Der Schriftsteller Julien Green hadert mit dem Zustand der Welt und staunt zugleich über das Leben. Uwe Michler zeichnet Werk und Biografie eines faszinierenden Intellektuellen des 20. Jahrhunderts nach.
Am 06. September 2024 hätte Julien Green seinen 124. Geburtstag feiern können.
Als Sohn amerikanischer Eltern wird er als jüngstes von acht Geschwistern 1900 in Paris geboren. Seine Familie zieht 1893 nach Frankreich, wo sein Vater als Sekretär der Handelskammer arbeitete. Er lebt sowohl in der französischen wie der amerikanischen Kultur – und bleibt doch ein Fremder in beiden. Er behält lebenslang seine amerikanische Staatsbürgerschaft und fühlt sich zeitlebens den USA aufgrund seiner Familientradition zugehörig. Das drückt sich auch in seinem Spätwerk „Dixie“ aus, einer Trilogie über die Südstaaten, die er von 1988-1995 schreibt. Als junger Mann geht er einige Jahre zum Studium in die USA, und auch während des 2. Weltkriegs lebt er hier. Aber trotzdem schreibt er bis auf wenige Ausnahmen seine Bücher auf Französisch. Er bewegt sich zeitlebens im „Zwischenraum“ und fühlt sich nirgendwo ganz heimisch.
Die Mutter – von tiefer
protestantischer Frömmigkeit geprägt.
Prägend für das „Nesthäckchen“ Julien Green sind seine vier älteren Schwestern und vor allem seine Mutter, die ihm viel vom Leben in den Südstaaten erzählt – für sie das „verlorene Paradies“. Vor allem aber ist sie von tiefer protestantischer Frömmigkeit geprägt, die sie an ihre Kinder weitergibt und sie macht Julien mit der Bibel vertraut. Ein tiefer Einschnitt in sein Leben und das Ende seiner Kindheit bedeuten der Ausbruch des 1. Weltkriegs und der plötzliche Tod seiner Mutter Ende 1914. Danach setzt er sich noch stärker mit Religion auseinander und konvertiert mit 15 Jahren schließlich zum Katholizismus. Seine Vater hatte schon einige Monate zuvor diesen Schritt vollzogen, ohne dass sie voneinander wussten. Einige Zeit überlegt er, in eine Ordensgemeinschaft einzutreten.
Scharfe Kritik gegen
verbürgerlichten Glauben.
Während seines USA-Aufenthalts 1919-1922 verliebt er sich in einen jungen Mann – eine damals „unmögliche Liebe“. Die Thematik der Homosexualität findet explizit allerdings erst später Eingang in seine Romane – z.B. in den Romanen „Der Übeltäter“ (1955) oder „Jeder Mensch in seiner Nacht“ (1960). Bald nach seiner Rückkehr nach Frankreich veröffentlicht er 1924 in größerer Distanz zur katholischen Kirche unter einem Pseudonym ein „Pamphlet contre les catholique de France“, in dem er sich mit scharfer Kritik gegen einen verbürgerlichten Glauben wendet.
Innerhalb von drei Jahren schreibt er dann drei seiner großen Romane: „Mont-Cinére“, „Adrienne Mesurat“ und „Leviathan“, die 1926-1929 erschienen – von vielen frz. Schriftsteller*innen zustimmend aufgenommen – so z.B. von den Vertretern des „renouveau catholique“ Gabriel Marcel, Georges Bernanos oder Francois Mauriac. Und das, obwohl diese frühen Romane nichts explizit Christliches oder gar „Katholisches“ enthalten.
Trübes Licht,
oder Dunkelheit und Nacht
Auch vom Surrealisten André Breton wird er hochgelobt für seine „écriture automatique“, für sein inneres automatisches Schreiben, das der Logik des Albtraums folgt und die Personenkonstellationen seiner frühen Romane allesamt in den Abgrund führt. Seine Bücher, so sagte Green selbst, seien alle von einer Person geschrieben, die er nicht kenne und er wisse auch zu Beginn eines Romans nicht, wohin am Ende alles führe.
