Bertram Schirr analysiert für feinschwarz einen der ersten Weihnachtswerbespots des Jahres.
Der aktuelle LIDL-Weihnachtsspot „Einfach Weihnachten – Entspannte Weihnachtszeit mit LIDL lohnt sich“ reicht nicht an die narrative Kompetenz der britischen oder u.s.-amerikanischen Weihnachtsspots heran, wie sie Ketten wie Waitrose oder John Lewis hochaufwändig und preisgekrönt entwickeln. Das will der Spot auch gar nicht, er hat eine andere Strategie. Die Tradition von eigenen identitätsstiftenden, komplexen Weihnachtsnarrativen für Retailer ist in Deutschland noch jung, der Marktführer Edeka hat mit der bekannten Agentur Jung von Matt seit 2015 im Spot #heimkommen angefangen, die britische Tradition ernsthaft zu rezipieren. Aldi zieht spätestens 2019 mit „Heilige Nachtschicht nach“. Der LIDL-Spot ist aufschlussreich, weil er wieder gegen ein dramaturgisch und mit Dialog ausgeformtes Format geht und voll auf Effekte und Überlagerung und Zitate setzt.
identitätsstiftende, komplexe Weihnachtsnarrative für Retailer
Zurück zur Überforderung
Es geht wieder um visuelle Überwältigung durch hohe Bildtaktung und Anspielungen und akustische Besänftigung. Der 1,15 Minuten lange Spot beginnt mit einer Nahaufnahme von kandierten Äpfeln und zieht hoch auf drei in aktuellen Anzugschnitten weiß gekleidete Personen mit Sonnenbrille und Anhängeengelsflügeln, die mit ihren Handys livestreamen, lachen, auf sich selbst fixiert. Kostümierte Engel. Die Motorradstiefel von einer Person mit Weihnachtskostüm verschwinden im Qualm der durchdrehenden Räder. Kostümierter Santa-Lärm.
Weihnachten ist zu laut, Weihnachten ist zu hell. Weihnachten ist kaputt und macht dich kaputt.
Ein Kleinwagen mit viel zu großem Baum mit eingeschalteter Beleuchtung erinnern an Mister Beans Weihnachtseskapaden und Baumdiebstahl in „Merry Christmas, Mr. Bean“. Der Fahrer brüllt. Eine Schachtel mit Kugeln wird beim Anrempeln geöffnet. Die goldenen und roten Kugeln sind kaputt. Ein rothaariger Junge schreit mit ganzem Lungeneinsatz durch Lebkuchenherzen und Lutscher. Weihnachte ist selbstverliebt, Weihnachten ist zu laut, Weihnachten ist zu hell. Weihnachten ist kaputt und macht dich kaputt.
Xmas-Covers – I’m easy like Christmas Morning im 90er Jahre Defätismus-Chique
Überlagert wird das Stress-Arrangement von dem Commodores Hit „Easy“, ge-covert und erfolgreich geworden von der Band „Faith No More“ im Jahre 1992. Niemand anders als Lionel Richie ist für diesen Inhalt, angekommen im Lidl-Spot 2022, verantwortlich. Hier ist wieder eine Cover-Version eingebunden mit dem Auftreten des Retters dieses Spots: „Ich weiß, es ist komisch, aber ich kann den Schmerz nicht haben, ich hab meine Schulden abbezahlt“ – und witzigerweise ist das eine, glaube ich, wirklich rein zufällige Resonanz mit klassisch-soteriologischen Aussagen des Auftrags Jesu.
„ich kann den Schmerz nicht haben, ich hab meine Schulden abbezahlt“
Wirklich, wirklich, geht es in der langsamen Ballade über die Gefühle eines Mannes, nachdem eine Beziehung scheitert: Hier die Beziehung zu Weihnachten. Stattdessen ist er „easy like Sunday Morning“, damit meint Richie, entspannt wie Sonntagmorgen in einer Südstaatenstadt an einem Samstagabend, genau genommen seine Heimatstadt Tuskegee (auf dem gleichnamigen Album erscheint auch die Neuaufnahme zusammen mit Willie Nelson, der wiederum unserem Retter SEHR ähnlich sieht). Denn diesmal ist der Retter ein Kiffer (Refrain: „I wanna get high, sooo high“).
Der Jesus-Dude
Auftritt: Der Jesus-Dude, im Schlabbermantellook. Ein Filmzitat aus dem kommerziell zunächst erfolglosen, aber kulturell hocheinflussreichen Klassiker „The Big Lebowski“ der Coen-Brüder. Der Lidl-Dude setzt in dieser Szene genauso wie Jeff Bridges seine Sonnenbrille gegen den Stress der Weinachtsgegen-Gegenwart ein, setzt sie als Schutz auf. Das Licht des Kommerzweihnachten muss ausgeblendet und abgewehrt werden.
