Es ist ein herber, der Transparenz verpflichteter und weithin ungeliebter Architekturstil. In der gegenwärtigen deutschen Begeisterung für Schlösser und Fachwerkromantik provoziert ein Museum auf wohltuende Art. Denn der Brutalismus steht für mehr als einen Stil. Mit dem Beton wird im Brutalismus das Anliegen von Transparenz und demokratischem Bewusstsein gepflegt. Von Wolfgang Beck.
Während in Berlin noch die Diskussion anhält, ob das wiederaufgebaute preußische Stadtschloss auch tatsächlich mit einem Kreuz auf der Kuppel ausgestattet werden soll, ist man andernorts schon weiter: In Braunschweig wird seit Jahren hinter der neu-alten Schlossfassade geshoppt. In Hannovers neuem Welfenschloss lassen sich hinter historisierenden Außenmauern in modernem Interieur Konferenzen abhalten. Wohl nie zuvor konnte sich eine demokratische Gesellschaft so sehr für die Repräsentationsbauten von Monarchen begeistern.
35 Gebäude in ihrem Vorkriegszustand rekonstruiert
Und in Frankfurt am Main bereitet sich eine Kommune, die ansonsten vom herben Glanz der 1960er Jahre und ihren Hochhäusern dominiert wird, auf die Eröffnung ihrer neuen „Altstadt“ vor. Hier wurden gleich 35 Gebäude in ihrem Vorkriegszustand rekonstruiert, ein Drittel davon sogar in originalgetreuer Bauweise, der Rest als historisierende Fassade. „Einfallslos“ nennen das Kritiker, „verschwenderisch“ schimpfen Familien, die händeringend nach Kindergärten, Schulen und öffentlichen Bädern in den urbanen Zentren suchen. „Macht nichts“, scheinen auf der anderen Seite die Vertreter_innen des Städtemarketings zu erwidern: In zehn Jahren werden nicht nur die Touristengruppen, sondern sogar die Einheimischen den Beton hinter den Fassaden verdrängt haben und sich beim Glühwein auf den Weihnachtsmärkten über das mittelalterlich anmutende Hintergrundrauschen freuen.
„#SOS Brutalism. Rettet die Betonmonster!“
Eine Sonderausstellung
in Frankfurt a.M.
In diese Begeisterung für mittelalterliche und feudale Romantik hinein lädt ein herausragendes Museum in der Metropole am Main zu einer Ausstellung, die es in sich hat. Mit „#SOS Brutalism. Rettet die Betonmonster!“ wird vom 09. November 2017 bis zum 02. April 2018 mit einer Sonderausstellung im Deutschen Architekturmuseum ein besonderer Architekturstil gewürdigt. Nach einer Hochphase im 20. Jahrhundert gehört er wohl zu den unbeliebtesten Architekturstilen überhaupt: Unter dem Namen „Brutalismus“ werden die Konzepte geführt, die sich seit den 1950er und 1960er Jahren und dem entsprechenden Zeitgeist der Fortschrittsgläubigkeit dem Sichtbeton verschrieben. Es entstand eine weltweite Bewegung, in der das Lebensgefühl der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Verbindung mit einem architektonischen Ansatz einging, wie es später kaum mehr möglich war. Zu den bemerkenswerten Eigenarten des Brutalismus gehört, dass er über die Systemgrenzen des Kalten Krieges ausgehend von Frankreich und Groß Britannien über Brasilien, die USA und die Sowjetrepubliken der UDSSR mit skulpturalen Bauten die Stadtbilder prägte. Dass seit den 1990er Jahren große Beispiele des Brutalismus abgerissen und vielerorts als Schandfleck im Stadtbild empfunden werden, markiert die Tragik des Ansatzes. Hier entlarvt sich eine Gesellschaft, in der Transparenz zwar gefordert, in ihrer Härte aber kaum ausgehalten und von einer romantisierenden Begeisterung für das Verborgene und Pseudomystische begleitet wird.
Das Anliegen einer demokratischen Architektur
Fälschlich wird der Brutalismus begrifflich auf die empfundene Brutalität seiner schroffen Wirkung zurückgeführt. Vielmehr steht dahinter die französische Bezeichnung „béton brut“, die einfach als roher Beton oder „Sichtbeton“ zu übersetzen ist, und die Einstellung der „art brut“ als Sichtbarmachen der Konstruktion meint. Hier sollen Konstruktion, Gebäudezweck und Technik transparent werden.
