Neigen Jugendliche besonders stark zu populistischen Ansätzen in der Politik? Dieser Frage geht Yvonne Everhartz mithilfe der aktuellen Shell-Jugendstudie nach.
Die aktuelle Shell-Jugendstudie wartet mit einigen kontroversen Thesen zum Politikverständnis von Jugendlichen auf. Einige lesen aus der Studie, junge Menschen seien populistischer Politik gegenüber aufgeschlossen. Was bedeutet das für die Jugendarbeit, insbesondere die kirchliche? Klar ist: Die Jugendstudie selbst bietet auf diese Frage keine klaren Antworten. Ihre komplexen Befunde müssen vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Vorschnelle Schlussfolgerungen für die Arbeit mit jungen Menschen verbieten sich.
Kontrovers diskutierte Studienergebnisse
Regelmäßig versuchen sozialwissenschaftliche Studien uns dabei zu helfen, junge Menschen besser zu verstehen. Sie fragen Jugendliche, was sie motiviert und welche Werte sie teilen. Sie wollen deren Sorgen und Ängste in Erfahrung bringen. Die Ergebnisse dieser Studien werden immer wieder kontrovers diskutiert, auch weil die Forscher*innen der Herausforderung begegnen müssen, einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen zu geben.
Politisch interessiert – mit skeptischem Blick auf Politiker*innen
Die Jugend in Deutschland blickt optimistisch in die Zukunft[1]. Der zentrale Befund der aktuellen Shell-Jugendstudie lässt uns positiv auf die junge Generation blicken. Als die Studie im Herbst 2019 erschien, sorgten einige andere Ergebnisse allerdings für viele Diskussionen. So interessiere sich die Jugend[2] zwar mehr für Politik als früher, sei aber skeptisch gegenüber Politiker*innen. Ein kleiner Teil der Befragten stimmt allen populistischen Thesen der Befragung zu, ein größerer Teil lehnt sie zumindest nicht eindeutig ab. Fast zwei Drittel der Befragten sind laut Studie außerdem der Meinung, man dürfe bestimmte Dinge in Deutschland nicht mehr sagen, ohne moralisch sanktioniert zu werden. Wie passen diese Ergebnisse zur grundsätzlich optimistischen Jugend, der an anderer Stelle auch attestiert wird, weltoffen und tolerant zu sein? Schon die Überschrift des Studienkapitels „Zwischen Weltoffenheit und Populismusaffinität“ macht deutlich, dass die präsentierten Ergebnisse alles andere als eindeutig sind. Viele Fragen wurden von den Studienteilnehmer*innen nicht eindeutig beantwortet, was Verallgemeinerungen erschwert. Trotzdem macht das Ergebnis einer Jugend, die offen für populistische Versuchungen zu sein scheint, betroffen. Wie kommt es dazu, dass solchen Aussagen zugestimmt wird und wie ist dies zu bewerten?
Politisch, aber nicht parteipolitisch
Auch aus anderen Jugendstudien wissen wir: Viele junge Menschen interessieren sich für Politik, wissen aber häufig nicht, wie sie ihre Meinung innerhalb unserer institutionalisierten Demokratie in eine konkrete Handlung umsetzen können. Sie begegnen Parteien mit Skepsis. In Wahlen und Abstimmungen erfahren sie keine Selbstwirksamkeit. Entweder, weil sie daran qua ihres Alters nicht teilnehmen dürfen oder weil sie die konkreten Folgen ihrer Wahlentscheidung nicht sehen. Die Erfahrung, dass die eigene politische Stimme zählt, ist aber wichtig: Menschen fühlen sich nur dann gehört, wenn Politik als konkret gesellschaftlich sinnhaft und nicht als Selbstzweck gesehen wird.
Höhere Bildung senkt die Populismusaffinität
Das Nicht-Wissen um politische Handlungsmöglichkeiten und die fehlende Erfahrung von Selbstwirksamkeit kann eine Ablehnung von politischen Institutionen und/oder Politiker*innen nach sich ziehen. Dies unterstreicht die Shell-Studie zum Beispiel mit dem Befund, dass mit höherer Bildung die Populismusaffinität sinke. (Demokratie-) Bildung erscheint als Wegmarke, die vom Populismus wegführt. Und politische Selbstwirksamkeit können Jugendliche in unserer repräsentativen Demokratie nur erfahren, wenn sie gleichberechtigt an ihr teilhaben können.
