Mit seiner Doktorarbeit „Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie“ leistet Martin Steiner einen Beitrag zur theologischen Antisemitismusforschung. Hier gibt er einen Einblick in die Ergebnisse seiner Arbeit.
Die jüdische Jesusforschung ist christlicherseits vielfach unbekannt. In meiner Forschungsarbeit[1] habe ich ausgewählte voneinander teils stark abweichende Jesusbilder untersucht, die von der Antike bis zur Gegenwart reichen, und für eine dialogische Christologie entfaltet.
Die zehn Thesen von Seelisberg
Ein Anstoss zur Auseinandersetzung mit der jüdischen Jesusforschung ging 1947 von der Seelisberg-Konferenz aus.[2] Dort wurden die bekannten zehn Seelisberger-Thesen verabschiedet, die in der zweiten These das Judesein Jesu für die christlichen Adressat:innen hervorheben, um es ihnen in Erinnerung zu rufen. Entstanden sind die Thesen aus den Vorarbeiten des französischen Historikers Jules Isaac (1877–1963). Ohne seine Anregungen bei einer Privataudienz am 13. Juni 1960 bei Papst Johannes XXIII. wäre es wohl nie zu einer Erklärung Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils gekommen.
Das Judesein Jesu für die christlichen Adressat:innen hervorheben.
Sich des Judeseins Jesu bewusst zu sein, ist eine Sichtweise, die Jules Isaac mit der jüdischen Jesusforschung teilt. Er schätzte sehr die erste auf Hebräisch verfasste wissenschaftliche Jesus-Studie (1922) von Joseph Klausner (1874–1958), die als beachtliches exegetisches Werk jüdischer Jesusforschung vor der Shoah gilt. Historisch und theologisch fanden die jüdischen Wurzeln Jesu und des Christentums bei der Weitergabe des christlichen Glaubens eine unzureichende Beachtung. Eine markante Veränderung brachte die Aufklärung vorerst auf exegetischer Ebene. Christologische Ansätze, die Jesus Christus und sein Judesein berücksichtigten, folgten leider erst nach der Shoah.
Aufklärung als exegetischer Wendepunkt
Und ist denn nicht das ganze Christenthum
Aufs Judenthum gebaut? Es hat mich oft
Geärgert, hat mich Thränen genug gekostet,
Wenn Christen gar so sehr vergessen konnten,
Daß unser Herr ja selbst ein Jude war.
(Klosterbruder Bonafides, in Lessings Nathan der Weise, 1779)
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) liess bereits zur Zeit der Aufklärung den Klosterbruder Bonafides aussprechen, was die christlichen Theologien nur langsam in den darauffolgenden Jahren anerkannten: Dass Jesus Christus selbst ein Jude war. Bis zur Aufklärung wollten Christ:innen mit dem Juden Jesus nichts oder bloss marginal zu tun haben. Im kollektiven christlichen Gedächtnis war Jesus kein Jude, der sein Judentum lebte. Vielmehr war er für sie der Christ schlechthin. Dass das westliche Christentum Jesus als Juden (wieder-)entdeckte, war ein Prozess, der mit der Aufklärung begann und sich auch den heute in der christlichen Theologie weniger bekannten jüdischen Annährungen an den Nazarener verdankt. Damit ist die jüdische Jesusforschung gemeint, die im Kontext von jüdischer Aufklärung (Haskala), Emanzipation, und der „Wissenschaft des Judentums“ entstand.
Im kollektiven christlichen Gedächtnis war Jesus kein Jude, der sein Judentum lebte.
Der Einsatz der historisch-kritischen Methode in der Bibelwissenschaft unterstrich die Existenz Jesu als Jude, der zur Zeit des Zweiten Jerusalemer Tempels gelebt hatte. Das Grundergebnis ist heute eine exegetisch-historische Binsenwahrheit: Jesus war Jude. Wie schwierig jedoch eine soziokulturelle, religiöse und politische Einordung dieses Juden der Antike war, zeigen eindrücklich die sogenannten drei Phasen der historisch-kritischen Jesusforschung. Dabei sei nur auf das problematische „Differenzkriterium“ verwiesen, mit dem Jesus für ein Oppositionsdenken christlicher Theologen gegenüber seinem Judentum dienen sollte. Man meinte, authentische Jesusüberlieferung entdeckt zu haben, wenn in Bezug auf Jesus alles ausgeschnitten wurde, was aus dem Judentum oder dem Urchristentum ableitbar war. Das Judentum diente als dunkle Kontrastfolie, um damit einen strahlenden Jesus der Christenheit zu präsentieren.
Das Judentum diente als dunkle Kontrastfolie.
Albert Schweitzer (1875-1965) deckte ein Strukturproblem der sogenannten christlichen Leben-Jesu-Forschung auf: Forschende projizierten ihre eigenen Ideale in die Jesusfigur. Doch selbst in Schweitzers zweifelsfrei bahnbrechenden Studie „Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (1906) fehlen jüdische Perspektiven auf Jesus, wie jene von Moses Mendelssohn, Abraham Geiger oder Leo Baeck. Und dies, obwohl – nebenbei bemerkt – seine Frau Helene (1879–1957) aus einem jüdischen Elternhaus stammte.
