Nach 1945 fanden zwischen Ost und West vielfältige Aushandlungen des Friedensbegriffs statt. Eine Erinnerung von Thea Sumalvico.
Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges steckten den Menschen in und außerhalb Europas noch tief in den Knochen, als im Juni 1950 der Koreakrieg ausbrach und die Angst vor einem neuen, nun möglicherweise atomaren Weltkrieg weiter schürte – nicht zuletzt in den gerade neu gegründeten zwei deutschen Staaten. Die koreanische Situation – zwei aus verschiedenen Besatzungszonen erwachsene Staaten – schien nur allzu vertraut. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland formulierte im August desselben Jahres:
„Die Vorgänge im fernen Osten haben gezeigt, daß der Friede durch nichts so sehr bedroht wird, als wenn man ein Land durch willkürliche Grenzziehung in zwei Teile aufgespaltet hält.“
In der über den Eisern Vorhang hinweg bis zu Beginn der 1960er Jahre organisatorisch noch miteinander verbundenen Evangelischen Kirche in Deutschland herrschte zunächst Einigkeit, dass ein neuer Krieg unbedingt verhindert werden müsse. Das hatte nicht zuletzt nationalistische Gründe, denn: „Daß Deutsche jemals auf Deutsche schießen, muß undenkbar bleiben“, hieß es in der bereits erwähnten Erklärung des Rates.
Ein neuer Krieg müsse unbedingt verhindert werden.
Mit der Einigkeit hatte es bald ein Ende: Zu weit gingen die politischen Meinungen darüber auseinander, wie Frieden zu sichern sei: Mit einem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und Wiederbewaffnung zum Zwecke der Abschreckung? Oder durch konsequentes Pochen auf die Neutralität der deutschen Staaten? Erbittert wurde in Kirche und Gesellschaft darüber gestritten; mehr als einmal drohte der Rat der Evangelischen Kirche an dieser Frage zu zerbrechen.
Spätestens seit dem Beginn des Kalten Krieges fingen die Sowjetunion und ihre Verbündeten an, den Friedensbegriff für sich zu vereinnahmen: Der kapitalistische Westen galt als imperialistisch und kriegstreiberisch, die sozialistischen Länder präsentierten sich dagegen als Bewahrer des Weltfriedens. Überall in den sozialistischen Staaten organisierte sich in diesen Jahren eine „Nationale Front“, die sich – gerade angesichts der westdeutschen Wiederbewaffnung – den „Kampf für den Frieden“ auf die Fahnen schrieb.
Die sozialistischen Länder präsentierten sich als Bewahrer des Weltfriedens.
Für christliche Kirchen in sozialistischen Ländern konnte der Friedensbegriff damit zuweilen zum Brückenbauer zu den ihr tendenziell doch feindlich gesinnten Regierungen werden, besonders dort, wo sie sich in Minderheitenpositionen befanden.
Dies war zum Beispiel der Fall bei der sehr kleinen Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, deren Glieder nach dem Zweiten Weltkrieg unter Beweis zu stellen hatten, dass sie polnisch (und nicht etwa deutsch) und loyale Staatsbürger waren. So sandte die Synode 1950 ein Telegramm an Staatspräsident Bolesław Bierut, in dem der „ernsthafter Wille zur Zusammenarbeit im Kampf um die Erhaltung des Friedens in der Welt“ zugesichert wurde. Ein Jahr später forderte die Synode Geistliche und Gläubige dazu auf, sich „feindlicher Kriegspropaganda“ zu widersetzen.
Die große Sorge vor deutscher Wiederbewaffnung kam in Polen selbstverständlich nicht von ungefähr: Der beklagte deutsche Revisionismus war so real wie Teil sozialistischer Propaganda. Zugleich diente der Anschluss an staatliche Narrative auch der Abgrenzung von der katholischen Mehrheitskirche, die als deutschfreundlich galt. Die polnischen Protestant:innen inszenierten sich dagegen als die ‚nationalere‘ und damit auch ‚loyalere‘ – und ‚friedlichere‘ Konfession. Das schützte sie in den folgenden Jahren nicht vor massiven Repressionen und Einschränkungen durch die stalinistische Regierung. Als sich die Situation seit 1956 etwas entspannte, war es wiederum die Friedensthematik, mit der es der Evangelisch-Augsburgischen Kirche gelang, aus der Isolation auszubrechen und ausländische Kontakte, insbesondere zu Kirchen sozialistischer Nachbarländer, aufzunehmen und den „Kampf für den Frieden“ stärker zu institutionalisieren, etwa in der seit 1958 durch den tschechischen Theologen Josef Hromádka organisierten Christlichen Friedenskonferenz.
Theolog:innen, die sich für den ‚Frieden‘ einsetzten, gerieten schnell in den Verdacht, ‚vom Osten her‘ beeinflusst zu sein.
