Kalahrdaya – so heißt ein Bildungsprojekt bei Kalkutta, das der indische Jesuit P. Saju George aufgebaut hat: Eine spirituelle Tanzschule für Dalits und Kastenlose. Susanne Kleinoscheg arbeitet auf Zeit mit der österreichischen Jesuitenmission in diesem Projekt mit. Bildung, Tanz, Spiritualität und sozialer Einsatz prägen den Ort im Sumpfgebiet.
Kalkutta – das ist nicht nur die riesige Metropole im Osten Indiens (14 Mio im Ballungsraum) und der Ort des Wirkens von Mutter Teresa. Mit der Jesuitenmission Österreich darf ich drei Monate an einem Bildungsprojekt teilnehmen, das der Jesuitenpater Saju George entwickelt hat – und das jetzt sein 20jähriges Jubiläum feiert: Kalahrdaya, eine spirituelle Tanzschule als Hilfsprojekt.
Projekt bei den Armen für die Ärmsten
Für P. Saju[1] stand bei seinen bisherigen Arbeiten der christliche Auftrag, vor allem die Option für die Armen im Vordergrund. Das Gebiet, in dem das Centrum Kalahrdaya gegründet wurde, ist ein sumpfiger Landstrich, in dem die Ärmsten, Kastenlosen und Dalits angesiedelt wurden. Die Region liegt ca. eine Autostunde südlich von Kalkutta. Es gab zu Beginn des Projekts weder Straßen noch eine Infrastruktur. Man bewegte sich auf den Kanälen, von denen es hier sehr viele gibt. Die Menschen arbeiten hart und müssen nach jeder Regenzeit versuchen, ihr bisschen Land und ihre Behausung wieder auf Vordermann zu bringen. Hier leben 90% Dalits; religiös sind sie Hindus, Christen und Muslime. Einige, die es sich leisten können, haben gemauerte Häuser; der Großteil jedoch lebt in Blechhütten oder einfachsten Konstruktionen aus Plastikplanen.
Schulung des Verstandes und des Geistes mit Hilfe von Kunst und Kultur
Kalahrdaya – Erkennen der Schönheit der Schöpfung, besonders im Tanz
Kalahrdaya[2] ist für P. Saju ein Zentrum der Humanität und Geistesbildung mit kultureller Herzensbildung. Im indischen Verständnis kann nichts ohne eine (personifiziert) Gottheit existieren. Die westliche Säkularisierung der Lebenswelten hat in Indien in dieser Form nicht stattgefunden. Kunst und Kultur hängen hier immer mit Spiritualität zusammen. P. Saju möchte die Menschen bilden, die Schönheit der Erde zu erkennen und sie zu schätzen. Durch die Schulung des Verstandes und des Geistes mit Hilfe der Kunst und Kultur soll den Menschen der Mehrwert des Lebens verständlich gemacht werden.
Seine Professionalität ist der Tanz. Jede Geste, jedes Musikstück hat einen spirituellen Tiefgang, was den SchülerInnen vermittelt wird. Für ihn stehen die Schulungen, Weiterbildungen und die spirituelle Erziehung der Menschen im Vordergrund. Auch eine finanziell reiche Gesellschaft verarmt, wenn sie keinen kulturellen und spirituellen Unterbau hat; sie ist leer an Werten und Einstellungen, die das Leben lebenswert und schön machen.
Ausbildungen als Lebenschance für Jugendliche
Konkret bietet Kalahrdaya vier Grundausbildungen: eine umfassende Ausbildung im klassischen indischen Tanz,[3] Malerei, Instrumente und Gesundheit. Meine Aufgabe besteht in Englisch-Sprachkursen. Diese sind unbedingt notwendig zur Kommunikation unter den unterschiedlichen Volks- und Sprachgruppen in Indien. In dieser Region gehen zwar mehr als 60% der Jugendlichen bis in die 12. Schulstufe in die Schule. Aber was dann? P. Saju sieht es als eine zentrale Aufgabe an, den Jugendlichen unterschiedliche Ausbildungen nach der Schule zu ermöglichen, um ihren Lebensstandard und ihr kulturelles Wissen zu erweitern.
