Heute vor 100 Jahren wurde Joseph Beuys geboren. Eine persönliche Erinnerung von P. Friedhelm Mennekes SJ.
Der Herbst des Jahres 1985 ist für Joseph Beuys sehr schwierig gewesen. Viele Arbeiten entstanden. Oft hielt er Reden, immer wieder riefen ihn Menschen zu Gesprächen. Aber ‒ wiederholt lag er auch mit einer Lungenentzündung krank und ermüdet zu Bett. Ein Treffen zwischen dem Autor und dem Künstler für ein weiteres Gespräch über die Aktionen war geplant, vor allem über die FLUXUS-Demonstration MANRESA (1966); es musste mehrfach verschoben werden. Schlussendlich fand es nicht mehr statt.
Geliebtes Süditalien
Im Sommer 1985 fuhr Joseph Beuys, gesundheitlich angeschlagen, in sein geliebtes Süditalien. Er suchte Erholung, neue Kräfte und Inspirationen. Seine Familie war bei ihm. Lucio Amelio, sein langjähriger Galerist und Freund in Neapel, arrangierte ihre Bleibe und sah Beuys und seine Familie öfters. Die Umgebung setzte beim Künstler eine Art melancholische Geborgenheit frei. Er ahnte und äußerte, dass es um ihn gesundheitlich schlecht bestellt war. Hin und wieder sprach er von seinem nahenden Tod. Vielleicht im biblischen Bild von Weizen- und Senfkorn, das in die Erde fällt, um Frucht zu bringen? Gleichzeitig befasste er sich schöpferisch mit Überlegungen zu anstehenden Werken.
Immer wieder einmal arrangierte Lucio Amelio ein Essen in dem einen oder anderen Gasthaus. Mehrfach äußerte der Galerist, dass die ‚Liebe zu Neapel‘ die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen den beiden Freunden war. Beuys sah im Umfeld von Neapel den faszinierenden Schauplatz ständiger ethnischer und kultureller Bewegung, dort habe man, wie er sich äußerte, „den ganzen kulturellen Hintergrund der Menschheitsentwicklung ja vor sich, … die ganzen Einflüsse … von phönizischen, sarazenischen, normannischen, keltischen, sogar von deutschen Kulturen“. Überall sei da ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den alten Kulturen und der Natur, unmittelbar, sichtbar, erlebbar, ablesbar, als wäre es tatsächlich eine große Einheit.
Scala libera
Es nahte die Zeit der Obsternte. Dann sah man hinter den Terrassen auf dem Land die typischen Ernteleitern verschiedener Größen im Umfeld der Bäume. Dieser Blick berührte Beuys. Es waren stille Momente in einer Zeit der Bewegung. Die gereiften Früchte wurden eingeholt. Irgendwann im Spätsommer war es eine besonders kleine Leiter, die den Künstler ihrer Form nach ansprach. Es war, wie man sie in Italien nennt, eine Scala libera, eine Leiter, die nicht am Stamm anlehnte, sondern frei stand. Sie wurde von einem Draht gehalten, der über sie geschlagen und an zwei schweren Steinen seitwärts angebunden war. Kundige Arbeiter konnten auf ihr stehend die Balance halten und aus freien Ästen und Zweigen die Früchte pflücken.
Beuys erwarb sie und baute dann daraus sein erstes plastisches Ensemble dieser Art, die dreisprossige Scala Libera (Oktober 1985, 190 x 37 cm). Jetzt lagen zwei große, kubische Pflastersteine rechts und links dicht an der Leiter (18 x 15 x 15 cm). Sie hielten sie mit einem Draht, der über die obere Sprosse geworfen war, senkrecht und frei stehend. Diese einfache Skulptur mit Fundstücken aus der Gegend wies über sich hinaus in die Höhe und setzte so Gedanken frei. Das Bild konnte sich in einer Phase dunkler Stimmungen vielleicht auch aus den Erinnerungen ans Obstpflücken entwinden und in einen anderen Sinn wandeln, in die Vorstellung eigener Lebensernte etwa, um rückblickende Gliederungen eigenen Lebens, um Lebensleiter oder gar um den biblischen Jakobtraum, in dem auf einer Himmelsleiter Engel auf- und niedersteigen und den Blick Gottes am einen Ende auf den Träumer am unteren zu imaginieren; es steht im Buche Genesis 28,10-22 geschrieben.
