Die in der Schweiz lancierte Juniainitiative trägt ihren Namen: Junia – zusammen mit ihrem Mann Andronikus für Paulus eine der ganz Grossen im Kreis der Apostel. Eine Frau als Apostelin? Der Neutestamentler Markus Lau beleuchtet die exegetischen Hintergründe.
Obwohl sie nur ein einziges Mal im NT genannt wird, gehört die Figur der Junia aus Röm 16,7 zu den Prominenten innerhalb der ntl. Welt. Das liegt an der Verwendung des Aposteltitels im Rahmen dieses Verses, der Exegese und Theologie, vor allem aber auch kirchenpolitisch aktive Christinnen und Christen, die um den Zugang aller Getauften zu Ämtern in der Kirche ringen, seit vielen Jahren geradezu elektrisiert. Die Juniainitiative (https://juniainitiative.com/) zeigt das einmal mehr. Dabei macht es der Vers seinen Leserinnen und Lesern selbst nicht ganz einfach, ihn zu verstehen. Und hat man ihn einmal verstanden, ist damit noch nicht abschliessend geklärt, welche Bedeutung er für unsere Gegenwart eigentlich hat oder haben könnte. Denn inwieweit sich ein biblischer Befund unmittelbar für aktuelle Debatten nutzbar machen lässt, ist nochmals eine ganz andere hermeneutische Frage.
Was steht am Beginn der Überlieferung?
Das Problem „Junia“ beginnt bei der Textkritik, also bei der Frage, was eigentlich in den Handschriften des Römerbriefs steht, welcher Name also für die Figur, die wir heute Junia nennen, verwendet wurde. Denn die vielen Handschriften der Jahrhunderte, die den Text des Römerbriefs präsentieren, sind alles andere als einheitlich. Abschreibefehler, bewusste Textänderungen und vieles mehr führen zu einer Vielzahl textlicher Varianten. Es ist Aufgabe der theologischen Disziplin der Textkritik all diese Handschriften und ihre textlichen Varianten zu sichten und auf der Basis von plausiblen Kriterien zu entscheiden, welche Textvariante am Anfang der Überlieferung steht und damit für sich beanspruchen kann, zum Ausgangstext zu gehören.
Für den Namen „Junia“ ist diese Aufgabe auf den ersten Blick einfach: Denn in den griechischen Handschriften des Römerbriefes finden sich nach Ausweis der textkritischen Editionen des NT zwei Namensformen, die freilich beide im Akkusativ stehen: IOULIAN und IOUNIAN. Dahinter können sich die Namen Julia, so etwa im Papyrus 46, der um etwa 200 n. Chr. entstanden ist, oder Junia/Junias verbergen, so etwa im Codex Sinaiticus aus dem 4. Jh. n. Chr. Mit Blick auf die Masse und die Qualität der Textzeugen ist dabei die Variante IOUNIAN besser bezeugt, so dass es wahrscheinlicher ist, dass der Name IOUNIAN ursprünglich an dieser Stelle genannt wurde. Dieser Variantenbefund ist im Vergleich zu anderen Textstellen übersichtlich, aber er stellt vor Probleme.
Mann oder Frau?
Diese beginnen damit, dass in vielen der alten Handschriften nur Grossbuchstaben (Majuskeln) verwendet wurden und zudem die Akzente der griechischen Sprache fehlen. Und das ist im Blick auf den im Akkusativ verwendeten Namen IOUNIAN problematisch. Denn sowohl der weibliche Name Junia wie auch der männliche Name Junias bilden die gleiche Akkusativform IOUNIAN. Und ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, kann im Akkusativ allein an der Stellung des Akzents abgelesen werden: Handelt es sich um einen Mann so steht ein Zirkumflex auf dem Alpha (Iouniân), um eine Frau, so steht ein Akut auf dem Iota (Iounían). Genau solche Akzente fehlen aber in den Majuskelhandschriften zu Röm 16,7.
Damit freilich hören die Probleme nicht auf, denn gerade die männliche Namensform Junias beinhaltet weitere Herausforderungen. Und die zeigen sich besonders im Gegensatz zu den weiblichen Vornamen Junia und auch Julia. Denn diese beiden Namen sind in antiken Textzeugnissen breit belegt. Ganz im Gegensatz zum männlichen Vornamen Junias. Der findet sich tatsächlich nirgends in griechischen Texten der Antike. Das hat zur Annahme geführt, dass es sich beim männlichen Vornamen Junias in Röm 16,7 um eine griechische Kurzform des lateinischen Vornamens Iunianus handeln könnte.
