Gegen die zur Normalität gewordene Zerstörung und Spaltung setzt Nora Steen die Hoffnung, dass die Menschen doch dazulernen können.
Jahresrückblicke sind so notwendig wie fraglich. Notwendig, weil sie daran erinnern, dass vergangene Geschichten und Ereignisse die Gegenwart zu der machen, die sie ist. Wie wichtig der Blick zurück ist, um sich auch in unsicheren Zeiten, der eigenen Identität zu vergewissern, zeigt die Geschichte des Volkes Israel. Es lebt aus dem kollektiven Bewusstsein, Teil der großen Geschichte Gottes mit seinem Volk zu sein. Ohne diese Erinnerung wäre es in den Jahrhunderten der Ortlosigkeit in viele einzelne Gruppierungen zersplittert. Eine gemeinsame Geschichte schafft Identität.
Zurückblicken – nicht mit Jesus?
Zugleich ist fraglich, wieso der Blick auf die Ereignisse der zurückliegenden zwölf Monate eine Relevanz für das Jetzt und das Morgen haben sollte. Jesus von Nazareth war für kompromisslose Aussagen berüchtigt. Er gestand Menschen, die mit ihm zogen, nicht einmal zu, auch nur einen Blick zurück zu wenden oder ihre Toten zu beerdigen. Seine Botschaft: Das Vergangene darf nicht dazu verführen, im ewig Gestrigen verhaftet zu bleiben. Es soll stattdessen dazu befähigen, mit realistischem und klarem Blick in die Zukunft zu schauen.
Schauen wir jetzt also, am Ende des Jahres 2018, zurück und behalten dabei im Blick, dass wir den Ereignissen beim Erinnern immer schon einen Schritt voraus sind. Die Zukunft hat begonnen.
Wieso nehmen wir den Klimawandel nicht ernst?
Ein Thema, das 2018 in verschiedener Weise begegnet ist, ist die Frage nach Wahrheit. Ein großes Wort. Gemeint ist hier rein dies: Die Frage danach, ob die Wirklichkeit mit dem übereinstimmt, was von ihr behauptet und geschrieben wird. Und ob beispielsweise der Klimawandel nur ein Hype ist und Orkan Friederike, Hitzewelle in Europa, Waldbrände in Kalifornien oder der Tsunami in Indonesien zufällige Erscheinungen sind, die genauso im vergangenen Jahrtausend hätten so dicht aufeinander treffen können. Oder ob da was dran ist, was die Klimaforscher*innen sagen: Der Klimawandel steht nicht bevor, wir sind mitten drin. Ein Kampf um die Frage, ob langfristiger Klimaschutz oder kurzfristig notwendiger Braunkohleabbau die Priorität haben sollte, wurde im September 2018 mit großer medialer Öffentlichkeit im Hambacher Forst geführt. Es wurde deutlich: Der Widerstand gegen ein bloßes „Weiter so“ in konventionellen Handlungsweisen wächst.
Wenn das aber so ist, dass wir mitten drin sind im Klimawandel und die Frage nicht heißt, ob wir ihn verhindern, sondern nur, wie wir ihn noch begrenzen können: Wieso nehmen wir das nicht ernst? Wenn auch 2018 noch so etwas Banales wie ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen scheitert, weil die Automobilindustrie ungeachtet der hausinternen Skandale immer noch eine mächtige Lobby hat, dann sind wir mit unserem Willen nach einer echten Veränderung unseres Lebensstils im vergangenen Jahr nicht sehr weit gekommen. Die Selbstbetrugsmechanismen greifen wahrscheinlich so lange, bis kein Wasser mehr aus den heimischen Wasserhähnen kommt.
And yet you are stealing their future.
Die eindrücklichsten Worte für unsere globale Misere hat die fünfzehnjährige Klimaaktivistin Greta Thunberg aus Schweden gefunden. Sie hielt im Dezember eine weltweit beachtete Rede auf der Uno-Klimakonferenz. Sie sagte den Erwachsenen auf den Kopf zu: „The year 2078, I will celebrate my 75th birthday. If I have children maybe they will spend that day with me. Maybe they will ask me about you. Maybe they will ask why you didn’t do anything while there still was time to act. You say you love your children above all else, and yet you are stealing their future in front of their very eyes.“
Immerhin hat die Uno-Klimakonferenz in Katowice ihr Ziel erreicht: Einstimmig wurde ein Regelwerk für den Weltklimavertrag beschlossen, das die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter vorsieht. Nicht durch Gesetze, sondern durch das Prinzip „Naming and Shaming“ sollen die Staaten zur Einhaltung verpflichtet werden. Hoffen wir, dass die Rechnung aufgeht. Denn die stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Ist mit nackter Wahrheit Auflage zu machen?