Bildung als Weg zu sozialem Aufstieg
In einer Klasse sitzen bis zu 50 SchülerInnen. Eltern sind in Indien zwar verpflichtet, ihre Kinder in die Schule zu schicken, es wird aber nicht kontrolliert und in einigen Familien müssen die Kinder einfach arbeiten, damit die Familie überlebt. Aktuell erlebt Indien eine sehr große Teuerungsrate bei den Grundnahrungsmitteln; dies treibt noch mehr Menschen in die Armut.
Die Kurse und Ausbildungen finden auf zwei Arten statt: Einerseits kommen Jugendliche und Kinder aus der Region an unterschiedlichen Tagen zu den Kursen – rund 100 Kinder und Jugendliche zwischen Dienstag und Sonntag. Jeder Kurs wird drei Mal in der Woche angeboten, so dass es wirklich einen guten Fortschritt gibt. Andererseits kommen die Studenten, die einen Abschluss (ein Diplom)[4] erwerben. Sie haben jeden Tag Kurse: Tanz, Musik, Malen und Englisch.
Gesundheitsversorgung
In dieser Region gibt es kein Krankenhaus, nur einige niedergelassene Krankenschwestern, die Patienten zu überhöhten Preisen behandeln. Im Zentrum gibt es nun zwei „Schwestern vom Heiligen Kreuz von Menzingen“, die die Menschen sehr günstig behandeln. Vieles geschieht über Akupunktur und Reflexzonenmassage. Sie verbinden, geben Spritzen und legen Infusionen. Die Menschen sind ihnen sehr dankbar. Der größte Teil der Patientinnen, die zu ihnen kommen, sind Menschen mit starken Verspannungen. Eine andere Gruppe sind jene, die sich von verschiedensten Krankenschwestern und Ärzten teure, aber nutzlose Medikamente und Untersuchungen einreden ließen. Es ist für mich unglaublich, was die Schwestern alles einfach mit Druckpunkten heilen können. Das Zentrum für die Krankenschwestern und die Pflegeausbildung ist erst im Planungsstadium und braucht noch große finanzielle Unterstützung.
Kunst verbindet Religionen
Kunst als Friedensstifter zwischen Religionen
Frieden zwischen den Religionen vermittels der Kunst ist ein weiteres Standbein des Zentrums. Die Personen, die ins Zentrum kommen, sind zur Hälfte Hindus und Christen. Muslime kommen kaum, da ihnen aus ihrer
Kultur der Tanz in der Öffentlichkeit nicht erlaubt ist; aber auch, weil die Tanzausbildung auf der hinduistischen Spiritualität basiert und dies von vielen Muslimen nicht geschätzt wird. In dieser Region leben alle Religionen miteinander und respektieren sich. Die Frage des Kopftuchs stellt sich hier nicht, da fast alle Frauen ihren Kopf bedenken. In den Kirchen ist es für mich sehr auffällig, dass alle verheirateten Frauen ihren Schal über den Kopf legen oder ein Kopftuch am Kopf tragen.
Stellung der Frau
Sehr viele Mädchen und Frauen kommen ins Zentrum. Die Mütter haben nun auch begonnen zu tanzen. Ihr Selbstwert und ihre Selbstachtung steigen sichtlich mit jeder Bewegung; aber nicht alle verheirateten Frauen erhalten von ihren Männern die Erlaubnis, bei einem Auftritt mit auf die Bühne zu gehen. Nachdem in dieser Region die Göttin Shakti sehr verehrt wird, ist die Stellung der Frau jedoch eine viel bessere als in anderen Regionen von Indien. Oft verwalten die Frauen das Geld der Familie. Die Ehepartner werden zu 90% von den Eltern ausgesucht; arrangierte Ehen sind der Normalfall. Zu einer Hochzeit kommen mehr als 200 Personen und es ist ein Statussymbol, möglichst viele Menschen einzuladen. Daher empfinden manche Inder Mädchen als große Plage, da sie eine Hochzeit ausrichten müssen und diese sie in große Unkosten stürzt.
