Ein Beitrag von Michael Haspel zum 125. Geburtstag von Howard Thurman (18. November 1899 bis 10. April 1981) und dem 75. Jahrestag des Erscheinens von dessen Buch: „Jesus and the Disinherited“.
Howard Thurman war wohl einer der einflussreichsten Schwarzen Theologen in Nordamerika im 20. Jahrhundert, ein Vordenker des aktiven gewaltfreien Protests und ein wichtiger Mentor von Martin Luther King, Jr. und der Bürgerrechtsbewegung insgesamt. Zwischen 1944 und 1979 publizierte er 20 theologische Bücher und zuletzt seine Autobiographie. Etliche davon sind noch heute im Druck. „Jesus and the Disinherited“ gilt als Klassiker und Bestseller. Martin Luther King, Jr. soll es stets bei sich getragen haben. Keines dieser Werke ist allerdings je auf Deutsch erschienen. Auch im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL) sucht man vergebens einen Eintrag.
Thurman wurde kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende in Daytona Beach, Florida, in einfachen Verhältnissen geboren. Sein Talent wurde glücklicherweise erkannt und gefördert, so dass er als einer der wenigen Afro-Amerikaner einen Highschool-Abschluss machen und am traditionell Schwarzen Morehouse College in Atlanta studieren konnte. Schon während dieser Zeit und dann auch am Rochester Theological Seminary, das er ab 1923 besuchte, entwickelte er eine umfangreiche Predigt-, Lehr- und Vortragstätigkeit. Darüber hinaus engagierte er sich vielfältig, unter anderem im CVJM und Versöhnungsbund.
Akademische Lehre, pastorale Arbeit und ökumenische Weite
So ist es nicht verwunderlich, dass er nach einer kurzen Tätigkeit als Gemeindepfarrer an die Schwesterncolleges Morehouse und Spelman nach Atlanta zurückberufen wurde. Noch mit 28 Jahren wurde er Professor für Theologie und Verantwortlicher für das geistliche Leben. Damit beginnt eine produktive Karriere, die an drei wichtigen Stationen akademische Lehre, pastorale Arbeit und ökumenische Weite miteinander verknüpft.
Als Dean der Rankin Chapel und Professor für Theologie an der Howard University, der ältesten historisch Schwarzen Universität der USA, experimentierte er mit spirituellen Dimensionen und Formaten. So bezog er Tanz, Theater und bildende Kunst in die Gottesdienste ein, und öffnete sie über konfessionelle Grenzen hinaus. Thurmans Zeit an Howard fiel in die prägende Amtszeit Mordecai Johnsons, des ersten Schwarzen Präsidenten von Howard. Unter seiner Ägide wurden die Geschichte Afrikas und der Afro-Amerikaner:innen umfassend erforscht und gelehrt, ein Feld, das noch ganz am Anfang stand.
In diesem Kontext sind Thurmans Dokumentationen und Analysen der Spirituals und „Sorrow Songs“ der versklavten Schwarzen zu verstehen, wie sein Buch Deep River: Reflections on the Religious Insight of Certain of the Negro Spirituals (1945). Er etablierte die Lieder der versklavten Menschen als Kulturgüter. Die Lieder stellten eine Form der Leidverarbeitung dar, die die eigene Würde als Kinder Gottes affirmiert und die Hoffnung auf Befreiung wachhält. Diese Monographie ist bis heute eine wichtige Quelle der Alltagsreligion (folk religion) der Afro-Amerikaner:innen und ein wesentlicher Beitrag zur Wahrnehmung eigenständiger Schwarzer Kultur. Zwei wichtige Themen Thurmans klingen dabei an. Die Wahrnehmung von Religion und Spiritualität als wichtige Lebenskräfte und – eng damit verbunden – das Engagement für die Überwindung von Rassismus und Unterdrückung.
Er traf nicht nur Rabindranath Tagore, sondern auch Mahatma Gandhi.
