Aktuelle politische Debatten und Entscheidungen (nicht nur) in Österreich sind geprägt vom Thema des Verhaltens gegenüber Immigrant*innen – und hier besonders im Blick auf muslimische Personen. Regina Polak zeigt an Beispielen und anhand des Autors Amin Maalouf auf, dass es Differenzierung im Diskurs braucht; und dass die Haupt-Konfliktlinie zwischen autoritär und demokratisch läuft.
Um politischer Interessen willen Vertrauen zerstören
„Hier, um die Immigranten, wird der entscheidende Kampf unserer Epoche geführt werden müssen, hier wird er gewonnen oder verloren. Entweder gelingt es dem Westen, die Immigranten zurückzuerobern, ihr Vertrauen zurückzugewinnen, sie für die von ihm proklamierten Werte einzunehmen und so zu beredten Vermittlern in seinen Beziehungen zur übrigen Welt zu machen; oder aber sie werden sein größtes Problem.“[1]
Der Westen scheint sich für Maßnahmen entschieden zu haben, die das Vertrauen der Migrant*innen zerstören.
Eindringlich skizzierte der französisch-libanesische Autor Amin Maalouf bereits 2010 die Wahl, vor die er den Westen im Umgang mit seiner migrantischen und insbesondere muslimischen Bevölkerung gestellt sieht. Zehn Jahre später bekommt man den Eindruck, dass sich der Westen eher für politische Positionen und Maßnahmen entschieden hat, die das Vertrauen der Migrant*innen sehenden Auges zerstören, um aus den gesellschaftlichen und kulturellen Konflikten, die Zeichen eines lebendigen Intergrationsprozesses sind, politisches Kapital zu schlagen. Wie diese Entwicklungen in der arabischen Welt wahrgenommen werden, in der das Ressentiment gegen „den“ Westen ähnlich aussieht ist wie bei uns gegen „den“ Islam, scheint gleichgültig. Die Vision Maaloufs, das Europa ein Role-Modell friedlichen Zusammenlebens mit Migranten in religiös-kultureller Verschiedenheit sein könnte, verhallt ungehört.
Durchsetzung von europäischen Werten mit Gewalt ist nicht zielführend.
Dabei ist seine Argumentation ohnedies primär strategisch und machttheoretisch sowie um des Eigeninteresses des Westens willen formuliert und entbehrt einer ethischen Grundlage (erst recht jeder theologischen). Maalouf teilt zwischen den Zeilen sogar den durchaus diskussionswürdigen Narrativ eines Kulturkampfes zwischen dem Westen und der übrigen Welt, der von vielen westlichen Politiker*innen und Journalisten im Anschluss an Samuel Huntington unhinterfragt übernommen wird, um die globalen Konflikte zu interpretieren. Und dennoch kann sich der Westen offenbar nicht einmal zu einer solchen Strategie durchringen. Denn vertrauensfördernd sind Politiken, die die europäischen Werte mit institutionellem, sogar staatlichem Zwang und Gewalt durchsetzen wollen und „die“ Migrant*innen und „die“ Muslim*innen dichotom als „die Anderen“ stigmatisieren, ohne Zweifel nicht.
Debatten in Österreich: pauschalisierend, machtsichernd, erstaunlich selbstbewusst
Als Beispiel mögen hier drei jüngere Debatten in Österreich dienen:
In der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ bezeichnete der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner[2] das geplante Kopftuchverbot für bis-14jährige Mädchen als „Kränkung“ und „Demütigung“; für eine durchaus notwendige Integrationspolitik sei ein solches Rechtsdiktat kontrapoduktiv. Prompt hielt ihm der Politologe Arno Tausch „ungeschminkte, nach rechts und links vorurteilsfreie Daten über die real existierenden Meinungsprofile der arabischen Welt“[3] entgegen und mahnte zur Wachsamkeit gegenüber dem „politischen Islam“.
In der österreichischen Wochenzeitschrift „die Furche“ argumentierte ich[4], dass die massive Erosion des christlichen Glaubens in Österreich (und Europa) nichts mit einer wachsenden Gruppe muslimischer Bürger*innen zu tun habe, sondern selbst zu verantworten sei. Michael Prüller, der Leiter des Amtes für Öffentlichkeitsarbeit der Erzdiözese Wien, kritisierte darauf, dass diese Sichtweise zu kurz greife: Zum einen sei das Label „christlich“ trotz allen Glaubensschwundes zum Label der westlichen, demokratischen Werte geworden, zum anderen würde die (christliche, westliche) Identität durch die islamische Kultur durchaus unter Druck kommen.[5]
Nicht zuletzt wird in den aktuellen Debatten um das Kopftuchverbot für junge Mädchen immer wieder argumentiert, rechts wie links, dass diese Maßnahme eine integrationsfördernde Befreiung für junge Mädchen sei, da – so die neue für Integration verantwortliche österreichische Ministerin Susanne Raab – „kein Mädchen das Kopftuch freiwillig trage“.
Pauschale Vorurteile als „Argumente“ für restriktive Politik
Immer wieder fällt bei den Argumentationen jener, die für eine eher restriktive Migrations- und Islampolitik votieren, auf, dass sie alle Migrant*innen, alle Muslim*innen, pauschal als homogene Gruppe darstellen – und zwar sowohl innerhalb Österreichs (und Europas) wie auch weltweit. Die in Österreich geborene und ausgebildete Muslima, die ihr Kopftuch freiwillig trägt, findet sich da plötzlich in einem Topf mit der Muslima im Iran oder in Saudiarabien. Gesellschaftsdeutungen und politischen Maßnahmen wiederum scheinen davon auszugehen, dass sich der Westen in einem Kampf um Hegemonie befindet – und die hiesigen Migrant*innen und Muslim*innen in dieser Logik quasi die Vorhut einer Weltherrschaft „der Anderen“ seien.