Stärkung des Selbstbewusstseins der Frauen
In Gesprächen mit jungen Erwachsenen stellte ich fest, dass viele die arrangierten Ehen für ganz normal und gut erachten. Sie können keinen Fehler machen bei der Wahl des Partners und verweisen auf die hohe Scheidungsrate in Europa. Sie sind davon überzeugt, dass ihre Eltern die beste Wahl für sie treffen. Und falls sie sich vorher in jemanden verliebt haben, kann auch das in die Auswahl mit einfließen, wenn sie mutig genug sind, es ihren Eltern zu sagen. Das hierarchische Denken ist tief verankert, egal ob es um die Familie geht oder um das Verhältnis von Schülerin zur Lehrerin.
Priesterbild
Saju ist Jesuit. Bei meinem Aufenthalt durfte ich schon einige Mitbrüder kennen lernen. Mein Bild war bisher sehr geprägt von indischen Priestern in Österreich, die meist aus Kerala kommen. Dieses Bild hat sich hier in Kalkutta stark relativiert. Die Pfarren sind sehr geprägt von Frauen, die alle pfarrlichen Ämter übernehmen dürfen. Mädchen und Jungs ministrieren. Die Handkommunion ist der Normalfall. Die Priester sehen sich als Teil der Gesellschaft und lassen sich nicht bedienen. Sie waschen ihr Geschirr selber ab und begegnen allen auf Augenhöhe. In mehreren Diskussionen mit Ausbildern der Seminaristen erklärten sie mir, dass es den Klerikalismus und das überhöhte Priesterbild vor allem in charismatischen Kreisen gibt. Also es gibt so wie auch in Österreich die unterschiedlichsten Typen von Priestern; diese hier in Kalkutta und Umgebung sind jedenfalls geprägt von einem offenen liberalen jesuitischen Gedankengut.
Arbeit kostet fast nichts – und lässt doch leben
Bauprojekt
Hier im Zentrum wird nun ein neues Haus gebaut, da die bisherige Anlage aus allen Nähten platzt. Wenn es etwas in Indien in Fülle gibt, dann Menschen. Beim Bau werden 95% der Tätigkeiten von Menschenhand ausgeführt. Unzählig viele Menschen tummeln sich auf der Baustelle. Unterschiedliche Trupps führen unterschiedliche Arbeiten durch und verdienen am Tag 300 Rupien (= ca. 4 Euro!). Dies ist sehr wenig, aber sie bekommen zusätzlich am Tag drei Mal etwas zu essen. Wenn ihr Zuhause zu weit weg ist, bauen sie sich aus Blech oder Plastikplanen eine Schlafstätte, die sie bewohnen, solange sie am Bau Arbeit finden.
Resümierend erlebe ich bisher Kalahrdaya als einen Ort der Menschenliebe. Er ist geprägt von einer fundierten Kulturvermittlung, gepaart mit Weltoffenheit und Herzensschulung.
Susanne Kleinoscheg ist Theologin und hat auch Master in Ethik und Religionswissenschaft. Sie unterrichtet Religion und Ethik im WIKU-Graz. Als freiwillige Helferin arbeitet Sie derzeit drei Monate im Projekt Kalahrdaya mit.
Alle Bilder: Susanne Kleinoscheg
Spendemöglichkeit: Über Österreichische Jesuitenmission
[1] https://vimeo.com/61877310
[2] https://www.jesuitenmission.at/projekte/projekte-in-asien/indien/kalahrdaya.html
[3] https://www.youtube.com/watch?v=u0x6-rJJ8UA
[4] https://www.youtube.com/watch?v=7cz-ZH_RlIw