In Greens frühen Romanen herrscht meist trübes Licht oder Dunkelheit und Nacht (und er selbst liebt auch die Dunkelheit).
Er gilt als Spezialist für seelische Abgründe und Einsamkeit, und eines seiner Lebensthemen ist die Spannung zwischen Körper und Geist. Beeindruckend schildert er die Leere, Langeweile und Hoffnungslosigkeit eines bürgerlichen Lebens. Ohne dass sich viel in seinen Romanen ereignet, laufen ihre Protagonist*innen doch fast allesamt – getrieben von ihren Begierden und ihrem Unglück und Leid – dem Untergang entgegen. Ein Werk ohne Rettung und Erlösung, das schon damals unzeitgemäß ist und nur schwer in die französische Gegenwartsliteratur eingeordnet werden kann.
Auch in Deutschland wird er hochgelobt – mehr noch vielleicht als in Frankreich selbst. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer schreiben über ihn längere Essays von großer Bewunderung. Thomas Mann schätzte ihn sehr und Hermann Hesse schrieb in einer Rezension 1935, dass er sich bei Green „trotz allen gewaltigen Unterschieden heftig an Kafka erinnert“ fühlte.
Eine lebenslange Freundschaft verbindet Green beispielsweise mit dem Schriftsteller André Gide und dem Philosophen Jaques Maritain.
2024 erschien sein vierter Roman „Treibgut“ von 1932 in der Neu-Übersetzung des Literaturwissenschaftlers und Green-Biographen Wolfgang Matz mit einem sehr erhellenden Kommentar. Im Literarischen Quartett (ZDF) am 15. März wurde der Roman von allen vier Literaturkritiker*innen begeistert aufgenommen, und die Literaturkritikerin der ZEIT, Iris Radisch, pries Green schon lange vorher als „Weltliteraten“ (DIE ZEIT, 20.08.1998).
Die umfangreichsten Tagebücher
der Literaturgeschichte
Neben seinen Romanen, Theaterstücken und Erzählungen hat Green auch eines der bedeutendsten Tagebücher der Weltliteratur hinterlassen. Es erstreckt sich von 1926 bis 1998 und ist damit das umfangreichste der Literaturgeschichte. Im Münchener List-Verlag ist es seit 1990 erschienen.
Im Tagebucheintrag vom 10. April 1929 spricht er von seinem Unbehagen, den katholischen Schriftsteller*innen zugerechnet zu werden: „Es trennen mich augenblicklich zu viele Dinge von der Kirche, als daß ich mich katholisch nennen könnte“, heißt es da. Und am 21. Januar 1931 schreibt er: „Ich spreche tatsächlich recht wenig über Religion, da mich dieses Thema am Ende immer aufwühlt. In mir schlummert ein schlecht bezwungener Fanatiker, den man besser nicht weckt.“
Vom Katholizismus entfernt er sich in den 1930er Jahren immer weiter und nähert sich dem Buddhismus an. Etwa zu Beginn des 2. Weltkriegs folgt dann seine „Rekonversion“ zur Katholischen Kirche, die auch – neben der Thematik der Reinkarnation – in seinem Roman „Varuna“ (1940) anklingt.
Danach beschäftigt er sich mit Lektüre des Hl. Johannes vom Kreuz, mit Schriften von Leon Bloy, Paul Claudel und Charles Péguy, den er auch ins Englische übersetzt. Täglich liest er das Evangelium auch in griechisch und lernt Hebräisch, um das Alte Testament besser zu verstehen.
Seine vierbändige Autobiografie erscheint zwischen 1963 und 1974 – vieles davon ist auch in seine Romane transportiert.
Eine Lebensbeschreibung
des Heiligen Franziskus
1982 veröffentlicht er „Bruder Franz“, eine Lebensbeschreibung des Heiligen Franziskus, die zum Bestseller wurde und auch in Deutschland weite Verbreitung findet.
