Im Nachgang zum Tod des Theologen und emeritierten Papstes Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. reflektiert Urs Eigenmann dessen (Anti-)Reich-Gottes-Theologie.
Spätestens seit 2007 bzw. 2013 hat sich in der römisch-katholischen Kirche eine Situation ergeben, die in ihrer Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit in Bezug auf die Einschätzung des Reiches Gottes kaum mehr zu überbieten ist. Auf höchster hierarchischer Ebene der römisch-katholischen Kirche wird das Reich Gottes – biblisch bezeugt als Mitte der Sendung Jesu – vom einen Papst verteufelt, vom anderen zentral gesehen.
das Reich Gottes
Im 2007 veröffentlichten Ersten Teil seiner Publikationen über Jesus von Nazaret geht Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. so weit, das Reich Gottes zu diabolisieren.[1] Zwar anerkennt er den biblischen Befund, wonach das Reich Gottes das Zentrum der Sendung Jesu war, wenn er feststellt: „Der zentrale Inhalt des ‚Evangeliums’ lautet: Das Reich Gottes ist nahe. […] Diese Ankündigung bildet tatsächlich die Mitte von Jesu Wort und Wirken.“[2] Dann aber unternimmt er es auf vierfache Weise, die Zentralsetzung des Reiches Gottes heute – von ihm „Regno-Zentrik“ (Jesus-Buch, 83) genannt – zu diffamieren.
auf vierfache Weise diffamieren
Erstens erklärt er: „Jesus, verkündet, indem er vom Reich Gottes spricht, ganz einfach Gott […]. Er sagt uns: Gott gibt es. Und: Gott ist wirklich Gott […]. In diesem Sinn ist Jesu Botschaft sehr einfach, durch und durch theo-zentrisch.“ (Jesus-Buch, 85) Damit widerspricht Ratzinger/Benedikt XVI. dem von ihm selbst bestätigten biblischen Befund, wonach die Mitte der Sendung Jesu das Reich Gottes war.
Zweitens behauptet er, es habe „[…] sich in breiten Kreisen, besonders auch der katholischen Theologie, eine säkularistische Umdeutung des Reichsgedankens entwickelt […]“ (Jesus-Buch, 82). Damit zeigt Ratzinger/Benedikt XVI., dass er den biblischen Befund nicht zur Kenntnis genommen hat, wonach das von Jesus bezeugte Reich Gottes eine völlig säkulare Grösse darstellt, mit der in keiner Weise ein religiös-gläubiges Bekenntnis, eine kultisch-liturgische Handlung oder eine priesterlich-institutionelle Vermittlung verbunden ist.
eine völlig säkulare Grösse
Zudem ist ihm entgangen, dass Jesus das Heil desakralisiert hat, wie beim französischen Jesuiten Joseph Moingt nachzulesen ist.[3] Weiter bezeichnet Ratzinger/Benedikt XVI. die Regno-Zentrik als „[…] utopistisches Gerede ohne realen Inhalt, sofern man nicht im Stillen Parteidoktrinen als von jedermann anzunehmenden Inhalt dieser Begriffe voraussetzt.“ (Jesus-Buch, 84)
Drittens greift er die Regno-Zentrik auch theologisch an, wenn er behauptet: „Vor allem aber zeigt sich: Gott ist verschwunden, es handelt nur noch der Mensch. […] Gott […] wird nicht mehr gebraucht oder stört sogar.“ (Ebd.) Damit versucht er, die Regno-Zentrik der Gottlosigkeit zu bezichtigen.
Viertens geht er noch einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er die Regno-Zentrik quasi verteufelt, indem er behauptet: „Die Nähe dieser nichtchristlichen Vision von Glaube und Religion zur dritten Versuchung Jesu ist beunruhigend.“ (Ebd.) Die Diabolisierung der Regno-Zentrik geschieht dadurch, dass Ratzinger/Benedikt XVI. die satanische Versuchung im Matthäusevangelium in eine luziferische verkehrt.
Er verkehrt die satanische Versuchung Jesu in eine luziferische.
