Die Frage der Transsexualität ist im Bereich der Theologie wenig behandelt. Eine Tagung am Fachbereich Evangelische Theologie (Frankfurt) brach mit dem Tabu. Der Beitrag von Mareike Antoni (Tübingen) führt in die wichtigsten Themen der Tagung ein, deren Beiträge jetzt in Buchform vorliegen.
Die mediale und öffentliche Präsenz der Thematik Transsexualität nahm und nimmt seit einigen Jahren kontinuierlich zu. Insbesondere transidente Personen jüngerer Generation engagieren sich in unterschiedlicher Weise für eine zunehmende Aufklärung, sei es nun auf den Kanälen sozialer Medien oder durch ehrenamtliches Engagement in der Bildungsarbeit an Schulen oder bei Fortbildungen. Ungleich überzeichnet, vorurteilsbelastet und schräg fallen die gegenwärtigen Vorstellungen über das Leben von transidenten Menschen aus, wie sie nach wie vor in den Köpfen vieler kursieren und in medialen Berichterstattungen anzutreffen sind. Offenes und kritisches Interesse kann entsprechend nur durch Darstellungen und Informationen jenseits des Sensationellen und aufregend Exotischen bedient werden. Alles andere wäre unzureichend.
Gegenwärtige Vorstellungen über das Leben von transidenten Menschen sind überzeichnet, vorurteilsbelastet und schräg.
Währenddessen scheint man sich auf Seiten des katholischen Lehramtes – zumeist mit besonderem Fokus auf die Frage der Ehefähigkeit (oder der Zulassung zum Priesteramt) – auf die Feststellung all dessen zu beschränken, was für Menschen mit transidentem biographischen Background nicht geht.[1] In den Gefilden der katholischen Theologie finden sich im deutschsprachigen Raum vereinzelte Beiträge, die v.a. auf eine noch ausstehende ausführlichere Auseinandersetzung von Theologie und Transsexualität aufmerksam machen.[2]
Einen großen Vorstoß wagte die vom ev. Theologen Gerhard Schreiber organisierte Tagung an der Goethe-Universität in Frankfurt, die im vergangenen Jahr zu einem interdisziplinär und international angelegten Diskurs über Transsexualität einlud. Wertvoll machte die Tagung besonders die Konstellation der Teilnehmenden, bestehend aus den Vertreter*innen verschiedenster Wissenschaften, Expert*innen aus und in der Begleitung transidenter Personen, zudem aus Menschen, die sich selbst in unterschiedlicher Weise dem Trans*Spektrum zugehörig fühlen, und weiteren Interessierten.
Die Vor- und Erträge sowie die Diskussionen der Tagung sind in dem im Herbst 2016 erschienen Tagungsband „Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften – Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven“ (herausgegeben von Gerhard Schreiber) zusammengeflossen und auf den Punkt gebracht.
In diesem werden aktuelle Diskurse – sowohl im interdisziplinären Bereich wie auch innerhalb der vertretenen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen – ebenso wie die für die gesellschaftliche, kirchliche, theologische, medizinische und juristische Praxis noch dringend ausstehenden Veränderungen hin zu einem entpathologisierten Umgang mit Transsexualität verdeutlicht.
Vielfalt der Herangehensweisen und Perspektiven, die der Vielschichtigkeit und Komplexität der Thematik als solcher entspricht.
Bemerkenswert ist die Vielfalt der Herangehensweisen und Perspektiven, die der Vielschichtigkeit und Komplexität der Thematik als solcher entspricht: So beginnt die transidente Biographie im individuellen Erleben des einzelnen Menschen und stellt dementsprechend Anfragen an ein grundlegendes Identitätsverständnis einer Person sowie an anthropologische Grundüberzeugungen. Sie geht über in das soziale Beziehungsgefüge und der Begegnung mit dem Anderen, trifft auf juristische Aspekte (beispielsweise im Rahmen einer Namens- und Personenstandsänderung) und reicht bis hin zu ethischen und medizinethischen Herausforderungen.
Dementsprechend finden sich im Tagungsband neurowissenschaftliche Konzepte zu Transsexualität (beispielsweise gedeutet als neuronale Intersex Condition) ebenso wie kulturwissenschaftliche Erkenntnisse über ein Phänomen, das seit je her in unterschiedlichsten Kulturen anzutreffen ist. In zwei Beiträgen schildern Frauen mit transidenter Biographie ihre Erfahrungen als Pastorinnen in der Evangelischen Kirche: Zwischen Brüchen und Aufbrüchen führte der Weg der einen aus der Kirche hinaus, während die andere bis heute als Pastorin tätig ist. Begleittherapeut*innen und eine Krankenhausseelsorgerin zeigen nochmals völlig andere Perspektiven auf, die vom täglichen Umgang mit transidenten Personen, der Kenntnis um deren individuelle Lebens- und Leidenswege zeugen. Die teils kontroversen Beiträge aus den Kontexten der Philosophie und Theologie zeigen in vielfältiger Weise, wie sich die Thematik in unterschiedlichen Konzepten denken und integrieren lässt.