Ein Fachkollege verwies mich auf den jüdischen Kommentar von Benno Jacob, gedruckt 1934 im Berliner Verlag. Dieser Theologe war nicht orthodoxen Geistes, traute aber der modernen, wissenschaftlich und christlich geprägten Bibelkritik nicht. Mose war auch für ihn nicht der Autor der Tora, dennoch gab es für ihn in den ersten Büchern der Bibel „viel literarische Einheit und geistige Harmonie“. Danach war für Benno Jacob die Leiter im Traum „von unbekannter Hand … in die Erde … hineingesteckt“. Aber sie ist für ihn kein Bild für den Gedanken an eine objektive Verbindung zwischen Himmel und Erde. Dieses Bild habe nur mit Jakob zu tun. „So soll ihm gesagt werden, dass Gott ihn dort wie hier beschützen und die Engel ihn begleiten werden.“
Himmelsleiter
Dabei sind die aufsteigenden Engel die seiner Heimat und die niedersteigenden die der Fremde. „An der Grenze werden sie sich ablösen, denn jedes Land mit anderen Lebensbedingungen und Gefahren braucht andere Engel. (…) Die Erscheinung besagt also in einem Bilde, einer Illustration, dasselbe wie die nachfolgende Rede Gottes; die Tora hat sie eigens für diese bedeutsame Stunde geschaffen, in Mitgefühl für den verlassenen und bangenden Jakob.“ Gott verheißt ihm, dass er ihm bleibend nahesteht.
In diesem Sinn und zugleich in der plastischen Sprache dieses Kommentators steckt die Leiter plastisch fest im Boden. Das Auf und Ab der Engel steht im Zusammenhang mit den Heilungsbewegungen der Elemente in der FLUXUS-Demonstration MANRESA (1966) ‒ einer Auseinandersetzung mit den Exerzitien des Ignatius von Loyola ‒, mit dem Hinuntersteigen von Element 1 zu Element 2 und umgekehrt, dem Aufsteigen von Element 2 zu Element 1. Nur hier haben die ‚Engel‘ keine Flügel mehr, sondern stehen fest in der Konzeption von Wissenschaft und Erweitertem Kunstbegriff. In der sehr komplexen Aktion hat das Element 1 die klare Form eines Halbkreuzes. Dem modernen Menschen wird hier das Kreuz als Zeichen seiner selbst in Erinnerung gebracht, eindeutig in der Form, aber gebrochen, halbiert, kalt und erstarrt wie sein eigener Schatten. Dagegen ist in dieser Aktion permanenten Hinauf- und Hinuntersteigens das Element 2 wie ein Gegenpol in Art ruhender Potentialität, ein Haufen ‚Zeugs‘, bestehend aus Technik, Medizin, Energie, elektrischen Geräten. Unbewegt, wie weggeworfener Müll liegt die Kiste am Boden.
Wie eine ‚Kreuz-Leiter‘ lehnt dieses mehr als mannshohe Kreuz an der Wand. Doch in der Aktion MANRESA sind es drei Künstler, die das Ganze im Hinauf- und Hinunterbewegen der Gerätschaften in heilende Handlungen umwandeln und spannungsvoll miteinander verbinden, Joseph Beuys, Henning Christiansen und Björn Nörgaard. In permanenten Wiederholungen werden die Bewegungen von Beuys auf Tonband angefragt: Nun? ist Element 2 zu Element 1 hinaufgestiegen? – Nun? ist Element 1 zu Element 2 hinuntergestiegen? Wo ist die Aktion? Wo ist Element 3? Wo ist der Mensch, der sich und seine Gesellschaft aus Krankheit und Gebrochensein herausholt, erlöst? Das ‚Halb-Kreuz wird so zur Leiter‘. Die Auf- und Ab-Bewegung als Rettung, der Mensch wie die Gesellschaft ‒ in der Reinkarnation.
Weihnachten 1985
Zu Weihnachten fährt die Familie im Dezember 1985 wieder nach Neapel. Enge Freunde begleiten sie. Sie feiern gemeinsam das Weihnachtsfest. Am ersten Weihnachtstag werden sie Zeugen der konzeptionellen Entstehung einer weiteren Leiter, der Scala Napolitana, sein letztes Werk, wie es Eva Beuys gegenüber Antje von Graevenitz telefonisch ein Jahr später bestätigte. Ihrem Mann ging es sehr schlecht. Joseph Beuys spricht offen über sein nahendes Ende. Er fühlt sich stark geschwächt, hatte aber 1985, vor allem in den Monaten Oktober und November, eine große Schaffenskraft und innere Stärke bewiesen. Alle diese Arbeiten haben mit dem Tod zu tun: sehr intensiv beispielsweise Plight (1985).
