Das Thema der Amazonas-Synode „Amazonien: neue Wege für die Kirche und eine ganzheitliche Ökologie“ vom kommenden Oktober weckt Hoffnung auf eine mutige, sich reformierende Kirche. Johannes J. Frühbauer bündelt Hintergründe und Anliegen.
I. Die Kirche lebt!
Noch. So könnte eine zugespitzte und doch wohlwollende Einschätzung lauten. Diese Diagnose lässt zumindest hoffen. Noch. Jedenfalls ist bemerkenswert, wie vital der Diskurs in der und um die katholische Kirche derzeit ist. Noch. Und wie auf einem Jahrmarkt der Sehnsüchte und Zukunftshoffnungen wird tagtäglich am „Glücksrad“ der Reformwünsche und Rettungsmaßnahmen gedreht. Die reale Aussicht auf Veränderung wirkt offenkundig beflügelnd und motivierend. Doch die Liste der Anliegen und Vorschläge ist lang. Im Laufe der Zeit hat sich doch Einiges angesammelt.
„Was jetzt zählt…“, „Worauf es nun ankommt…“
Manche der unzählige Male vorgetragenen und eingeforderten Reformanliegen scheinen in ihrer Realisierbarkeit so greifbar nah wie nie zuvor zu sein. Übertrieben gesagt: Möglich scheint im Augenblick (fast) alles. Am Ende kommt womöglich nichts von alledem – ein worst case-Szenario für diejenigen, die vielleicht ein letztes Mal voll (trügerischer?) Hoffnung sind und nochmals Mut schöpfen, die den letzten Rest an Motivation und Leidenschaft abrufen, die in sich noch eine glimmende Glut umgeben von Asche (M. Werlen) spüren, die daran glauben wollen, dass sich doch noch etwas Grundlegendes in ihrer katholischen Kirche ändern und eine dynamische und weltoffene Katholizität gestalt- und lebbar werden könnte. Dass die Reformliste diesen Umfang und diese Dringlichkeit hat, liegt am Aussitzen, Aufschieben, Verdrängen, Ignorieren, vielleicht auch am Nicht-wahrhaben-Wollen der massiven Probleme, welche die katholische Kirche, offen und ehrlich betrachtet, seit Jahrzehnten in so manchen Regionen dieser Welt hat. Aufgrund des vermeintlichen kirchlichen Klimawandels ist man derzeit versucht, in drängenden und ultimativen Satzanfängen zu denken und zu formulieren: „Was jetzt zählt…“, „Worauf es nun ankommt…“, „Wenn es nicht gelingt, dass…“; „Wir brauchen jetzt…“ usw.
II. Im Dauermodus der Krise
Eine ganze Reihe an Entwicklungen hat dazu geführt, dass sich die katholische Kirche – nicht nur subjektiv gefühlt, sondern objektiv feststellbar – in einer Situation befindet, die von vielen als dramatisch empfunden wird. In jedem Fall ist sie unbestreitbar beispiellos. Die gegenwärtige und letztlich seit Jahren andauernde Situation führt dazu, dass sich Unzählige von dieser Kirche abwenden oder schon abgewandt haben. Ein zentraler Aspekt und wesentlicher Auslöser der gegenwärtigen Reformdebatten ist all das, was spätestens seit 2010 unter der Überschrift „Missbrauchsskandal“ verhandelt wird. Das ist gemeinhin bekannt. Doch im Grunde genommen befindet sich die katholische Kirche nicht erst seit 2010, sondern über Jahrzehnte hinweg im Dauermodus der Krise.
Dissonanzen und Dispute
Seit Beginn der nachkonziliaren Zeit erleben wir eine Art katholische Kakophonie. Dissonanzen und Dispute gehören seit Ende der 1960er Jahre zur Tagesordnung kirchlichen Lebens und katholischer Theologie. Eine Kirche, in der ständig Debatten – vom Amts- und Eucharistieverständnis über die Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene sowie die Sexualmoral bis hin zur Zölibatsfrage – geführt werden, eine Kirche, die massive Dissense aushalten muss, in der das Leiden an der kirchlichen Wirklichkeit unzählige Male artikuliert wurde, zeugt zwar von einer gewissen Lebendigkeit, sie wird ihrem Auftrag, aber auch ihren Möglichkeiten nicht gerecht. Sie wirkt in dieser Zerstrittenheit unglaubwürdig und wenig attraktiv. Infolgedessen wurden (und werden bis heute) kontinuierlich und in unterschiedlicher Weise Reformanliegen, ja auch Reformforderungen vorgetragen.[1]
Die ecclesia semper reformanda hat sich als erstaunlich reformresistent erwiesen.
