Nach verschiedenen Vorveranstaltungen und einer großen Befragung, nach vorausgehenden Texten und Überlegungen wird nun im Oktober die Jugendsynode in Rom stattfinden. Anlass genug, wieder einmal genauer hinzuschauen, was entwicklungspsychologisch über das Jugendalter gesagt werden kann. Von Helga Kohler-Spiegel.
Die Veränderung der Gesellschaft in allen Bereichen hat auch zu einer Veränderung der Lebensphasen geführt. Während sich Kindheit und Erwachsenenalter verkürzt haben, haben sich das Jugendalter und die Zeit als Senior/in verlängert. Am 8. August habe ich auf feinschwarz.net Ergebnisse der neuen, repräsentativen Studie der Universität Tübingen zur Religiosität von Jugendlichen vorgestellt. Dahinter stellt sich die Frage, wie denn heute „Jugend“ verstanden wird.
Abgrenzung des Jugendalters
Als Kindheit bezeichnet man den Zeitraum im Leben eines Menschen von der Geburt bis zur geschlechtlichen Entwicklung, auch Pubertät genannt. „Pubertas“ (lateinisch für „Geschlechtsreife“) bezeichnet den biologischen Teil der Adoleszenz, der primär genetisch bestimmt ist und mit Wachstum, Körperformveränderung und Geschlechtsreife zu tun hat. Eine einheitliche Periodisierung des Jugendalters gibt es nicht. Grob kann das Jugendalter verstanden werden als die Zeit zwischen dem Eintreten der Pubertät und der Übernahme autonomer beruflicher und gesellschaftlicher Rollen.
Grundlegende exemplarische Konzepte
Erik Erikson (1902-1994) stellt für jedes Stadium des Lebens einen besonderen Konflikt in den Mittelpunkt der Entwicklung. Für das Jugendalter sieht Erikson die Herausforderung, Identität zu entwickeln, er nannte dies „Identität gegen Identitätsdiffusion“. Die Fähigkeit, vertraut-intime Beziehungen einzugehen und sich langfristig zu binden (er nannte das „Intimität gegen Isolierung“) sah Erikson als Aufgabe im frühen Erwachsenenalter. Heute werden auch die Entwicklungsschritte individualisiert und flexibilisiert verstanden.
Die Entwicklung eigener Identität
Robert Havighurst (1900-1991) nennt für jeden Lebensabschnitt spezifische Entwicklungsaufgaben, die zu lösen sind. Für das Jugendalter können folgende genannt werden:
- Akzeptieren des eigenen Körpers
- Erwerb der Geschlechterrolle (im Wissen um die Vielgestaltigkeit von Geschlechterrollen)
- Aufbau neuer Beziehungen im Blick auf Geschlechtlichkeit (und ihre Vielfältigkeit)
- Berufswahl, Berufsausbildung
- Erwerb eines sozial verantwortlichen Handelns
- Ablösung und emotionale Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen
- Ökonomische Unabhängigkeit von den Eltern
- Vorbereitung auf Partnerschaft und Familie
- Entwicklung und Aneignung eines eigenen Wertesystems
Alle – die genannten und weitere – Entwicklungsaufgaben sind gebündelt in der Entwicklung eigener Identität, d.h. sich als einmalige und unverwechselbare Person zu verstehen, angestoßen durch und in Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung und mit sich selbst. Das sind riesige Herausforderungen!
Jugendalter
Entwicklung beginnt nicht im Jugendalter, sondern in der frühen Kindheit, beginnend mit pränatalen Erfahrungen. Eines der gegenwärtig zentralen Konzepte ist Bindung. Bindungserfahrungen gelten gegenwärtig als grundlegend für die Entwicklung des Kindes.
„Typisch für das Jugendalter ist, dass junge Frauen und junge Männer keine volle gesellschaftliche Verantwortung übernehmen müssen (…), zugleich aber in vielen gesellschaftlichen Bereichen vollwertig partizipieren können.“ (Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, Weinheim 13. Aufl. 2016, 22)
Verlängerte Ausbildungszeiten führen dazu, dass junge Menschen länger wirtschaftlich abhängig sind, zugleich sind sie z.B. im Bereich von Mode, Musik, Unterhaltung, Medien, Freizeit und Beziehungsgestaltung sehr frei. Bildung fördert neben fachlichen und beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten auch personale und soziale Kompetenzen, was das Selbstbewusstsein und die Verhaltenssicherheit fördert. Zahlreiche Jugendliche nutzen die Möglichkeiten dieses Lebensabschnittes für ihre persönliche Entfaltung (z.B. Reisen) und schieben die Übernahme der Erwachsenenrollen bzw. -aufgaben wie z.B. Berufseinstieg, Familiengründung auf.
Entwicklungsveränderungen im Jugendalter
Psychische Veränderungen in der Entwicklung sind verbunden mit den körperlichen Veränderungen im Jugendalter. Neurokinin B gilt heute als Auslöser-Botenstoff für die Pubertät. Die körperlichen Veränderungen sind deutlich sichtbar: Das Längenwachstum ist sehr stark, die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale sowie die Körperproportionen verändern sich, Mädchen und (etwas später) Jungen erreichen die Geschlechtsreife. Vergleichsweise früher oder später Pubertätseintritt kann ein Entwicklungsrisiko darstellen.