Als die Gruppe in einem Restaurant sitzt, sieht Beuys wie schon einige Wochen zuvor wieder im angrenzenden Garten einige Ernteleitern an Obstbäumen gelehnt stehen. Die Ernte war vorbei. Und wieder erwirbt der Künstler durch Vermittlung von Lucio Amelio eine Leiter. Aber diesmal ist sie mehr als doppelt so groß. Das Fundstück misst 440 x 24 cm. Durch die Größe der Dimension ist eine schwere Erdverankerung nötig. Eine flexible Nutzung wie bei der Scala Libera war so kaum möglich. Darum schafft Beuys eine statische Konstruktion aus Bleikugeln, Stahlseil und Holzleiter. Beuys wählt einen straff gezogenen Stahldraht, legt über die obere Sprosse eine Schlaufe und befestigt den Draht an zwei schwere, innen aber hohle Bleikugeln. Sie liegen in der Installation weit auseinander.
bleibend in einer leichten Schräge
Mit dem starken, straff gezogenen Stahlseil kann die Leiter letztendlich bleibend in einer leichten Schräge gehalten werden, erdwärts, in der Erde befestigt, um es nochmals mit anderen Worten Benno Jacobs zu formulieren. Beuys selbst folgt diesem Gedanken. In diesem Zusammenhang ist zudem auf ein frühes Werk zu verweisen, auf seinen Turm im Meer (1951), eine Schieferplatte, die mit zeichnenden Ritzen aus dem Meer eine Leiter aufsteigen lässt, die hoch gen Firmament verweist und oben eine Art neue Stadt entstehen lässt. Eva Beuys hat darauf hingewiesen, auch darauf, dass es von diesem Werk ein Foto von Joseph Beuys gibt, das dieser selbst mit einer Camera Obscura abgelichtet hat.
Trotz der schweren Bleikugeln und starker Kräfteverteilungen durch den Stahldraht wirkt die Scala Napolitana (1985) sehr leicht. Sie steht dominant im Blickfeld. Sie ist als Installation nicht zu besteigen, aber sie ist zu bedenken. Sie verweist nach oben, als stünde sie im Begriff, sich weiter in die Senkrechte zu erstrecken, doch die Kugeln halten sie am Boden. So gesehen verschiebt sich auch diese Leiter als Kunstwerk in die Vorstellung vom Traum des Jakobs, sie transponiert sich in den Erweiterten Kunstbegriff, in das Konzept der Heilung von Mensch und Gesellschaft, des Einzelnen in seinem Leid und aller in den Brüchen der Gemeinschaft. Doch so kann Heilung beginnen und sich am Ende auch vollenden – bis hin in die Auferstehung, ein in dieser Zeit von Beuys zunehmend benutztes Wort. Eines seiner Gedichte belegt es, im Buch von Eva Beuys im Jahr 2000 dokumentiert:
Ich wäre zusammengebrochen
so gäbe es doch eine
Auferstehung durch die Sprache
Ich müsste sie sprechen und
Dadurch würden nach u. nach
Begriffe mit den Begriffen ein
Denken und mit dem Denken
Ein Bewußtsein entstehen. (1985)
Auferstehung
Im Gespräch mit dem Autor führt er den Blick auf die Auferstehung konsequent weiter: „Diesmal muss diese Auferstehung durch den Menschen selbst vollzogen werden. (…) Der Mensch muss sich gewissermaßen selber mit seinem Gott aufraffen. Er muss Bewegungen vollziehen, Anstrengungen machen, um sich in Kontakt zu bringen mit sich selbst. Und das ist ja der wahre, wissenschaftliche Sinn des Wortes ‘Kreativität’ (…) Inkarnation des Christuswesens in die physischen Verhältnisse der Erde. Also ein reales Mysterium, ein kosmisches Ereignis hat sich da vollzogen, kein nur historisches. Da hat sich ein Kraftfluss von absoluter Realität vollzogen. Und nun geschieht mit dem Menschen eine Metamorphose, mit der er sehr große Mühe hat. Ganz große Mühe. Sehr schwer fällt es dem Menschen, aus eigener Kraft die Selbstbestimmung auch wirklich in Anwendung zu bringen. Es fällt ihm ungeheuer schwer. Er möchte viel lieber nochmal was geschenkt bekommen. Er kriegt aber nichts mehr. Er kriegt nichts, gar nichts, von keinem Gott, von keinem Christus. Dennoch bietet sich diese Kraft an und will mit Gewalt hinein. Aber unter der Voraussetzung, dass sich der Mensch selber aufrafft.“
Am 23. Januar 1986 verstarb Joseph Beuys. Bald darauf wurde seine Asche in die Nordsee zwischen Schottland und Friesland verstreut, wie er es für sich bestimmt hatte.
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Friedhelm Mennekes war von 1980 bis 2008 Professor für Praktische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main; zugleich war er von 1987 bis 2008 Pfarrer der Jesuitenkirche St. Peter in Köln, wo er im Jahre 1989 die Kunst-Station Sankt Peter gründete. Er ist international im Bereich Kunst und Kirche tätig.
Literaturquellen:
Eva Beuys, Joseph Beuys. Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle. Texte 1941 ‒ 1986, München 2000
Antje von Graevenitz, Joseph Beuys’ letzte Leitern… (1985), in: Dirck Linck/Martin Vöhler (Hrsg.), Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten, Berlin 2009.
Benno Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934.
Friedhelm Mennekes, Joseph Beuys: Christus DENKEN/THINKING Christ, Stuttgart 1996.