Diese Verkehrung nimmt er vor, indem er den Text der dritten Versuchung Jesu im Matthäusevangelium, auf den er sich bei seinem Vorwurf beruft, nicht zitiert, sondern paraphrasiert, dabei aber den Inhalt ins Gegenteil dreht. Bei Matthäus steht: „Wieder nahm ihn [Jesus] der Teufel [diábolos] mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. Da sagte Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen. Darauf liess der Teufel [diábolos] von ihm und siehe, es kamen Engel und dienten ihm“ (Mt 4,8-11, Hervorhebungen im Original).
Soll er nicht der Weltkönig sein?
Jesus weist das Angebot des Satans im Namen des Himmel- oder Gottesreiches zurück, das er zu bezeugen gekommen war, wie im selben Matthäusevangelium steht: „Von da an begann Jesus zu verkünden: Kehrt um! Das Himmelreich ist nahe“ (Mt 4,17). Die Stelle Mt 4,8-11, auf die sich Ratzinger/Benedikt XVI. beruft, zitiert er nicht, sondern umschreibt sie so: „Kommen wir zur dritten und letzten Versuchung, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte. Der Teufel führt den Herrn visionär auf einen hohen Berg. Er zeigt ihm alle Königreiche der Erde und deren Glanz und bietet ihm das Weltkönigtum an. Ist das nicht genau die Sendung des Menschen? Soll er nicht der Weltkönig sein, der die ganze Erde in einem grossen Reich des Friedens und des Wohlstand vereinigt?“ (Jesus-Buch, 67)
In dieser Paraphrasierung gibt Ratzinger/Benedikt XVI. nicht den Inhalt des biblischen Textes lediglich mit anderen Worten wieder, sondern er verkehrt den Inhalt ins Gegenteil. Er legt dem Teufel eine andere Versuchung in den Mund als die im biblischen Text bezeugte. Nach Ratzinger/Benedikt XVI. bietet der Teufel Jesus nicht alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht an, sondern ein grosses Reich des Friedens und des Wohlstands. Ein solches ist aber das Gegenteil der Königreiche der Erde und deren Glanz. Ratzinger/Benedikt XVI. geht also so weit, sich zwar auf den biblischen Text zu berufen, diesen aber nicht korrekt wiederzugeben, sondern ihn ins Gegenteil zu verkehren. Wenn er aber ein grosses Reich des Friedens und des Wohlstands in Verbindung mit dem diabolos bringt, heisst dieser Teufel nicht wie in der Bibel Satan, sondern Luzifer.
Luzifer – in der alten Kirche ein Beiname für Jesus
Luzifer war in der alten Kirche ein Beiname für Jesus, und der Name eines Bischofs von Cagliari (gest. vor 375).[4] Bis heute gibt es in Cagliari eine dem Heiligen Luzifer gewidmete Kirche und in der Kathedrale von Cagliari eine dem Luzifer gewidmete Kapelle.[5] Im 10. Jahrhundert tauchte Luzifer als Name des Teufels im Zusammenhang mit Papst Johannes XII. (955-964) auf, wenn diesem als einem der kriminellsten Päpste u. a. vorgeworfen wurde, er habe zusammen mit anderen Luzifer zugeprostet.[6] Bernhard von Clairvaux (1090-1153) formulierte dann die Verkehrung: „O Luzifer (Lichtbringer), der du am Morgen aufstrahltest, nein, nicht mehr Lichtbringer, sondern Nachtbringer oder auch Todbringer.“[7] Luzifer wurde „[…] zum Beinamen des Teufels. Es handelt sich um den in eine Bedrohung verwandelten Jesu selbst.“[8]
unterscheiden zwischen dem Teufel als Satan und dem Teufel als Luzifer
Spätestens seit dem Mittelalter muss also im mythischen Universum des Christentums bzw. der Christenheit zwischen dem Teufel als Satan und dem Teufel als Luzifer unterschieden werden. Satan steht für den Erhalt der (Anti-)Reiche dieser Welt und ihrer Gewaltlogik. Luzifer steht für das Reich Gottes, in dessen Namen die Antireiche der Welt überwunden werden sollen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Satan heisst der Teufel der Armen, weil er Repräsentant jener Reiche der Welt und ihrer Pracht ist, unter denen die Armen leiden. Luzifer heisst der Teufel der Reichen, weil er das Reich Gottes gegen jene Reiche der Welt bezeugt, von denen die Reichen profitieren. Mit seiner Verteufelung eines grossen Reichs des Friedens und des Wohlstands vertritt Ratzinger/Benedikt XVI. nicht wie die kirchenamtliche Orthodoxie bis zum Zweiten Vatikanum bloss eine Theologie ohne Reich Gottes, sondern sogar eine Theologie gegen das Reich Gottes. Mit der Verkehrung der biblisch bezeugten satanischen Versuchung in eine luziferische begibt er sich zudem in eine beunruhigende Nähe zu Karl Poppers Verkehrung des Himmelreichs in die Hölle.[9] Ratzinger/Benedikt XVI. erweist sich damit als einer der aggressivsten Repräsentanten der imperial-kolonisierenden Christenheit.
„Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen“ (EG 176).
Ganz anders als für Ratzinger/Benedikt XVI. ist das Reich Gottes für Papst Franziskus zentral. Er hält in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium kurz und bündig fest: „Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen“ (EG 176). Zudem erklärt er: „Aus einer Lektüre der Schrift geht […] klar hervor, dass das Angebot des Evangeliums nicht nur in einer persönlichen Beziehung zu Gott besteht. […] Das Angebot ist das Reich Gottes (vgl. Lk 4,43 [Hervorhebung im Original]); es geht darum Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. […] Suchen wir sein Reich: ‚Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben’ (Mt 6,33). Der Plan Jesu besteht darin, das Reich seines Vaters zu errichten; er verlangt von seinen Jüngern: ‚Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe’ (Mt 10,7).“ (EG 180). Damit erweist sich Papst Franziskus als ein Theologe, der sich am prophetisch-messianischen Christentum orientiert.
P.S. Eine ausführlichere Analyse findet sich in einem Artikel von mir auf der Homepage der Grupo pensamiento critico.
Weitere Literatur von Urs Eigenmann:
- Von der Christenheit zum Reich Gottes. Beiträge zur Unterscheidung von prophetisch-messianischem Christentum und imperial-kolonisierender Christenheit, Luzern 2014, 54-68
- Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde als himmlischer Kern des Irdischen, in: Urs Eigenmann/Kuno Füssel/Franz J. Hinkelammert (Hrsg.), Der himmlische Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperozentrischer Humanismus der Praxis, Luzern/Münster 2019, 188-192
Urs Eigenmann, Dr. theol., em. Pfarrer und Lehrbeauftragter der Universität Luzern
Beitragsbild: Hl. Luzifer in der Krypta des Doms von Cagliari; Quelle: Wikimedia Commons
[1] Vgl. Urs Eigenmann, „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde.“ Die andere Vision vom Leben, Zweite, erweiterte und aktualisierte Auflage, Luzern 2022, 20-24.
[2] Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg im Breisgau 22007, 77. (im Folgenden: Jesus-Buch)
[3] Vgl. Joseph Moingt, L’Évangile sauvera L’Église, Paris 2013, 61.
[4] Vgl. Charles Kannengiesser, Art. Lucifer v. Claris, in: LThK, Freiburg im Breisgau 32006, 1083 f.
[5] Vgl. Luzifer im Dom von Cagliari.
[6] Vgl. Daniel-Rops, L’Église des temps barbares, Paris 1965, 641.
[7] Zit. in: Franz J. Hinkelammert, Luzifer und die Bestie. Eine fundamentale Kritik jeder Opfertheologie, Luzern 2009, 110.
[8] Ebd. 165.
[9] Vgl. Karl Popper, Das Elend des Historizismus, 7. Auflage, herausgegeben von Hubert Kiesewetter, Tübingen 2003, X.