Wer sich als Leser*in für einen spezifischeren Zugang und Einzelfragen interessiert, wird hier ebenso fündig wie Leser*innen, die einen basalen Rundumblick suchen. Die einzelnen Beiträge setzen unterschiedliches Wissen voraus: Einige vermitteln grundlegende und einführende Informationen zur Transsexualität, andere setzen bereits bei fortgeschrittenerer Kenntnis an, sodass ein grundlegendes Verständnis bereits vorausgesetzt wird.
Respektvolles Sprechen von Transsexualität.
Neben der genannten Perspektivenvielfalt liegt eine der Hauptstärken des Tagungsbandes in einer konsequent selbstverständlichen und unspektakulären Darstellung sowie im respektvollen Sprechen von Transsexualität: Dies unterscheidet die einzelnen Beiträge nach wie vor von einer erstaunlichen Vielzahl anderer gegenwärtiger Veröffentlichungen und Äußerungen zum Thema, die mit der Tendenz auftreten, anstelle des (ganzen) Menschen lediglich exotische und spektakelhafte Facetten hervorheben.
Dabei bleibt der Grundton des Tagungsbandes nicht allein bei der Feststellung von Transsexualität als einer natürlichen Variante menschlicher geschlechtlicher Identität stehen. An vielen Stellen der Beiträge zeigen die Autor*innen potentielle Anknüpfungspunkte und das weiterführende, kreative Moment der damit verbundenen Anfragen für den je eigenen Fachbereich.
In Theologie und Kirche ist aber eine Erfahrung der Erfahrungslosigkeit mit Transidentität und vielen Formen des konkreten Andersseins unübersehbar.
So lassen sich auch in der bis dato noch wenig mit der Thematik in Berührung gekommenen Theologie bedeutungsträchtige Begriffe und eigene (ethische) Ideale und Ansprüche auf den Prüfstein stellen. Mathias Wirth fasst im Fazit seines Beitrages den aktuellen Stand der Dinge zusammen: „In Theologie und Kirche ist aber eine Erfahrung der Erfahrungslosigkeit mit Transidentität und vielen Formen des konkreten Andersseins unübersehbar; bis auf wenige Ausnahmen finden sich keine Thematisierung und erst recht keine Antworten“[3]. Zugleich verweist auch er auf das Potential und die Möglichkeiten einer „nicht-sensationelle[n] Würdigung von Andersheit“[4], die bereits im gesamten Projekt der Tagung und des zugehörigen Bandes in einer gewissen Pionierstellung zum Ausdruck kommt.
Vor den Beiträgen des Tagungsbandes als „Kontrastfolien“ wird umso deutlicher, dass im Weiteren auch die katholische Kirche herausgefordert ist und bleibt, in diesem Kontext die Glaubwürdigkeit ihrer Sendung zu allen Menschen, besonders zu den marginalisierten und suchenden, zu erweisen. Eine vorverurteilende Pathologisierung transidenter Menschen unter gleichzeitig recht konsequenter Ausblendung heutiger Erkenntnisse der Forschung – welche von eher geringer Sensibilität für die bestehenden Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Leiderfahrung betroffener Personen zeugen – dürfte durch vertiefte Beschäftigung mit Transsexualität als einer Normvariante geschlechtlicher Identität abgebaut werden können.
Vor diesem Hintergrund motiviert und ermutigt „Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften“ umso mehr zu einem vorurteilsfreien Zugehen auf die Thematik auch im Bereich von katholischer Theologie und Kirche.
Wer nach dezidiert theologischen Anstößen in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Transsexualität sucht, wird in diesem Tagungsband mit Impulsen verschiedenster Perspektiven aus der Lektüre gehen und gleichzeitig das bestehende Vertiefungspotential in der Theologie vor Augen haben.
Literatur: Schreiber, Gerhard (Hrsg.), Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften. Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven, Berlin – Boston 2016
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu Förster, Peter, Transsexualität und ihre Auswirkungen auf die Ehefähigkeit. Eine kanonistische Untersuchung (Kanonistische Reihe, Bd. 24), Sankt Ottilien 2013. Darin besonders S. 125-127.
[2] So stellte zuletzt auch Stephan Goertz in seinem kürzlich veröffentlichten Artikel den Nachholbedarf der katholischen Theologie in ihrer Auseinandersetzung mit Transsexualität als menschliche Geschlechtsidentität fest. Goertz, Stephan, Transsexualität. Ein katholisches Upgrade, in: Herder Korrespondenz 5/2017, S. 27-30.
[3] Wirth, Mathias, „Der dich erhält, wie es dir selber gefällt.“. Transidentität als Ernstfall Systematischer Theologie, in: Schreiber, Gerhard (Hrsg.), Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften. Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven, Berlin – Boston 2016, S. 501.
[4] Ebd., S. 501.
Mareike Antoni studiert Katholische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist dort als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Praktische Theologie tätig. Sie hat die Tagung als Teilnehmerin besucht.