Shoah als christologischer Wendepunkt
Systematisch-theologisch wurden während der Aufklärung aus dem Faktum des Judeseins Jesu noch keine christologischen Konsequenzen gezogen. Aus Lessings dramatischem Gedicht hätte bereits im Zeitalter der Aufklärung eine christologische Einsicht entstehen können – sie blieb jedoch aus. Norbert Reck erklärt dies in seinem Buch „Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums“[3] (2019) mit dem belasteten Verhältnis zwischen den beiden theologischen Disziplinen Exegese und Dogmatik. Die mit der Aufklärung einsetzende Bibel- und Dogmenkritik führte, so Reck, zu einer Unausgewogenheit zwischen irdischem Jesus und Sohn Gottes, die sich in einer dogmatischen Distanzierung vom irdischen Jesus und damit von seinem Judesein ausdrückte. Das Judesein Christi fand damit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keinen Eingang in die Christologien der Kirchen. Es fehlte an dialogfähigen Wissenschaftler:innen innerhalb der Theologie, wie auch am Gespräch mit jüdischen Vertreter:innen. Nicht die Aufklärung, sondern leider erst die Shoah brachte ein christologisches Umdenken.
Unausgewogenheit zwischen irdischem Jesus und Sohn Gottes
Elie Wiesel (1928–2016) formulierte provokant und für Christ:innen beunruhigend: „Der nachdenkliche Christ weiss, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.“[4] Der Berliner Dogmatiker Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928-2002) war einer der ersten Pioniere, die ein Umdenken auf protestantischer Seite einforderten; auf katholischer Seite war es Johann Baptist Metz (1928–2019), der sagte: „Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück, über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.“[5]
„Dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.“
Warum es nach der Shoah eine neue Christologie benötigte, formulierte Marquardt so: „Die bisherige kirchliche Dogmatik hat mit Jesus von Nazareth die Offenbarung der ,Menschlichkeit Gottes‘ verbunden, aber ein Zeugnis einer Gott verbundenen und von Gott verpflichteten Menschlichkeit der Menschen, auch nur der Christus Glaubenden, ist in der Zeit der Judenvernichtung daraus nicht geworden.“[6]
Jüdisch-christlicher Dialog
In der jüdisch-christlichen Verständigung bedurfte es nach dem Zweiten Weltkrieg großer Anstrengungen. Dass danach der jüdisch-christliche Dialog überhaupt eine Erfolgsgeschichte geworden ist, lag daran, dass es dialogfähige Menschen wie Jules Isaac gab, der sich mit dem Christentum auseinandersetzte, um die Theologie vom Antijudaismus zu befreien und von einer „Lehre der Verachtung“ zu einer „Lehre des Respekts“ zu gelangen. Eine dialogische Christologie berücksichtigt die jüdische Jesusforschung und jüdische Gesprächspartner:innen. Sie ist antisemitismussensibel, weil sie sich der eigenen antijudaistischen Traditionen der Vergangenheit bewusst bleibt, und versucht damit einen Teil zur Antisemitismusbekämpfung beizutragen.
Dr. Martin Steiner studierte Theologie, Judaistik und Religionspädagogik in Wien, Jerusalem, Fribourg und Luzern. Er lehrt und forscht am interfakultären Institut für Jüdisch-Christliche Forschung an der Universität Luzern. Seine Dissertation „Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie“ erscheint im Herbst 2024. Seit 2017 betreut er die jährlichen Gastprofessuren der Daniel Gablinger-Stiftung am IJCF, u.a. Aleida und Jan Assmann, Tom Segev und Elisa Klapheck. Mehr Infos zum IJCF finden sie hier.
Beitragsbild: Stacey Franco / unsplash
[1] Erscheint im Hebst 2024 im Kohlhammer Verlag: Martin Steiner, Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie, Stuttgart 2024.
[2] Zum aktuellen Forschungsstand der Seelisberg-Konferenz (1947), siehe chronologisch: Verena Lenzen, Art. Seelisberg, in: EJCRO (2020) [DOI: 10.1515/ejcro.8603592]; Jehoschua Ahrens, Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited: Die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und in Kontinentaleuropa, Berlin / Münster (= Forum Christen und Juden 19); Norman C. Tobias, Jewish Conscience of the Church: Jules Isaac and the Second Vatican Council, Cham 2017; Christian M. Rutishauser, Christlichen Glauben denken: Im Dialog mit der jüdischen Tradition, Wien 2016 (= Forum Christen und Juden 15), 20–31; Ders., The 1947 Seelisberg Conference: The Foundation of the Jewish-Christian Dialogue, in: SCJR 2/2 (2008), 34–53 [DOI: 10.6017/scjr.v2i2.1421]; André Kaspri, Jules Isaac ou la passion de la vérité, Paris 2002.
[3] Norbert Reck, Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums: Zum Riss zwischen Dogma und Bibel: ein Lösungsvorschlag, Ostfildern 2019.
[4] Elie Wiesel, zit. nach: Reinhold Boschki, Elie Wiesel: Ein Leben gegen das Vergessen, Erinnerungen eines Weggefährten, Ostfildern 2018, 131.
[5] Johann Baptist Metz, Christen und Juden nach Auschwitz: Auch eine Betrachtung über das Ende bürgerlicher Religion, in: Metz, Johann Baptist (Hg.), Jenseits bürgerlicher Religion: Reden über die Zukunft des Christentums, München / Mainz 1980 (= Gesellschaft und Theologie: Forum politische Theologie 1), 29–50, hier: 31, 47.
[6] Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden: Eine Christologie, Bd. 1, Gütersloh 1990, 105.