Wie viele Theologinnen und Theologen haben aus Leidenschaft und Überzeugung mit ihrer Expertise, ihren Erfahrungen und Einsichten, mit berechtigten biblischen Beispielen und umsichtigen theologischen Überlegungen in fünf Jahrzehnten gegen die Problemlage und Missstände in der Kirche angeschrieben und öffentlich und unverzagt für fundamentale Veränderungen argumentiert und gestritten. Der angesammelte Fundus an konkreten Vorschlägen, inbesondere ekklesiologischer Entwürfe und pastoraler Konzeptionen, dürfte inzwischen unerschöpflich sein. Was davon wurde je konstruktiv aufgegriffen, offen und breit diskutiert, kreativ entwickelt und nachhaltig umgesetzt? Die ecclesia semper reformanda (wohlweislich ein kontrovers diskutierter Terminus) hat sich in all dieser Zeit als erstaunlich reformresistent erwiesen. Und offenbar scheinen wir Katholikinnen und Katholiken eine geduldige Herde zu sein, die es auf wundersame Weise schafft, die Hoffnung auf eine erneuerte und wandlungsfähige Kirche zu bewahren.
III. Verständigungsnotwendigkeiten
Mit Blick auf eine zukunftsfähige, unverklärte und dienende Kirche (J. Gaillot) in einer modernen Gesellschaft und auf der Grundlage der bekannten Reformagenda ist aus meiner Sicht eine Klärung und Verständigung insbesondere in folgenden (erweiterbaren) Punkten angezeigt, unverzichtbar und notwendig:
- Welche strukturellen, ekklesiologischen und pastoralen Fragen müssen offen, ernsthaft sowie schließlich veränderungsbereit erörtert werden und können auch wirklich weiträumig, konstruktiv, nachhaltig und, wo angebracht, auch mit einer ökumenischen Perspektive beantwortet werden?
- Welches Kirchenbild lässt sich auf der Grundlage dieser Klärungen differenziert entwickeln? Welches erneuerte Kirchenverständnis ist konsensfähig und kann möglichst zeitnah in konkreten Schritten strukturell umgesetzt werden?[2]
- Welche Anforderungsprofile und Zulassungsbedingungen können der Aufgabe der Gemeindeleitung zugeschrieben und welche sakramentalen Aufgaben von welchen pastoralen Diensten wahrgenommen werden? Es muss gelingen, Kirche noch viel stärker als bisher von den Gemeinden und von den seelsorglichen und pastoralen Aufgaben, Bedürfnissen und Herausforderungen vor Ort her zu denken und zu gestalten. Wie derzeit vielfach gefordert und seit Jahrzehnten auf der Reformagenda ist hier auch die Frage nach dem (Pflicht-)Zölibat und den „personae probatae“ (F. Lobinger) endlich zu klären.[3]
- In welcher Form und Gestalt kann es in einer Glaubensgemeinschaft globalen Ausmaßes, mit mehr als 1,3 Milliarden Mitgliedern (Stand 2017) in der sogenannten Weltkirche, eine zulässige und begründbare ekklesiale, pastorale und liturgische Vielfalt geben, ohne dass mit dieser Vielfalt Kern und Wesen des christlichen Glaubens und die Einheit der Kirche aufgegeben oder aufs Spiel gesetzt würden? Es sollte möglich sein, dass uns die eine Kirche mit verschiedenen und doch authentischen Gesichtern begegnet. Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit besteht somit darin, das zu betonen, was sich in und trotz einer ermöglichten Vielfalt für die katholische Glaubensgemeinschaft integrierend und verbindend auswirkt und folglich vorhandene Gräben überbrücken und drohende Spaltungen vermeiden kann.
IV. „Mutige Vorschläge“?
Der Weg und die Verständigung mitsamt ihren Ergebnissen erfordern eine Verbindlichkeit, wie sie Matthias Sellmann hier an dieser Stelle vor einigen Monaten bereits eingefordert hat. Eine Verbindlichkeit, die für alle Seiten Transparenz und Klarheit schafft und die – zuversichtlich gedacht – zu einer breitenwirksamen Aufbruchsstimmung führen kann. Eine Verbindlichkeit, die überdies manche verstören und provozieren wird, die anderer Auffassung sind und die unter allen Umständen und aus welchen Gründen auch immer (Angst, Ignoranz, Nostalgie, Überzeugung) am Bestehenden festhalten wollen. Realistisch betrachtet hat sich ein Zeitfenster geöffnet, in dem es möglich scheint, dringende und notwendige Reformen nun wirklich und konkret anzugehen.