Für sein Engagement in der Bürgerrechtsbewegung wurde seine Indienreise mit einer kleinen Delegation entscheidend. Gemeinsam mit seiner Frau, Sue Bailey Thurman, und einem weiteren Ehepaar reiste er 1936 als Repräsentant der Schwarzen amerikanischen Christen mehrere Monate auf dem indischen Subkontinent. Er traf nicht nur den legendären Dichter und Philosophen Rabindranath Tagore, sondern auch Mahatma Gandhi. Wie viele seiner Generation sah auch Thurman in Gandhi und der indischen Unabhängigkeitsbewegung ein Vorbild für den Kampf gegen die Segregation in den USA. Etliche Schwarze Intellektuelle reisten in diesen Jahren nach Indien, um die Philosophie und Praxis aktiven gewaltfreien Widerstands zu studieren. Es entwickelte sich regelrecht eine Erwartung, dass in den USA ein Schwarzer Gandhi auftrete. Als Martin Luther King, Jr. dann zur Leitfigur des Protests wurde, waren viele enttäuscht, dass es ein baptistischer Pfarrer aus dem Süden war, der diese Rolle einnahm.
Für Thurman stellten sich jedoch als Schwarzer amerikanischer Christ in einer hinduistisch geprägten britischen Kolonie ganz grundlegende Fragen: Warum glaubten die Schwarzen an den Gott der Weißen Christen, die sie versklavten, misshandelten und rassistisch unterdrückten? Wenn heute über Postkolonialismus diskutiert wird, dann sollte man sich daran erinnern, dass die postkoloniale Konstellation ja im Kolonialismus ihre Wurzeln hat und die damals strukturell verursachten Probleme bis heute fortwirken. In vielen Ländern Afrikas etwa gehört das fruchtbarste Ackerland, das im Kolonialismus einfach enteignet, oder auch gestohlen wurde, noch heute Weißen… Aber die Afrika-Reise Thurmans kommt erst später. Die theologische Herausforderung durch den Kolonialismus und später die postkolonialen Strukturen hat Thurman schon damals erkannt.
Jesus and the Disinherited
Die Erfahrungen in Indien flossen in sein wohl einflussreichstes Buch: Jesus and the Disinherited von 1949 ein. Auch wenn die wörtliche Übersetzung von „Disinherited“ die „Enterbten“ wäre, schiene mir für eine – ja noch ausstehende – Übersetzung ins Deutsche „Jesus und die Entrechteten“ angemessener. Es geht um diejenigen, die man ihres Rechts und ihrer Rechte auf menschenwürdige Existenz beraubt hat…
Im Mittelpunkt steht für Thurman die Religion Jesu, die er von der Tradition des (westlichen) Christentums mit seiner Verstrickung in die Kolonialgewalt unterscheidet. Er legt den Fokus auf Jesus als Juden – was zur damaligen Zeit keinesfalls eine Selbstverständlichkeit war. Und zwar Jesus als ein „armer Jude“. Er verbindet das mit der empirischen Beobachtung: „Die große Masse der Menschen ist arm.“ Damit hat er den hermeneutischen Schlüssel für die Religion Jesu, die er vor allem in der lukanischen Überlieferung findet. Für ihn bietet Jesus eine alternative Form des Widerstands gegen das römische Imperium: „Das Wort und Werk der Erlösung/Befreiung (redemption) für alle unterdrückten Menschen in allen Generationen und jedem Alter. […] Das Christentum, wie es im Geist dieses jüdischen Lehrers und Denkers geboren wurde, erweist sich als Überlebensinstrument der Unterdrückten.“ Für Thurman entspricht die gesellschaftliche Position Jesu derjenigen der meisten Schwarzen in den USA und den People of Color in den Kolonien. Zur biblischen Leitperspektive wird dann die alt-neutestamentliche, aus Jesaja 61 zitierte Inhaltsbestimmung des Evangeliums in Lukas 4, 18-19: »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
Rassismus und Segregation sieht er als Verletzung des Liebesgebots.
