten Straßen der Welt. Besagter Boulevard trennt zwei Welten voneinander. Auf der Istiklal: Menschen in Shoppinglaune und Flipflop-Touristen. In Tarlabaşı: frisch gewaschene Wäsche, die zum Trocknen auf Leinen zwischen den Häusern aufgehängt ist. Kinder liefern sich eine Wasserschlacht in der steilen Seitenstraße, die uns hinunter in die Eingeweide des „semt“ bringt. Ein Stadtviertel (türk. „mahalle“) wird nochmals in kleinere Einheiten unterteilt, die „semt“ genannt werden, und in denen wirklich jeder jeden kennt. Diese Nachbarschaften sind vergleichbar mit dem Kölner „Veedel“, dem Berliner „Kiez“ oder auch dem Wiener „Grätzl“. Das Leben spielt sich hier auf der Straße ab. Frauen sitzen schwatzend vor der Haustür. Wir werden neugierig gemustert. Normalerweise verirrt man sich als Fremder nicht hierher. Tarlabaşı ist ein sozialer Brennpunkt. Nach Anbruch der Dunkelheit herrscht das Gesetz der Straße. Ein Gesetz, das Auseinandersetzungen mit Waffengewalt löst.
„Selam kardeşim“, ruft uns jemand zu. „Friede sei mit dir, Bruder.“ Ein ganz normaler Gruß in der Türkei. Wir schauen auf und sehen einen drahtigen Mann, der uns zu sich herüber winkt. Coșkun sitzt auf einem Plastikhocker vor der Müll-Sammelstelle von Muharrem Fırat. Coșkun gibt es auch als Vornamen. Am Straßenrand reiht sich eine Zugkarre neben der anderen. Die Plastikflaschen und Kartons, die Coșkuns Arbeitskollegen den ganzen Tag über gesammelt haben, quellen schon fast über. Wir nehmen Platz und werden auf einen Çay, den türkischen Schwarztee, eingeladen. Coșkun hat heute seinen freien Tag. Er hat sich fein herausgeputzt, trägt ein weißes Hemd und passend dazu weiße Schuhe. Es ist ihm wichtig an seinen freien Tagen sauber zu sein. In seinem körperlich äußerst anstrengenden Arbeitsalltag als Müll-Recycler hat er genug mit Schmutz zu tun. Pro Kilo gesammeltes Plastik verdient er 5 Lira. Für ein Kilo Karton erhält er sogar nur 1,50 Lira. Eine Türkische Lira sind nach derzeitigem Kurs 25 Euro-Cent. Plastikflaschen sind nicht besonders schwer. Man kann sich vorstellen, wie viele Mülltonnen Coșkun abklappern muss, um genug Geld für ein Abendessen zusammen zu bekommen.
Begegnung mit einer alten Dame
Es beginnt bereits zu dämmern. Zeit aufzubrechen. Nachdem wir einen weiteren Çay mit zwei Zuckerwürfeln getrunken haben, verabschieden wir uns von Coșkun und machen uns auf den Weg hinunter zum Ufer des Goldenen Horns, einer Bucht des Bosporus, die Istanbuls historische Halbinsel von den Stadtvierteln jüngeren Datums trennt. Die Galatabrücke bringt uns hinüber ins Stadtgebiet des ehemaligen Konstantinopels. Den roten Feuerball der Abendsonne im Rücken erklimmen wir einen Hügel, wo die letzte Begegnung des Tages auf uns wartet. Wir sind mit einer alten Dame verabredet. Ihr Name ist Sophia und sie ist heilig. Die Hagia Sophia.
In einem Zeitungsartikel von 1894, den ich in einem Istanbuler Antiquariat gefunden habe, schreibt die deutsche Schriftstellerin Bernhardine Schulze-Smidt über ihr „Hagia-Sophia-Erlebnis“: „Einst die Perle der anbetenden, byzantinischen Christen, jetzt der Stern im Halbrund des türkischen Mondes. Ein ungeheurer Bau von erhabenster Majestät. Kuppel wölbt sich neben Kuppel und strebt zur mittelsten empor, die sich weit und frei gen Himmel spannt. Durch die Fenster rings um sie her bricht das Abendrot und wirft seinen Zauberglanz über die riesigen Marmorsäulen hin, vertieft das spitzenfeine Schnitzwerk ihrer Knäufe und Kapitäle, hebt die gigantischen Schnörkel der goldnen Koransprüche aus ihrem grünen Grunde heraus und gleitet zum weichen Samt der Gebetsteppiche nieder, die den Steinboden decken.“
Heilige Weisheit
Seit Atatürk ist die Hagia Sophia ein Museum, ein profanes Gebäude. Dennoch bleibt sie für mich spürbar ein Ort des Sakralen. Müde vom langen Spaziergang setzen wir uns ihr gegenüber auf eine Bank und unser Blick verliert sich im komplexen und unübersichtlichen Bau. Die Hagia Sophia (Griechisch für „Heilige Weisheit“) heißt im Türkischen überraschenderweise „Aya Sofya“, hat also ihren christlichen Namen unter osmanischer Herrschaft beibehalten. Sie ist eines der ältesten Gebäude der Stadt. Hat viele Erdbeben überlebt. Hat Großreiche kommen und gehen sehen. Weil sie Symbol für so Vieles ist, muss sie für Vieles herhalten. In politischen Debatten wird sie immer wieder instrumentalisiert. Doch wie die alte Hagia Sophia dort vor uns ruht, vom Scheinwerferlicht angestrahlt, so dass wir ihre zahlreichen Falten und Runzeln sehen, wirkt sie auf mich wie eine Ur-Großmutter, die schon alles erlebt hat und die über den Streitereien der Menschenkinder drüber steht. Sie schaut mit ihren hunderten Fensteraugen auf uns herunter und mahnt uns mit gehobenem Zeigefinger: „Seht nur zu, dass ich das nächste Erdbeben gut überstehe und dass euch nicht meine Kuppel auf den Kopf fällt!“
Was sie uns damit wohl sagen will? Vielleicht tut sie so mysteriös, damit wir sie bald wieder in Istanbul besuchen kommen und sie fragen.
Nicolas Bleck
Bildquelle: Wikipedia