Die Chance zur Veränderung liegt in der Luft.
Diese Hoffnung gründet sich in den Äußerungen und Stellungnahmen zahlreicher Bischöfe, der vielseitigen und unzähligen publizistischen Beiträge nicht nur von Theologinnen und Theologen, die zu spüren und zu erkennen scheinen, dass die Chance zur Veränderung in der Luft liegt. Sie gründet sich aber auch im erkennbaren Bewußtseinswandel in den Gemeinden, für die die Zusammenlegung in immer größere Verbünde mit ihren pastoralen Unbeständigkeiten, Engpässen, Zufallsliturgien sowie einem „Eucharistie-Hopping“ keine akzeptable Perspektive des Kircheseins mehr bietet und für die erfahrungsgemäß stattdessen beständige und zuverlässige Gemeindeleitung vor Ort größeres Gewicht hat als eine Priesterzentrierung im traditionellen Sinne. Dieses spürbare und erkennbare Zeitfenster des Entscheidens und Handelns kommt einem Kairos des Mutes gleich. Die beherzten und unverzagten Hirten, Wegführerinnen und Wegführer mit beharrlichem Gottvertrauen, jesuanischer Menschenfreundlichkeit und weitsichtiger Geistesgegenwart sind jetzt gefragt, nicht die Zögerer und Zauderer.
eine Drei-Länder-Synode
Nicht anders lässt sich die vielfach zitierte Aufforderung von Papst Franziskus verstehen, dass er mit Blick auf die im Rahmen der „Amazonas-Synode“ anstehenden Fragen „mutige Vorschläge“ erwarte. Der unter den deutschen Bischöfen umstrittene „Synodale Weg“ ist angekündigt und bietet zumindest eine zeitnahe ermutigende Perspektive. Zu fragen und anzuregen bleibt, warum man sich in naher Zukunft nicht sogar zu einer Drei-Länder-Synode mit Beteiligung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammenfindet, insofern sich die drängenden Problemlagen in diesen Ländern kaum voneinander unterscheiden und ein gemeinsames Agieren womöglich größeres Gewicht und Wirkmächtigkeit hätte.
Katholizismus mit geistlicher und prophetischer Strahlkraft
In unserer Zeit, in dieser Welt wäre ein Katholizismus mit geistlicher und prophetischer Strahlkraft über die eigenen Kirchtürme hinaus in die Gesellschaft hinein so dringend erforderlich. Eine solche Strahlkraft kann aber nur dann ihre Wirkung nach Innen wie nach Außen entfalten, wenn all die anstehenden Fragen und Probleme beantwortet und gelöst sind, und nicht mehr hemmend und lähmend wirken.
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Dr. Johannes J. Frühbauer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisziplinären Forschungsinstitut FEST e.V. in Heidelberg und Lehrbeauftragter für Christliche Sozialethik an der Universität Augsburg.
Beitragsbild: Fritz the Cat / Pixabay
[1] Sei es bei der „Würzburger Synode“ (1971-1975), sei es durch die Initiative „Kirche von unten“ (1980 gegründet), sei es durch das Kirchenvolksbegehren „Wir sind Kirche“ (1995 gegründet), sei es durch die „Kölner Erklärung“ (1989) oder durch das Memorandum „Ein notwendiger Aufbruch“ (2011).
[2] Siehe zu diesen beiden ersten Punkten exemplarisch und anregend Gregor Maria Hoff, Gegen den Uhrzeigersinn. Ekklesiologie kirchlicher Gegenwarten, Paderborn u.a.: F. Schöningh 2018 sowie Michael Seewald, Reform. Dieselbe Kirche anders denken. Freiburg – Basel – Wien: Herder 2019.
[3] Vgl. hierzu aktuell, instruktiv und wegweisend Hubert Wolf, Zölibat. 16 Thesen, München C.H. Beck 2019 sowie Paul M. Zulehner, Naht das Ende des Priestermangels? Ein Lösungsmodell, Ostfildern: Patmos 2019.