Im Zentrum steht die Liebe als Medium der Überwindung von Konflikten: „Für die Religion Jesu ist die Liebesethik grundlegend.“ Rassismus und Segregation sieht er als Verletzung des Liebesgebots, das fordert, alle Menschen gleichermaßen als Kinder Gottes anzuerkennen. Er konkretisiert dies hinsichtlich der Feindesliebe: „Feindesliebe bedeutet, dass als erstes ein fundamentaler Angriff auf den Feindesstatus erfolgen muss.“ Hier und an etlichen anderen Stellen wird deutlich, dass Martin Luther King, Jr. sich in seiner Theologie der Liebe und Gewaltfreiheit und seiner Rassismuskritik auf Thurman bezieht.
Als das Buch erschien, hatte Thurman die Ostküste schon verlassen. 1944 wurde er Co-Pastor der neu gegründeten, inklusiven Church for the Fellowship of All Peoples in San Francisco, wo er einen Ort christlicher Nachfolge schaffen wollte, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam im Geist der Nächstenliebe Gottesdienst feiern. Ein Projekt, das es so bis dahin noch nicht gab. Und es wurde ein Erfolg. Thurman trug die Botschaft der Liebe als Überwindung der Trennung von ethnischen Schranken, aber auch der sozialen und ökonomischen Ausschließung, weit über die Bay Area hinaus. Er wurde zu einer wichtigen Stimme des liberalen Amerikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Seine Frau war eine wichtige, eigenständige Partnerin bei den Projekten.
1953 übernahm er die Aufgabe des Deans der Marsh Chapel an der Boston University, die methodistische Wurzeln hat. Er war der erste Afro-Amerikaner, der eine solche Position an einer überwiegend Weißen Universität übernommen hat. Darin sah Thurman auch die große Chance und Herausforderung, die Integration an einer überwiegend Weißen Institution voranzubringen. Trotz aller Schwierigkeiten und Ressentiments gelang es ihm, die von ihm entwickelten spirituellen Formen und integrativen Konzepte in Boston umzusetzen und sie als Professor und öffentlicher Intellektueller in die universitäre und gesellschaftliche Debatte einzubringen. Auch auf dieser beruflichen Station war seine Frau eine wichtige, eigenständige Partnerin bei den Projekten, insbesondere für junge Frauen und internationale Studierende. Sie verfolgte aber auch eigene Unternehmungen. So initiierte sie etwa das Afro-Amerikanische Museum in Boston, nachdem sie zuvor schon das Aframerican Women’s Journal gegründet hatte.
Mentor vieler junger Bürgerrechtsaktivisten, nicht zuletzt von Martin Luther King.
Thurman wurde in diesen Jahren zum Mentor vieler junger Bürgerrechtsaktivisten, nicht zuletzt von Martin Luther King, dessen Promotionsstudium sich noch ein Jahr mit Thurmans Zeit in Boston überschnitt.
Vor seiner Emeritierung reisten Thurman und seine Frau Sue 1963 für mehrere Monate nach Nigeria. Im Anschluss besuchten sie Israel/Palästina. In Nigeria war er wieder mit demselben Problem konfrontiert: „Das Paradox ein Schwarzer Christlicher Geistlicher zu sein, der eine Religion repräsentiert und damit implizit verteidigt, die für viele der People of Color mit Rassismus und Kolonialismus verbunden ist.“ Drei Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes konnte er vor Ort die postkolonialen Probleme erleben.
Über seinen Eintritt in den Ruhestand hinaus hat Thurman diese Erfahrungen und seine theologischen Impulse in den Kampf gegen Rassismus und für Gerechtigkeit eingebracht. Sein theologisches Werk und sein prägender Einfluss wirken bis heute nach. Sie inspirieren viele Menschen zum Nachdenken über Glauben und Theologie und zum Einsatz für Gerechtigkeit: Bis Recht fließt wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom!
Weitere Informationen finden sich auf der Website des Howard Thurman Paper Projects der Boston University: https://www.bu.edu/htpp/
Apl.Prof. Dr. Michael Haspel lehrt Systematische Theologie an der Universität Erfurt und an der Friedrich Schiller-Universität Jena.
Beitragsbild: Wikimedia Commons