Wie erfolgreich die sowjetische Vereinnahmung des Friedensbegriffs war, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass Theolog:innen, die sich für den ‚Frieden‘ einsetzten, schnell in den Verdacht gerieten, ‚vom Osten her‘ beeinflusst zu sein. Dass das politisch hochbrisant war, zeigt beispielsweise ein Brief Walter Strauß‘, Staatssekretär im Justizministerium, an Eugen Gerstenmaier, CDU-Mitglied und Mitglied der Synode der EKD, vom September 1951: Strauß bat, disziplinarische Maßnahmen gegen den Darmstädter Studierendenpfarrer Herbert Mochalski zu prüfen, der zu einer Diskussionsveranstaltung zur Verteidigungspolitik eingeladen hatte. Er unterstellte Mochalski „Aufhetzung der Jugend gegen die Politik der Bundesregierung“ und vermutet „östliche Einflüsse“. In diesem konkreten Fall scheint die Kirchenleitung nicht reagiert zu haben – Mochalski hatte mit Martin Niemöller als Kirchenpräsident der Hessen-Nassauischen Kirche einen starken Fürsprecher. Unter kritischer Beobachtung blieb Mochalski, der ab 1961 auch an der Christlichen Friedenskonferenz beteiligt war, dennoch.
Den Vorwurf, sich mit ihrem Einsatz für den Frieden vor den Karren sowjetischer Propaganda spannen zu lassen, ließen sich bei weitem nicht alle gefallen, wie sich anhand von Aussagen Gustav Heinemanns zeigen lässt: Heinemann war Präses der EKD-Synode und Innenminister in der Regierung Adenauer, bis er im August 1950 wegen Differenzen mit Kanzler Adenauer in der Wiederbewaffnungsfrage zurücktrat. In der Folgezeit engagierte er sich als entschiedener Gegner der Wiederbewaffnung, wollte aber zugleich keinesfalls als Freund der Sowjetunion wahrgenommen werden. Auf dem Kirchentag 1951 in Berlin mahnte er, die Kirche dürfe „kein Propagandainstitut“ für jede Art von Frieden werden und sich daher nicht zum Werkzeug der Friedenspropaganda der Sowjetunion machen lassen.
Die Kirche dürfe „kein Propagandainstitut“ für jede Art von Frieden werde.
Häufig wollte man die Option gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands als klar kontextuell gebundene, nicht aber als radikalpazifistische Position verstanden wissen: Der aus späteren Zeiten als Friedensaktivist bekannte Theologe Helmut Gollwitzer betonte auf dem Stuttgarter Kirchentag 1952, die Verteidigung des Rechtsstaats sei notwendigerweise auch mit Waffengewalt nötig. Im noch „tief kranken“ deutschen Volk seien allerdings die „Geister der Rachsucht, des Größenwahns und der Machtlust“ groß – eine Wiederbewaffnung zum jetzigen Zeitpunkt daher abzulehnen. Gollwitzer kritisierte Tendenzen in Ost wie in West: Im Osten herrsche Heuchelei vor, wo man sich selbst als Friedensstifter anpreise. Im Westen dagegen dominiere das Interesse an wirtschaftlicher Konjunktur, die man auch mit Hilfe von Aufrüstung erreichen zu können meine, und die besonders unter Vertriebenen gehegte Illusion, mit Krieg die verlorene Heimat zurückgewinnen zu können. In dieser Atmosphäre wachsenden Hasses stehe die Kirche in besonderer Verantwortung, Politiker an ihre „Friedenspflicht“ zu erinnern und Brückenbauer zu sein.
Der Kalte Krieg – auch ein Deutungskampf um den Friedensbegriff.
„Jeder will den Frieden, aber die Begriffe sind verschieden“, äußerte ein theologischer Laie mit Namen Gottschalk auf dem Leipziger Kirchentag 1954. Er brachte damit zum Ausdruck, wie wenig geklärt war, was „Frieden“ eigentlich ausmachte und wie er gesichert werden könne – auch wenn nach 1945 großer Konsens herrschte, das Krieg verhindert werden müsse und auf keinen Fall theologisch begründet werden dürfe. Der Friedensbegriff wurde vereinnahmt, zurückgefordert und neu besetzt. Er konnte Allianzen schmieden und Gräben vertiefen. Der Kalte Krieg war somit auch ein Deutungskampf um den Friedensbegriff.
Dr. Thea Sumalvico ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren Kirchengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und arbeitet an einem Habilitationsprojekt zu friedensethischen und blockpolitischen Debatten nach 1945.
Bild: Deutscher Evangelischer Kirchentag – Leipzig 1954, Eröffnungsgottesdienst in der ersten Reihe u.a.: v.r.: Heinrich Giesen, Generalsekretär des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Präses Reimer Mager (4.v.r.), Johannes Dieckmann, Präsident der Volkskammer der DDR, Otto Dibelius, Ratsvorsitzender der EKiD, Otto Nuschke, Stellvertretender Ministerratsvorsitzender, Reinhold von Thadden-Trieglaf, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Hanns Lilje (mit Barett), Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche von Hannover,
Bestand: AEKR Düsseldorf 8SL 046 (Bildarchiv), 13_19540707 / Wikicommons