Eine lohnende Auseinandersetzung findet Marievonne Schöttner in der biblischen Un-Person des Judas Iskariot. Er ist mehr als Verräter, Inbegriff des Bösen und Projektionsfläche.
„In der Geschichte des westlichen Denkens ist Judas der ultimative Verräter, der hässlichste, gemeinste, unehrlichste, widerwärtigste, gierigste Mensch, den man sich vorstellen kann.“[1] Mit dieser Aussage macht der israelische Schriftsteller Amos Oz (1939-2019) auf die immer noch verbreiteten antisemitischen Stereotype aufmerksam: Die Kunst zeigt Judas mit roten Haaren, auffällig krummer Nase, mit einem gelben Mantel und dem Geldbeutel in der verkrampften Faust. Im Volksmund sind Redewendungen wie „Judaskuss“, „Judaslohn“ oder das Schimpfwort „Du Judas!“ nach wie vor geläufig. Deutsche Standesämter lehnen sogar diesen Vornamen als „herabwürdigend“ ab. Entsprechen diese Bilder der historischen Gestalt des Judas Iskariot oder sind sie Projektionen, die aus seiner Darstellung in den kanonischen Evangelien herrühren?
Bereits die vier Evangelien des Neuen Testaments weisen verschiedene Darstellungen des Judas Iskariot auf. Im Folgenden soll diesen Judasbildern nachgegangen werden, beginnend mit der Darstellung im ältesten Evangelium.
Judas – einer der Zwölf
Das Markusevangelium portraitiert Judas als einen Jünger des Herrn und als solcher steht er gar nicht weit weg von Petrus: Während der eine Jesus verleugnet, liefert der andere ihn aus. In der Zwölferliste taucht sein Name als Letzter auf – wie auch in den anderen zwei synoptischen Listen bei Matthäus und Lukas –, was gewiss schon eine Wertung impliziert.
dunkel, aber nicht rabenschwarz
Dreimal erwähnt Markus, dass Judas „einer der Zwölf“ ist (Mk 14,10.20.43). Auffällig ist, dass im Markusevangelium die Auslieferung Jesu an acht Stellen mit paradinonai („überliefern“, „übergeben“; nicht aber: „verraten“) umschrieben wird. Der Evangelist malt Judas dunkel, aber nicht rabenschwarz: Eine eindeutige Motivation des Judas für seinen Verrat an Jesus führt Markus nicht an. Beim Passahmahl Jesu mit seinen Jüngern wird Judas namentlich nicht genannt, aber es ist offensichtlich, wen Jesus – durch seinen Hinweis auf die Auslieferung sowie seine Andeutung des gemeinsamen Eintauchens des Brotes in die Schüssel – meint: Judas! Mit einem Kuss identifiziert er dann seinen Herrn als den zu Überführenden (ho paradidous).
Judas – der Verzweifelte
Eine neue Komponente des Judasbildes zeichnet das Matthäusevangelium durch das Motiv der Geldgier, das ein Anhaltspunkt hinsichtlich der Beweggründe für die Überlieferung Jesu sein könnte: Judas fordert von den Hohenpriestern einen angemessenen Geldbetrag für diese Aushändigung, woraufhin sie ihm 30 Silberstücke geben – ein Spottgeld (Mt 26,15; vgl. Ex 21,32). Anders als Markus berichtet Matthäus auch über den Tod des Judas: Als ein von Reue und Niedergeschlagenheit geplagter Jünger bringt er den jüdischen Machthabern das Geld zurück. Jedoch wollen sie nichts mehr mit dem reuigen Judas zu tun haben. In seiner Verzweiflung sieht er keinen anderen Ausweg als den Suizid.
Judas – der Verräter
Der dritte Evangelist, Lukas, lässt an Judas’ Rolle keinen Zweifel aufkommen: War die Schilderung bei Markus noch ambivalent zu beurteilen, redet Lukas Klartext: Judas ist ein Verräter! In der Zwölferliste wird er als „Judas Iskariot, der zum Verräter (prodotes) wurde“ (Lk 6,16) vorgestellt. Bei der Schilderung über die Auslieferung Jesu an die Hohenpriester und Hauptleute nimmt Lukas eine weitere Änderung gegenüber der markinschen Vorlage vor: Im Lukasevangelium fährt der Satan (satanas) in Judas hinein. Der Verrat wird als eine Tat des Satans bezeichnet, bei dem Judas als dessen Werkzeug fungiert. Letztlich mildert dies aber nicht seine Schuld; Judas wehrt sich nicht gegen diese Versuchung, sondern verspricht den jüdischen Vorgesetzten die Überlieferung Jesu. Auch bei der Gefangennahme Jesu weicht Lukas von der Markusvorlage ab, um Judas noch akzentuierter als negative Figur zu brandmarken: Bei Lukas ist Judas explizit derjenige, der an der Spitze des Verhaftungskommandos steht, um Jesus durch seinen Kuss zu verraten.
