Wie die Macht eines Tabus evangelische Christ:innen zusammenhält und Schulterschmerzen verursacht. Von Eliza Marlen Jaeger.
Die Orgel dröhnt schon aus dem Inneren der Stadtkirche, als sie umständlich ihr Fahrrad neben dem dicken Gemäuer anschließt. Gut, denkt sie, dann kann ich mich leise und unbemerkt hineinschleichen. Doch gerade als sie die schwere Tür aufdrückt, verstummt das Eingangsstück. Die Tür geräuschlos zu schließen ist unmöglich. Krachend fällt sie ins Schloss. Niemand dreht sich um, aber die Störung ist offensichtlich. Ihre Schritte hallen vom frisch gewischten Fliesenboden wieder, während der Pastor seine Begrüßungsrede hält.
Als sie bei einem freien Platz in der letzten Bankreihe angekommen ist, dreht sie den Kopf unauffällig nach rechts und links. Die Lage sondieren… Reflexartig will sie sich setzen, aber in der Bewegung hält sie inne. Kurz stehen bleiben, andächtig den Blick senken. Dieses Ritual geht noch immer gegen ihre Intuition, obwohl sie es von klein auf bei den Erwachsenen beobachtet hat. Vorsichtig lässt sie sich auf dem knarzenden Holz nieder, während zu ihrer Erleichterung das erste Gemeindelied angestimmt wird. Der Reigen beginnt. Seitenblättern, Zuhören, Ablesen, Singen, Zuhören. Zwischendurch erhebt sich der Schwarm unter Knistern und Knarren. Jedesmal, wenn sie sich wieder setzt, überschlägt sie die Beine und ordnet ihr knielanges Kleid auf den Oberschenkeln, legt die Hände in den Schoß, drückt die Wirbelsäule durch. Sie weiß, wie man das macht. Sie weiß, wann sie die Augen schließen, wann sie den Blick nach vorne richten und wann sie die Hände falten muss…
Sie weiß, wann sie die Augen schließen, wann sie den Blick nach vorne richten und wann sie die Hände falten muss.
Diese eigentümliche Ehrwürdigkeit, die in vielen evangelischen Gottesdiensten herrscht und nur bei wirklicher Not durch ein Husten oder Rascheln durchbrochen werden darf. Warum wissen wir so genau, was sich im Gottesdienst gehört und was nicht? Woher kommt dieser lange ungeschriebene Kodex aus zugelassenen Körperhaltungen, Kleidungsstücken, Handpositionen und Gesichtsausdrücken? Und warum um Himmels willen ist das alles so steif?
Scheinbar strotzt die evangelische Kirche nur so von Weltoffenheit und Toleranz. Sie hat verstanden, dass es in der Debatte um Gendergerechtigkeit, sexuelle Ausrichtungen und Geschlechtsidentitäten nicht um Kirchenpolitik geht, sondern um Menschenrechte. Aber wie passt das mit der Prüderie in ihren Zeremonien zusammen? Wo bleibt die Toleranz gegenüber den einzelnen Körpern, die im Gottesdienst anwesend sind?
Es ist ja nicht so, dass der Körper im Protestantismus gar nicht vorkommt. Ab und an spricht man in Psalmgebeten astrein lutherübersetzte Verse wie diesen hier: „Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des HERRN; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.“ (Ps 84,3).
„Leib und Seele“ ist dieses Begriffspaar, das im Äther der Kirchensprache herumgeistert und daran zu erinnern scheint, dass auch evangelische Christ:innen aus mehr bestehen als ihrem protestantischen Verstand. Aber was soll das überhaupt heißen, „Leib“? Warum können christliche Menschen nicht einfach „Körper“ sagen? Ja, in Philosophie und Theologie werden diese beiden Termini verwendet, um den rein physischen, von außen sichtbaren Körper vom beseelten Leib abzugrenzen, der nur von Innen wahrnehmbar ist. Aber das funktioniert erstens nur im Deutschen. Und zweitens, ganz ehrlich: Wer ist sich denn im echten Leben dieser Differenzierung bewusst? Es scheint um etwas anderes zu gehen: Als würde durch jenen leicht weltfremden Begriff ein Gegenstand geschaffen, der dann doch nicht so richtig materiell ist, sondern irgendwo zwischen Himmel und Erdboden schwebt. Als würde alles schon zu offensiv, sobald man das K-Wort bloß in den Mund nimmt. Und selbst wenn es dann doch mal ausgesprochen wird, bleibt es doch immer nur ein Wort.
Als würde durch jenen leicht weltfremden Begriff ein Gegenstand geschaffen, der dann doch nicht so richtig materiell ist.
Man kann von evangelischen Liturgien wohl nicht die gleiche sensible und unwiderstehliche Führung durch verschiedene Emotionen bis hin zur Ekstase erwarten wie von gut komponierten Techno-Sets. Aber wenn der unausgesprochene Konsens herrscht, dass beim Gloria doch bitte der selbe seriöse Gesichtsausdruck zu wahren ist wie beim Kyrie, dann ist das vielleicht auch zu wenig.