Handel es sich bei Junias um einen hebräischen „Yehunnias“?
Dieser lateinische Vorname ist zwar gut belegt, aber die Bildung der Kurzform des Namens im Griechischen mit Junias wäre sehr ungewöhnlich, weil die regelmässige Bildung Iounios oder Iunas lautet. Tatsächlich ist eine solche Kontraktion nicht belegt. Ebenso wird überlegt, ob es sich bei Junias um eine griechische Übersetzung des hebräischen Vornamens Yehunnias handelt, die grammatikalisch sogar den Akkusativ mit Akut bildet. Aber auch dafür gibt es keine Belege im Rahmen antiker Vornamen, ebenso wenig wie für eine griechische Übersetzung des lateinischen Vornamens Iunius.
Auch wenn man einen männlichen Junias nie ganz wird ausschliessen können, so ist doch schon vor diesem Hintergrund ein Frauenname Junia wesentlich wahrscheinlicher, weil ein männlicher Junias schlechterdings singulär wäre. Es kommt hinzu, dass alle griechischen Handschriften, die den Text von Röm 16,7 mit Akzenten schreiben (es handelt sich um Textzeugen, die jünger als unsere ältesten Majuskeln sind) stets den Akut bieten und nie den Zirkumflex, also an eine weibliche Junia denken und nicht an einen männlichen Junias.
Die Kopisten haben eindeutig an eine Frau gedacht.
Auch die in einer Reihe von Handschriften vorhandene Textvariante Julia belegt, dass die Kopisten eindeutig an eine Frau gedacht haben. Schliesslich überwiegt in der weiteren Rezeption von Röm 16,7 in der Kommentarliteratur der Kirchenväter und in Bibelübersetzungen in andere Sprachen ganz eindeutig ein Verständnis von Junia als Frau. Das ändert sich im Wesentlichen erst im 13. Jahrhundert mit dem Werk des Aegidius von Rom (1245–1316), der in seinen Opera Exegetica Junia als Junias versteht. Das männliche Verständnis der Junia wird dann durch die Bibelübersetzung Martin Luthers entschieden befördert, sieht doch auch er einen Junias neben Andronikus. 1927 schliesslich wird Junia auch in der textkritischen Edition des griechischen NT im Rahmen des „Nestle“ (13. Auflage) männlich und bleibt es bis zur 27. Auflage des Nestle-Aland. Im Rahmen eines Nachdrucks dieser Auflage im Jahr 1998 wird dann aus Junias wieder Junia und bleibt es auch in der inzwischen 28. Auflage des Nestle-Aland. Es ist erfreulich, dass etwa auch die revidierte Einheitsübersetzung von 2016 dem in der Sache recht eindeutigen textkritischen und exegetischen Befund Rechnung trägt und von Junia als Frau ausgeht: Andronikus und Junia sind mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit eben kein Männerduo, sondern ein gemischtgeschlechtliches Paar, ein Ehepaar.
Ehepaare in der Jesusnachfolge
Solche Ehepaare in der Jesusbewegung sind im NT mehrfach literarisch bezeugt. Dazu gehören Priska und ihr Mann Aquila (Apg 18,2.18.26; Röm 16,3; 1 Kor 16,19; 2 Tim 4,19), Philologus und Julia (Röm 16,15) und schliesslich ganz entschieden auch Petrus und seine für uns anonyme Frau, die Paulus als eine Art Missionsduo in 1 Kor 9,5 erwähnt. Liest man 1 Kor 9,5 präzise, dann behauptet Paulus in diesem Rahmen sogar, dass auch alle übrigen Apostel und die Brüder des Herrn jeweils gemeinsam mit ihren Ehefrauen, die Paulus summierend mit dem Titel „Schwestern“ bezeichnet, als Missionsteams Jesusnachfolge leben und reisend unterwegs sind. Andronikus und Junia fügen sich als Angesehene unter den Aposteln in diese Reihe bestens ein. Beide stechen im eigentlichen Sinne nicht aus der Reihe der übrigen Apostel und ihrer Frauen heraus – mit der Ausnahme, dass der Aposteltitel in Röm 16,7 explizit auch Junia inkludiert. Freilich gilt es auch hier, nochmals genau hinzuschauen.
„Unter den Aposteln“: Exklusiv oder inklusiv?