Bewusstsein für den Wert der Meinungsfreiheit
Bleibt der Befund des Gefühls von moralischer Sanktionierung, den die Shell-Jugendstudie formuliert. Dieser lässt sich auch positiv wenden: Offenbar ist der jungen Generation sehr bewusst, dass das Äußern bestimmter menschenfeindlicher Positionen in unserer demokratischen Gesellschaft Widerspruch nach sich zieht. Das muss nicht automatisch die Sorge um die demokratische Grundhaltung Jugendlicher nach sich ziehen. Gesellschaftspolitisch macht dieser Befund sogar Hoffnung, denn er zeigt das vorhandene Bewusstsein dafür, dass die freie Meinungsäußerung dort endet, wo die Menschenwürde verletzt wird.
In kirchlicher Jugendarbeit sind Jugendliche
verantwortliche Subjekte
Welche Impulse ergeben sich aus diesen Befunden für die (kirchliche) Jugendarbeit?
In der (kirchlichen) Jugendarbeit wird der Forschungsgegenstand der Jugendstudien zum Subjekt. Junge Menschen können und sollen hier sein und nicht werden. Kirchliche Jugendarbeit richtet sich nicht an Jugendliche als Objekte kirchlichen Handelns, sondern betrachtet sie als Teil der Kirche der eigenverantwortlich handelt, also Subjekt ist. Ihnen den Freiraum zu geben, einfach jung zu sein und sie nicht vor allem als zukünftige Erwachsene zu sehen, ist genuine Aufgabe von Jugendarbeit. Was bedeuten also die diskutierten Ergebnisse der Shell-Jugendstudie für den Alltag dieser Jugendarbeit?
Politische Bildungsarbeit auch im Raum der Kirche
Junge Menschen sind aufgrund ihrer biographischen Situation in formale, non-formale und informelle Bildungssysteme eingebunden. Dort können sie in vielfältiger Weise mit Angeboten der politischen (Demokratie-) Bildung in Berührung kommen. Dies gelingt hier häufig besser als im späteren Leben. Das bedeutet auch: Träger von (kirchlicher) Jugendarbeit können und sollten junge Menschen mit ihren politischen Bildungsangeboten erreichen und dies zu ihren Aufgaben zählen.
In der kirchlichen Jugendarbeit erfahren junge Menschen Selbstwirksamkeit durch ihr Engagement für sich und andere. Sie sind Teil einer Gruppe, eines sozialen Gefüges. In Jugendverbänden lernen und leben sie Demokratie. Träger von (kirchlicher) Jugendarbeit können junge Menschen durch ihre Angebote stärken und so dafür sorgen, dass sie gesellschaftlich eingebunden sind und Demokratie als wertvoll begreifen.
Jugend ist heterogen!
Und schließlich macht die Shell-Jugendstudie 2019 ebenso wie andere Jugendstudien der letzten Jahre deutlich: Die eine Jugend gibt es nicht. Die Unterschiede innerhalb der Generation beeinflussen das Leben junger Menschen mehr als die gemeinsame Eigenschaft, jung zu sein. Ob soziale oder regionale Herkunft, Geschlecht, sexuelle Identität oder Behinderung: Der Umgang mit diesen und weiteren Faktoren ist essentiell für das gelingende Aufwachsen junger Menschen. Jugendarbeit kann und muss Anlaufstelle für alle sein. Sie muss dafür sorgen, dass sozial Abgehängte nicht noch weiter zurückfallen, dass queere Jugendliche einen Schutzraum finden, dass Jugendliche mit und ohne Behinderung selbstverständlich zusammen lernen können, füreinander da zu sein. Das gilt gerade auch für die Träger von (kirchlicher) Jugendarbeit.
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Autorin: Yvonne Everhartz ist Diplom-Politologin. Sie arbeitet als Referentin für Jugendpolitik, Mädchen- und Frauenpolitik und Genderfragen im Berliner Büro der Bundesstelle des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Sie diskutiert auf Podien über Feminismus und streitet gegen Antifeminismus, leitet Seminare zur politischen Bildung für Multiplikator*innen in der Kinder- und Jugendarbeit, hat am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin studiert und für das Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung gearbeitet.
Foto: Brooke Cagle / unsplash.com
[1] Die entsprechende Erhebung fand in den Jahren 2018/2019 und damit vor der weltweiten Corona-Pandemie statt.
[2] Untersucht wird in der Studie die Generation der heute in Deutschland lebenden 12- bis 25-Jährigen.