Judas – ein Dieb und Teufel
Das Johannesevangelium schildert die Judasfigur noch drastischer: Judas ist ein Teufel. Und das nicht erst seit der Passion im Lukasevangelium, sondern schon viel früher. Bereits bei seinem ersten Auftreten wird Judas als Teufel (diabolos) (Joh 6,70) bezeichnet, der nichts anderes im Sinn hat, als Jesus auszuhändigen. Und nicht nur das: In der Salbungsgeschichte in Bethanien ist er derjenige, der gegen die Verschwendung des Salböls protestiert.
Teuflisch?
Sein Intervenieren wird allerdings so gedeutet: „Das sagte er aber nicht, weil er ein Herz für die Armen gehabt hätte, sondern weil er ein Dieb war; er hatte nämlich die Kasse und veruntreute die Einkünfte“ (Joh 12,6). Demnach ist Judas ein Betrüger, der die Gemeinschaftskasse des Jüngerkreises geprellt hat. Die Profilierung des moralisch Abtrünnigen wird zu Beginn der Erzählung vom letzten Abendmahl weitergeführt. Hiernach hat der Teufel (diabolos) Judas die Anweisung ins Herz gegeben, Jesus zu übergeben. Diese Darstellung wird noch präzisiert, dass nämlich der Satan (satanas) in Judas hineinfährt, nachdem ihm Jesus einen Bissen des Brotes gereicht hat.
Negative Entwicklung des Judasbildes im Neuen Testament
Die Evangeliengeschichte zeichnet ein immer schwärzeres Bild von Judas: Aus einem der Zwölf, der Jesus aus nicht mehr ersichtlichen Gründen an die Behörden ausliefert (Markus), wird ein habgieriger Gauner, der Selbstmord begeht (Matthäus). Durch die Bezeichnung als Verräter verdunkelt sich sein Bild erheblich (Lukas). Es mündet in der Verurteilung als Teufel (Johannes).
Was wir von Judas Iskariot wissen
Während Ioudas ein überaus geläufiger Name in neutestamentlicher Zeit ist, bleibt sein Beiname Iskariot (bzw. Iskariotes) im Dunkeln. Von den zahlreichen Deutungen ist die Herleitung vom jüdischen Ort Keriot am ehesten plausibel. Es ist anzunehmen, dass Judas Iskariot (von hebräisch ᾿isch qerijjot: „Mann aus Keriot“) ein aus Keriot im südlichen Judäa stammender Mann war, der zum Jüngerkreis um Jesus zählte. Allem Anschein nach hat er während seines Aufenthalts in Jerusalem sowie im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu eine unrühmliche Rolle gespielt. Die Abwendung des Judas von Jesus war offenbar so endgültig, dass er auch nach Ostern nicht mehr zur Jesusbewegung zurückkehrte. Über sein weiteres Schicksal ist historisch gesehen nichts festzumachen.
Die These von Judas als Verräter aus Liebe
Viele Rätsel und Fragen um Judas Iskariot bleiben ungelöst. Doch sicher ist, dass er nicht einfach als bloßer Verräter abgestempelt werden darf. Auch Amos Oz wirft in seinem Buch „Judas“ einen erweiterten Blick auf das Motiv des Verrats. Mithilfe des Protagonisten Schmuel Asch stellt Oz die These auf, dass Judas der erste Christ gewesen sei, der an die Auferstehung Jesu glaubte; Judas war ein Verräter aus Liebe. Weitergedacht heißt dies: Führt nicht gerade die Loyalität des Judas zum Verrat an seinen Lehrmeister? Braucht es die verräterische Tat des Judas, damit sich das Heilsgeschehen erfüllt? Wird nicht erst durch den vermeintlichen Verrat die Auferstehung Jesu möglich? – Es ist an der Zeit, über Judas barmherziger zu urteilen.
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Angaben zur Autorin:
Marievonne Schöttner ist Studienleiterin bei Theologie im Fernkurs; vorher wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Promotion im Neuen Testament
Bild: Karsten Würth / unsplash.com
[1] Amos Oz, Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Berlin 2017, 23f.