Denn die in Röm 16,7 von Paulus gewählte Formulierung „angesehen unter den Aposteln“ (episēmoi en tois apostolois) ist umstritten, was vor allem an der Kombination von episēmos mit der Präposition en und Dativ wie auch an der Wortbedeutung von episēmos („hervorragend, ausgezeichnet, bemerkenswert, angesehen, berüchtigt“) selbst liegt. Die paulinische Formulierung wird inklusiv oder alternativ exklusiv gelesen, so dass Andronikus und Junia bei den Aposteln Ansehen haben, aber nicht Teil der Apostelgruppe sind, so die exklusive Deutung, oder eben unter den Aposteln angesehen sind oder unter ihnen hervorragen, womit sich stärker ein inklusives Verständnis verbindet, die beiden eben auch als Teil der Apostelgruppe zu sehen, in der sie besonderes Ansehen geniessen. Die Debatte ist also eine philologische. Christine Jacobi hat sie in ihrem Wibilex-Artikel „Junia“ gesichtet (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51888/), zusammengefasst und kommt nach Durchmusterung der Argumente für beide Seiten zum überzeugenden Schluss, dass ein inklusives Verständnis nicht nur möglich, sondern philologisch sogar wahrscheinlicher ist: Andronikus und Junia ragen im Kreis der Apostel hervor.
Mit der Apostelin Junia argumentieren?
Was bedeutet dieser Befund einer im Corpus Paulinum bezeugten weiblichen Apostelin nun für die aktuelle Debatte um Zugänge zu Ämtern, Leitungsfunktionen, Weihen in der Kirche? Je nach Standpunkt sehr viel oder sehr wenig: Wer z. B. argumentiert, dass sich das kirchliche Amt, wie es sich im Laufe der Tradition entwickelt hat, unmittelbar und linear aus den im NT genannten Titeln für Funktionsträger in der frühen Jesusbewegung (Presbyter, Apostel, Diakone, Episkopen, Propheten …) entwickelt hat, für den ist Junia als Apostelin entweder eine Chance für Veränderungen im Blick auf die gegenwärtig geltenden Kriterien für den Zugang zu Ämtern oder ein Problem, mit dem entschärfend umzugehen ist – je nach theologischer Option.
Wer indes jede Ableitbarkeit heutiger kirchlicher Amtsstrukturen aus den neutestamentlichen Texten abstreitet oder aber grundsätzlich eine biblische Fundierung kirchlicher Strukturen für obsolet hält, für den ist der Fall „Junia“ zwar vielleicht historisch und sozialgeschichtlich von Interesse, er hat aber keine argumentative Bedeutung für gegenwärtige Debatten.
Die biblisch erzählten Anfänge von Ämtern und Funktionen sind plural und widersprüchlich.
Wer mit guten Gründen eine Mittelposition zwischen diesen beiden Optionen vertritt, die biblische Fundierung der konkreten Sozialgestalt der Kirche als eine theologische Notwendigkeit begreift und zugleich hinsichtlich der unsere Gegenwart prägenden Ausgestaltung von Ämtern in der Kirche neben rezeptionsgeschichtlicher Kontinuität auch ein gerütteltes Mass entsprechender Diskontinuität im Blick auf die biblischen Wurzeln wahrnimmt, für den lässt sich aus dem Fall „Apostelin Junia“ mindestens so viel lernen: Die neutestamentlichen erzählten Anfänge von Funktionen und Ämtern in der Jesusbewegung sind plural und zum Teil widersprüchlich. Das gilt etwa für die Benennung von Ämtern und Funktionen, ihre Handlungskompetenzen und die Zugangsbedingungen. In der lukanischen Konzeption von „Apostel“ wäre z. B. eine Apostelin „Junia“ nicht denkbar, weil nur Mitglieder des Zwölferkreises diesen Titel tragen.
Wer sich dem biblischen Erbe verpflichtet fühlt, wird sich auch dieser Vielfalt stellen dürfen. Sie ist im Gegensatz zu manch anderem, das sich an die Tradition kirchlicher Ämter und ihrer Zugangsbedingungen angelagert hat, biblisch bezeugt. Vielfalt ist für das frühe Christentum geradezu ein Wesensmerkmal. Davon zeugt auch die Apostelin Junia und mindestens das ist auch ihr argumentativer Wert für gegenwärtige Debatten.
—
Dr. Markus Lau ist Oberassistent am Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese an der Universität Fribourg.
Zur Juniainitiative s. https://juniainitiative.com
Bild: Andronikus, Athanasius und Junia (Moderne Ikone, Orthodox Church of America) https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1578906