In den Argumentationen geht es um Macht- und Ressourcensicherung der Mehrheit – mit erstaunlicher geschichtlicher Amnesie
Es geht also um Macht- und Ressourcensicherung der Mehrheit; wie anders sollte man den „Druck“ deuten? Muss man sich in Österreich (und Europa) fürchten, wenn man zu einer Minderheit gehört? In Österreich kommt noch die gute, alte josefinische Tradition dazu, Aufklärung mittels staatlicher Kontrolle und Repression durchzusetzen. Nicht zuletzt werden permanent die je eigenen theoretischen Ideale (christliche, westliche, demokratische) mit der fehlerhaften Praxis der Anderen verglichen, was nicht nur hermeneutisch und methodisch problematisch ist, sondern auch von erstaunlichem Selbstbewusstsein, Ausblendung eigener Praxismängel und historischer Amnesie zeugt. Auch in Österreich gibt es Personengruppen, die Demokratie mit autoritärer Durchsetzung von Mehrheitsinteressen und Führersehnsüchten verbinden, fundamentalistische Christ*innen, und der politische Katholizismus ist noch nicht so lange her. Der Mangel an Differenzierung in den Argumentationen aber führt dazu, dass Muslim*innen und Migrant*innen – die in solche Debatten zudem kaum einbezogen werden – sich pauschal stigmatisiert und ausgegrenzt fühlen müssen. Das ist vertrauenszersetzend.
Konfliktlinien: nicht zwischen rechts und links, religiös und säkular, sondern zwischen demokratisch und autoritär
Will man die migrantische Bevölkerung tatsächlich dafür gewinnen, sich an der Gestaltung einer von demokratischen Werten geprägten Gesellschaft in Europa zu beteiligen (und sie nicht nur als Sündenböcke benützen, durch deren kollektive Abwehr eine zerstrittene Gesellschaft eine fiktive Einheit konstruiert), müssen politische und mediale Diskurse erkennen lassen, dass sie zur Differenzierung fähig sind.
Dann würde sichtbar, dass zentrale gesellschaftliche Konfliktlinien in der Gesellschaft nicht zwischen Christ*innen und Muslim*innen, rechts und links, religiös und säkular verlaufen, sondern zwischen jenen, die solche Konflikte um des Erhalts der sozialen Kohäsion willen und demokratisch, d.h. u.a. Pluralität, Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit anerkennend, lösen wollen – und solchen, die ihre je eigenen Interessen autoritär und kompromisslos durchsetzen und sichern wollen.
Der „Kampf um die Immigranten“ ist alternativlos
Auch wenn sich die europäischen Werte, wie sie Art. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon formuliert (Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören), empirisch nicht gleichverteilt in verschiedenen weltanschaulichen Gruppen finden (sehr religiöse, politisch rechts eingestellte Europäer sowie türkische Migranten haben z.B. tendenziell höhere Autoritarismuswerte), so finden sich demokratisch denkende Verbündete in allen Gruppen. Signalisiert und anerkannt werden muss überdies explizit, dass Migrant*innen und Muslim*innen, die hier leben, dazugehören. Nur auf einer solchen Basis lassen sich die Konflikte führen – und zwar nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg, sondern gemeinsam. Dieser „Kampf um die Immigranten“ ist alternativlos. Denn, um Amin Maalouf das Schlusswort zu geben:
„Entweder können wir in diesem Jahrhundert eine gemeinsame Zivilisation aufbauen, mit der jeder sich identifizieren kann, die von denselben universellen Werten zusammengehalten, von einem kraftvollen Glauben an das Abenteuer Menschheit geleitet und durch all unsere kulturellen Unterschiede bereichert wird; oder wir gehen alle in einer gemeinsamen Barbarei unter.[6]
Autorin: Regina Polak ist Assoziierte Professorin und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; seit Jän 2020 Personal Representative of the OSCE Chairperson-in-Office on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions
Beitragsbild: Image by Gerd Altmann von Pixabay
[1] Amin Maalouf: Die Auflösung der Weltordnungen, Berlin 2010, 196 f.
[2] Paul M. Zulehner: Die Kopftuchkränkung und ihre fatalen Folgen: https://www.derstandard.at/story/2000113337139/die-kopftuchkraenkung-und-ihre-fatalen-folgen (16.01.2020).
[3] Arno Tausch: Wachsamkeit ist angebracht, https://www.derstandard.at/story/2000113576743/islam-debattewachsamkeit-ist-angebracht (22.01.2020).
[4] Regina Polak: Glaubensschwächeln, https://www.furche.at/meinung/diesseits-von-gut-und-boese/glaubensschwaecheln-1973332 (02.01.2020).
[5] Michael Prüller: Identität unter Druck, https://www.furche.at/meinung/diesseits-von-gut-und-boese/identitaet-unter-druck-2033126 (09.01.2020).
[6] Amin Maalouf: Die Auflösung der Weltordnungen, Berlin 2010, 27.
Von der Autorin bereits auf feinschwarz.net erschienen (in Auswahl):
Das Gegenteil der Liebe und der Gerechtigkeit sind Ignoranz und Gleichgültigkeit