Neurobiologische Umstrukturierung
Die neurobiologische Umstrukturierung im Gehirn führt zu einer Reihe weiterer Phänomene: Die Entwicklungen im limbischen System (v.a. beteiligt an der Verarbeitung von Emotionen) und im frontalen Kortex (zuständig für Handlungsplanung und Handlungskontrolle) erfolgen später und dauern länger. Dies kann zu vorübergehenden Problemen in der Emotionsverarbeitung und der kognitiven Handlungssteuerung führen. Der Glaube an die Einzigartigkeit des eigenen Denkens und Handelns steht häufig im Vordergrund und ist oft verbunden mit dem Empfinden, nicht verstanden zu werden.
Hinzu kommt eine Abnahme der Serotoninausschüttung, damit werden negative Gefühlszustände sowie geringere Motivation wahrscheinlicher, das Selbstwertgefühl nimmt ab. Mädchen nehmen ihren Körper stärker negativ wahr, ihren eigenen Körper anzunehmen und zu mögen, fällt zahlreichen Mädchen und Buben nicht leicht. Mittelfristig aber kommt es u.a. zu einer Beschleunigung der Informationsverarbeitung, zur Fähigkeit, abstrakter zu denken sowie sich selbst emotional zu regulieren und das eigene Verhalten zu steuern.
Veränderte Ablöseprozesse
Im Jugendalter steht die Identitätsbildung, d.h. die Entwicklung und Konstruktion von „Ich-Identität“ im Vordergrund. Zur Identitätsentwicklung gehören Fragen wie: Wer bin ich, wie bin ich? Wer möchte ich sein? Wer, wie könnte ich werden? Wie sehen mich die anderen?
Sie gelten als „verletzliche Jahre“, an beiden Enden ausfransend. Der „Abschied von der Kindheit“ ist eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit, dieser Abschied ist ein wechselseitiger sowohl seitens der Jugendlichen als auch seitens der Eltern und anderen nahen Bezugspersonen. „Ablösungsprozess“ meint nicht einfach eine räumliche Trennung von den Bezugspersonen, sondern eine primär innere Ablösung. Ablösungsprozess meint eine Infragestellung, Lockerung und zum Teil auch Veränderung von Werthaltungen, die in der Kindheit übernommen wurden. Interessant aber sind Ergebnisse der jüngsten Shell Jugendstudie: „Geborgenheit spielt, wie die Befunde belegen, im Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern eine zentrale Rolle.
Und die Eltern scheinen dieses emotionale Wohlfühl- und Sicherheitsbedürfnis ihrer Kinder so gut und umfassend zu befriedigen, dass die Partnerschaften davon quasi entlastet sind. Das verschafft Jugendlichen, wie es scheint, Freiheitsgrade, sich ganz auf das aufregend Neue in ihren Beziehungen zum anderen Geschlecht zu konzentrieren, ohne Einbußen an Geborgenheit, die ja durch die Familie abgesichert wird, befürchten zu müssen.“ (Mathias Albert, Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und TNS Infratest Sozialforschung (Hg.): Jugend 2015. 17. Shell Jugendstudie, Frankfurt 2015, 296) Dies macht aber zugleich die Lösung vom Elternhaus deutlich schwieriger.
Postadoleszenz – und am Übergang zum Erwachsenenalter
Während also der Beginn des Jugendalters mit der Geschlechtsreife festgesetzt werden kann, ist dies beim Übergang vom Jugendalter ins junge Erwachsenenalter kaum möglich. Bedingt durch zahlreiche veränderte Faktoren benötigen junge Menschen heute mehr Zeit, um die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters abzuschließen. Der Übergang ist fließend, in der amerikanischen Jugendforschung wird dies als „Emerging Adulthood“ bezeichnet. Rechtlich sind die jungen Menschen volljährig, zugleich sind aber Partnerschaft und Erwerbsarbeit, Wohnort und Lebensform u.a. häufig noch nicht festgelegt.
Vom Übergang des Jugendalters in das Erwachsenenalter kann gesprochen werden, wenn die zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters bewältigt sind. Seine Identität zu entwickeln, sich abzulösen und den eigenen Weg zu gehen, intensive emotionale Beziehungen zu Freunden und/oder Partner/in aufzubauen, sich der eigenen Werte und Normen sowie religiöser Vorstellungen bewusst zu sein und danach leben zu können… Es überrascht nicht, wenn diese Entwicklungsaufgaben Zeit und Begleitung brauchen.
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Helga Kohler-Spiegel ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften; Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, (Lehr-)Supervisorin; Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Von ihr u.a. auf feinschwarz bisher erschienen:
Nicht vereinzeln, nicht verstummen. Resilienz und Resilienzförderung
Photo: Devon Avery, unsplash