Die Frage nach Wahrheit brach auch in den letzten Tagen des Jahres mit großer Wucht hervor. Ein vielfach preisgekrönter Journalist des SPIEGEL wurde des Betrugs überführt. Seine so angenehm zu lesenden Reportagen waren ohne Zweifel Stoff für großes Kopfkino und die großen und kleinen Zudichtungen oder Abänderungen gaben der Wirklichkeit eine leicht romantische Note, der sich kaum jemand entziehen konnte. Er hat uns ach so belesenen BildungsbürgerInnen aufgeschrieben, was wir gern lesen wollten. Nun ist der Aufschrei groß, weil wir doch extra nicht in jenen Blättern lasen, denen wir per se eine Verfälschung der Wirklichkeit unterstellten. Und nun gerade der SPIEGEL, einstmals Bastion der wahrheitsgetreuen Berichterstattung. Aber wäre die nackte Wahrheit unseres Lebens so poetisch, dass damit Auflage zu machen ist?
Gefühl, dass die Gesellschaft gespalten ist.
Und hier kommt auch gleich das zweite große Thema des Jahres 2018 ins Spiel: Vertrauen. Beziehungsweise: Verlorenes Vertrauen. In die Politik, in Europa, in die Medien. Das prägte die Stimmung der Bevölkerung. Vielleicht hat sich auch deshalb die große Koalition über Monate so schwer getan, regierungsfähig zu werden. Im Herbst waren es die so genannten „Gelbwesten“ in Frankreich, die ihrem Frust über ihre Regierung Luft machten. Der Höhepunkt war in Deutschland Ende August in Chemnitz erreicht. Ein junger Deutscher wurde erstochen. Ein Syrer und ein Iraker wurden festgenommen. Die Situation eskalierte. Ausländer*innen wurden angegriffen. Waren es Hetzjagden? Streit um ein Wort. Bis hinauf in die höchsten politischen Ebenen. Linke und rechte Bündnisse riefen zu Demonstrationen auf. Tausende aus allen Lagern reisten an. Das Gefühl, dass die Gesellschaft gespalten ist, bleibt. Die Mitte erodiert, auch wenn in Chemnitz 65.000 Menschen unter dem Motto #wir sind mehr demonstrierten. Wund und bloß liegt seitdem die noch unbeantwortete Frage auf dem Tisch der Republik: In welchem Land wollen wir leben und wie wollen wir miteinander umgehen?
Normale Ruhe in Europa.
Dabei war es im Land ruhiger als in den vergangenen Jahren. Da sich Europas Grenzen unmerklich immer weiter geschlossen haben, kamen weniger Geflüchtete nach Deutschland. Das Problem wurde mehr und mehr outgesourct. Rettungsschiffe fuhren tagelang auf dem Mittelmeer herum und durften nirgends anlegen. Vor den Grenzen Europas leben tausende Menschen in riesigen Flüchtlingslagern. Im Mittelmeer ertranken unzählige Frauen, Männer und Kinder. Dann die Giftgasanschläge in Syrien und die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Aber diese unschönen Szenen lagen weit weg vom deutschen Alltag. Trotzdem gibt es eine gefühlte Unzufriedenheit, die sich an der Realität reibt, dass wir den ungeheuren Luxus haben, im Frieden zu leben.
Diskutieren lernen!
Das Jahr 2018 hat gezeigt, dass klare Zuschreibungen nicht mehr funktionieren. Innen rumort es. Wer „rechts“ steht oder „links“ lässt sich nicht mehr leicht ausmachen. Klar scheint nur dies: Unser Land hat keine Wahl, wir müssen gemeinsam um eine gute Zukunft ringen. Der erste Schritt wäre, ergebnissoffen diskutieren zu lernen. Auch und gerade mit denen, die politisch aus einem anderen Lager kommen. Die Verhärtungen aufweichen, weil wir sonst als Gesellschaft zerbrechen. Bundespräsident Steinmeier forderte in seiner Weihnachtsansprache: „Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind!“ Auch, wenn also die Entwicklung hin zur künstlichen Intelligenz im Jahr 2018 weltweit große Schritte vorangekommen ist, können wir konstatieren: Auf das eigenständige Denken können und dürfen wir nicht verzichten. Eine Seele haben bislang nur wir und es wäre schade, wir würden den Bonus verspielen, menschlich zu sein.
Wir können dazulernen!
Was aus den vergangenen 12 Monaten zu lernen ist? Vielleicht dies: Egal, wie hoch entwickelt eine Gesellschaft ist, es geht im Kern immer wieder um die grundsätzlichen Themen. Um Wahrheit. Um Vertrauen. Um Liebe und Verrat. Das mag kitschig klingen, ist aber ein guter Grund, die Hoffnung nicht ganz aufzugeben, dass wir tatsächlich in der Lage sein werden, dazuzulernen. Irgendwann.
2018. Ein relativ normales Jahr. Wieder ein Terroranschlag auf einem Weihnachtsmarkt, diesmal in Straßburg. Schrecklich normal geworden. An Trumps Tweeds hat sich die Welt gewöhnt. Und dann, ach ja, der Brexit. Noch immer keine Klarheit. Kommt er, kommt er nicht? Wie gut, dass es ein Jahr 2019 geben wird. So Gott will und wir leben.
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Autorin: Nora Steen, Theologin und Pastorin, Leiterin des ökumenischen Bildungs- und Tagungszentrums der Nordkirche „Christian Jensen Kolleg“ in Breklum.
Bild: Maria Fernandez Gonzalez / unsplash.com