Licht des Kommerzweihnachten ausgeblendet und abgewehrt
Bewaffnet mit dezenten braunen Lidl-Packpapiertüten geht unser Protagonist mit einer anderen Geschwindigkeit, unbeeinflusst und unbeschadet von Hektik, Lärm und Gefahr durch die Straßenszene des Spots. Durch die langen Haare und den Bart, seit dem Jesus Pantokrator des 6. Jahrhunderts ikonographisch eingeimpft bis zu Walter E. Salmans „Head of Christ“ aus den 1940er Jahren, der überall in den USA hing und den so weiß gewordenen und erst jetzt auch in Deutschland ernsthaft dekonstruierte Jesus manifestierte – sehe übrigens erstmal nur ich Jesus. Andere sehen bestimmt eher den Dude. Und der Dude ist selbst ein Neuentwurf von Jesus-Ikonographie im Los Angeles des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Neo-Dudeismus
Die Lidl-Dude-Kopie ist ein bisschen hypermaskuliner als das Original. 35% mehr Chris Hemsworth etwa. Ein Filmzitat aus Tom Cruise’s Reinrutschen in den Raum aus „Lockere Geschäfte“, der ugly Christmas Sweater mit Beleuchtung und der Höhepunkt der bourgeoisen Biedermeier-Weihnachtstheologie, das Blockflötensolo unterm Baum, lenken nicht davon ab: Die Rettung liegt im gemeinsamen Essen. Lobend, begeistert-entrückt erhöht der Käse und das rote Fleisch (was da gegessen wird, ist übrigens nichts Klassisches) die Menschen und sorgt für Ruhe.
Die Rettung liegt im gemeinsamen Essen.
Spannender ist, dass Lidl den sogenannten Dudeismus direkt in das eigene Weihnachts-Pastiche einbaut. Die Lebensweise des Dudes in „The Big Lebowski“ ist selbst zusammengefügt aus kalifornischer Kifferkultur, Taoismus, westlicher Zen-Variationen u.a. Dazu gibt es schon eine eigene Religion, den Dudeismus mit 70.000 Mitgliedern, mit den Sakramenten Bowling, White-Russians-Trinken und Gras rauchen. Oft sind die Dude-Anhänger als Mose und der Papst gekleidet, beide werden in Dialogen im Originalfilm erwähnt. Es gibt 10 Dude-Gebote, klar. Und der Film hat immer wieder religiöse Elemente wie das neu-entdeckte Judentum von Walter, („I don’t roll on Shabbas!“) oder der Klassiker John Torturro „Nobody fucks with the Jesus“ – und die Auseinandersetzung der beiden über das Bowlen am Feiertag.
Lebensweise des Dudes in „The Big Lebowski“
Die Kirche der letzten Tage des Dudes
Wie Jesus wird der Dude aber auch im Film, genauer in der finalen Sequenz beschrieben als „taking her easy for all us sinners“, also als Heilsmittler in stellvertretendem Entspannen.
Der Dude hält es aus, erträgt es, bleibt, verweilt, harrt, besteht fort.
„The Big Lebowksi“ wurde als Reiteration der Suche nach dem Heiligen Gral, der alles wieder in Einklang bringt, beschrieben. Nur ist es hier ein Teppich, der den ganzen Raum zusammen bindet, das Mundäne und das Göttliche zusammenhält. Im Lidl-Spot steht der Esstisch auf dem großen zentralen Teppich. „The Dude abides“ – das ist die Einstellung für Weihnachten, derer sich Lidl hier bedient, im Deutschen „der Dude packt das“. Im Englischen etwas komplexer: Der Dude hält es aus, erträgt es, bleibt, verweilt, harrt, besteht fort. Der Jesus-Dude muss uns helfen die Überforderung seines Festes zu ertragen, in dem er für uns kocht. Da die Lidl-Weihnachtstheologie stehen, mit den Worten des Gründers der Church of the Latter-Day Dude: „eine Religion, die Nicht-Predigen predigt, so wenig wie möglich praktiziert und was am wichtigsten ist… hab ich jetzt vergessen“ (dudeism.com). Ach ja, Essen kaufen, würde die Agentur hinter dem Spot für Lidl sagen.
Bild: Paul Kim / unsplash
Dr. Bertram Schirr ist evangelischer Gemeindepfarrer in der Kirchengemeinde Alt-Tempelhof und Michael in Südberlin.