Viel körperbezogener geht es paradoxerweise in den Gottesdiensten vieler Freikirchen zu, die ja mit ihrer restriktiven, – mit Verlaub – mittelalterlichen Sexualmoral nicht gerade hinterm Berg halten. Wie kann das sein? Die Katholik:innen wiederum scheinen sich irgendwo dazwischen zu bewegen. Ohne alltagsdogmatisch so richtig Stellung zum Thema „Leib und Seele“ zu beziehen, lassen sie den Körper in ihren Messen zumindest anwesend sein. Bekreuzigen – aber doch bitte in der richtigen Reihenfolge – , Weihrauch, Knieschmerzen… Nicht gerade charmant. Aber doch immer noch besser als die hoffnungslose Vergeistigung in evangelischen Gottesdiensten.
Worte, schön und gut. Zweifellos hat Luther mit seiner Wortzentriertheit breite Schneisen für die Emanzipation der Gläubigen von kirchlichen Hierarchien geschlagen. Und dazu beigetragen, den Glauben aus den dunklen Gefilden der knechtischen Mimese auf den lichten Boden der kritischen Reflexion zu heben. Aber vielleicht hat er ein wenig übertrieben. Es ist, als haben Luther und Konsorten ihren Anhänger:innen so derbe auf den Rücken geklopft, dass ihnen der Glaube ins Hirn gerutscht ist. Eine dominant vererbte Anomalie, lautet die traurige Diagnose.
Als Kirche zwar in der Welt sein, aber auch nicht so ganz.
Medizin und Psychologie haben den Zusammenhang zwischen Körper und Seele in ihren Diskurs integriert. Warum eignet sich nicht auch die Kirche den Begriff der Psychosomatik an, wo sie schon so graecophil ist? Sie ist schließlich kein isolierter Raum, in dem plötzlich alle Verbindungen zwischen Außen und Innen gekappt sind. Aber vielleicht ist genau das ein Punkt: Als Kirche zwar in der Welt sein, aber auch nicht so ganz. Ein bisschen nach eigenen Naturgesetzen leben. Um als Einheit von Gläubigen nicht mit der profanen Welt zu verschwimmen, nimmt man gern den Alienstatus in Kauf.
Aber das ist nicht der einzige Preis. Es geht um Macht und Unterdrückung. Nicht ohne Grund werden Kirchenräume trotz ihrer Größe oft als eng, als erdrückend wahrgenommen. Es ist der Druck, der auf den einzelnen Körpern lastet. Der wachsame Blick des Schwarms, der kein Ausbrechen duldet. Sobald man die kindliche Narrenfreiheit verlassen hat, gilt es jedesmal: Diesen unverkennbaren ekklesialen Habitus anlegen, wenn man gemeindliche, vor allem aber kirchliche Gefilde betritt. Es ist wie in der Schule. Die Lehrperson ist nur das vermeintliche Machtzentrum. Die eigentliche Macht aber liegt im Dazwischen, zwischen den unruhig hin und her rutschenden oder lethargisch zurückgelehnten Körpern der Schüler:innen. Hannah Arendt nannte 1970 Macht „die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses […], welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat.“ Sie erklärt: „Über Macht
verfügt niemals ein Einzelner, sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe sie zusammenhält.“
der Druck, der auf den einzelnen Körpern lastet
Wirklich problematisch an der ganzen Angelegenheit allerdings ist, dass es hier nicht nur um den abgeschlossenen Raum des Gottesdienstes geht. Die Macht, die Kontrolle, der Konsens der Gemeinschaft, die in der Liturgie sichtbar werden, ziehen im kirchlichen Leben weitere Kreise. Nicht nur während des Gottesdienstes ist Stillschweigen geboten. Die Kirche mag in vieler Hinsicht Platz für Worte haben, auch für gesellschaftliche
Botschaften. Aber wenn sich Menschen noch nicht einmal trauen, im Gottesdienst zu husten und damit ihren Körper existent sein zu lassen, wer wird dann den Mund aufmachen, um Grenzverletzungen zu benennen, die er oder sie am eigenen Körper erfahren hat? Bei der Frage nach dem K-Wort geht es nicht nur um die viel beschworene Lebendigkeit in evangelischen Gottesdiensten. Es geht um das Leben selbst, das von Macht, Missbrauch und Machtmissbrauch unterdrückte Leben.
Wer wird dann den Mund aufmachen, um Grenzverletzungen am eigenen Körper zu benennen?
Als der letzte Ton des Ausgangsstücks verklungen ist, nimmt sie plötzlich ihre zusammengezogenen Schultern wahr, aber loslassen kann sie sie noch nicht. Erst muss sie sich noch dem Strom von tratschenden und händeschüttelnden Gottesdienstbesucher:innen fügen, sich am Wachposten des jovial lächelnden Pastors am Ausgang vorbeimogeln… Als sie draußen ist, spürt sie, wie die Anspannung von ihr abfällt. Sie nimmt einen tiefen Atemzug. Und für den Bruchteil einer Sekunde kommt ihr ein Gedanke, den sie aber gleich wieder verwirft. Sie denkt an Gott und Geist und Hauch. Und fragt sich: Was, wenn sie in der Kirche hätte atmen können?
—
Eliza Marlen Jaeger studiert in Leipzig Evangelische Theologie. Im Juni hat sie an einem ökumenischen Blockseminar zum Thema „Liturgie und Macht“ (Universitäten Erfurt/Leipzig) teilgenommen.
Bild: Eliza Marlen Jaeger