Er ist fasziniert von seiner Armut und Radikalität. In seinem Tagebuch schreibt er dazu am 01. Juni 1982: „Franziskus hat alle Schwierigkeiten […] dadurch gelöst, dass er dem Beispiel Jesu wortwörtlich und ohne Unterlass gefolgt ist. Darin ist er der einzige wahre Revolutionär unter den Heiligen.“ Andererseits will er aber auch keine Hagiographie schreiben, und bewegt sich möglichst eng an authentischen Lebenszeugnissen über Franziskus. So schreibt er: „Ich versuche, seine durch die frommen Legenden verwischten Züge freizulegen.“ (26.03.1982) Und: „Ich kann nicht umhin zu glauben, dass der gekreuzigte Christus, der zu Franz von Assisi sprach, in seinem Inneren mit ihm gesprochen hat. Es gab nichts zu hören.“ (04.04.1982)
Zu Lebzeiten ein Klassiker
Schon 1972 wurde er als einziger Nichtfranzose in der Nachfolge von François Mauriac in die Académie française aufgenommen. Er ist zu Lebzeiten ein Klassiker und hat die Veröffentlichung seiner Werkausgabe in der „Bibliothèque de la Pléiade“ selbst noch erlebt.
In seinen Tagebüchern kommt die Differenz zwischen seinen düsteren Romanen und einem durchaus glücklichen und erfüllten Leben zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Ich habe fast ein ganzes Jahrhundert durchschritten, und in meinem Innersten möchte ich es ein entsetzliches Jahrhundert nennen. […] Was für ein grauenvoller Ort die Erde ist! Was für ein Wunder das Leben! Zwischen diesen beiden Feststellungen schlüpft der Mensch hindurch. Sein Traum ist paradiesisch, aber seine Perversität treibt ihn dazu, diesen in einen Albtraum zu verwandeln. Gott ist die einzige Zuflucht.“ (29.07.1996) Der Schriftsteller Arnold Stadler sieht in diesem Tagebucheintrag eine Kurzfassung von Greens Weltbild (F.A.Z., 17.10.2000).
Sein letzter Tagebucheintrag am 01. Juli 1998 lautet: „Die Ereignisse sind im Innern.“
Ein Satz, in dem
alles enthalten ist.
Am 13. August 1998 ist Green im Alter von fast 98 Jahren in seiner Pariser Wohnung gestorben. Bestattet ist er, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit Frankreich gefremdelt hat, allerdings auf eigenen Wunsch in der Stadtkirche St. Egid in Klagenfurt. Sein Grabspruch auf der Grabplatte ganz nahe beim Altar lautet: „Ego sum resurrectio et vita“ – „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11, 25). Dazu schreibt er in seinem Tagebuch am 26.09.1996: „Ich werde gefragt, was für mich der wichtigste jemals auf der Welt ausgesprochene Satz ist. Die Antwort weiß ich sofort: ´Ego sum resurrectio et vita.´ In diesem Satz, sagte schon seine Mutter, sei alles enthalten.
Julien Green – ein Unzeitgemäßer, der die menschlichen Abgründe des Innern über sieben Jahrzehnte schriftstellerisch seziert und beschrieben hat.
Es lohnt sich, ihn wieder zu lesen – nicht nur im Blick auf seinen 125. Geburtstag im kommenden Jahr.
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Uwe Michler ist katholischer Theologe und Priester. Er arbeitet als Seelsorger in Frankfurt am Main.
Literatur:
Wolfgang Matz, Julien Green. Das Jahrhundert und sein Schatten, edition text + kritik, München 1997
Hermann Hesse: Julien Green. Der Geisterseher, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Volker Michels. Zwölfter Band. Schriften zur Literaur II, Frankfurt/M. 1970, S. 551-553.
Julien Green, Die Tagebücher 1926-1998, Verlag List, München (erschienen ab 1990)
Julien Green, Treibgut, Verlag Hanser, München 2024 (mit einem Nachwort von Wolfgang Matz)
Foto: Will B / unsplash.com