„béton brut“ – roher Beton oder „Sichtbeton“
In Deutschland fand der Ansatz in dem politischen Diktum „Mehr Demokratie wagen!“ von Bundeskanzler Willy Brandt sein öffentlich-politisches Pendant. Ihm entspricht der architektonische Ansatz unerbittlicher materialer Ehrlichkeit. Keine verputzte Fassade, keine Farbe, keine glättende Bearbeitung soll das Baumaterial und die Struktur eines Gebäudes verstecken. Die harmonisierende Verschönerung galt dem Brutalismus als Fake, lange bevor es Diskussionen um Fake News gab. Er legt schonungslos offen, wer das Gebäude trägt und was seine Bestimmung ist, mit welchen Arbeitsschritten der Bauphase es entstand (weshalb die sichtbaren Abdrücke von Verschalungsbrettern intendiert sind) und wie der Grundriss konzipiert ist. Romantische Anwandlungen und Verspieltheit scheinen dem Konzept zuwider, als wären es Smalltalk zum Aperol Spritz. Es geht ihm nicht um Emotionalität, sondern zum Emotionen und um die Ernsthaftigkeit wirklicher Auseinandersetzung.
architektonischer Ansatz unerbittlicher materialer Ehrlichkeit
In Frankreich entstand so das mächtige Dominikanerkloster Sainte-Marie de la Tourette durch den Künstler Le Corbusier, in Berlin das Corbusierhaus. Mit der Wallfahrtskirche „Notre-Dame du Haut“ von Ronchamp zeigte er, dass mit dem architektonischen Programm des Brutalismus das Gebäude zugleich Skulptur wird. Ein letzter Kirchbau wurde nach Corbusiers Entwürfen 2007 in Saint-Etienne/Firminy fertiggestellt. Das US-amerikanische Boston griff den demokratischen Architekturstil beim Bau eines Rathauses auf. In Deutschland gehört die Wallfahrtskirche in Neviges von Gottfried Böhm zu den herausragenden Beispielen. Und da die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche mit einer regen Bautätigkeit verbunden war, entstanden vielerorts Konzepte, die eng mit dem Anliegen der Liturgischen Erneuerung und dem Bewusstsein für einen Aufbruch in die Moderne verbunden waren: die Kathedrale St. Peter und Paul in Clifton (Groß Britannien); die wegen massiver Bauschäden erst 2015 profanierte und ersetzte Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig; die Auferstehungskirche in Köln, die Versöhnungskirche in Dachau oder die Hochschulkirche St. Johannes XXIII. in Köln.
Forderung nach Transparenz und Ehrlichkeit
Wie keine andere Stilepoche ist der Brutalismus denn auch mit der Kirchenkrise seit den 1970er Jahren in Westeuropa verbunden. So ist nicht nur kirchlich die Paradoxie entstanden, dass der massig und wenig vermittelnd erscheinende Stil des Brutalismus mit seiner nach wie vor aktuellen Forderung nach Transparenz und Ehrlichkeit längst selbst schutzbedürftig geworden ist.
Auch aufgrund seiner Härte bleibt ein Stil unverstanden
Wo der Brutalismus indes als Konzept der Stadtplanung fungierte, offenbarte er mancherorts auch seine größten Schwächen: eine Arroganz gegenüber Bestehendem und historisch Gewachsenem und eine Ignoranz gegenüber dem städtischen, gesellschaftlichen und landschaftlichen Kontext. Was als Zukunftsmodell ganze Gebäudekomplexe prägte, wurde häufig nur wenige Jahrzehnte später zum sozialen Brennpunkt. In vielen Städten werden daher brutalistische Gebäude als peinliche Bausünden betrachtet, abgerissen oder in den Händen gutmeinender Kleinbürgerlichkeit mit Farbe und Fassadenrenovierung ihrer provokativen Kraft beraubt. Auch kirchlichen Entscheidungsträger_innen gelten die Gebäude häufig als verzichtbar und werden mit abfälligen Kommentaren als „Turnhallen“ oder „Garagen-Kirchen“ abgetan.
„Turnhallen“ oder „Garagen-Kirchen“
Die Ehrlichkeit als zentrales architektonisches und kulturelles Element war schonungslos betrieben worden, aber eben nicht vermittelnd. Deshalb wohl hat dieser Baustil im 21. Jahrhundert so wenige Freunde, sodass mit www.sosbrutalism.org ein regelrechtes Schutzprogramm nötig geworden ist.
Ein Museum erkennt seinen öffentlichen Auftrag
In dieser Situation setzt das Deutsche Architekturmuseum nicht nur ein bemerkenswertes Zeichen gegen die romantisierenden Trends öffentlichen Bauens, sondern bringt auch auf unverkennbare Weise den öffentlichen Auftrag von Museen zum Ausdruck. Noch nie gab es in Deutschland so viele Museen wie heute. Doch nur wenigen gelingt es, den bloßen Status gutmeinender Archive zu überschreiten. Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main gehört vor diesem Hintergrund zu den kulturellen Leuchttürmen, durch die öffentliche Diskurse mitgestaltet werden. Gerade die jüngsten Ausstellungen zeigen das ausgeprägte Bewusstsein für die politische und gesellschaftliche Dimension des Kulturellen. Die aktuelle Ausstellung erscheint gegenüber der gegenwärtigen Schloss-Euphorie und Wiederaufbau-Romantik provokativ und wohltuend subversiv.
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Wolfgang Beck, Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt am Main
Informationen zur Ausstellung: www.dam-online.de.
Der Katalog zur Ausstellung:
“SOS Brutalism: A Global Survey” von Oliver Elser und Philip Kurz kostet 68.– €
Beitragsbild: Fritz Wotruba: Dreifaltigkeitskirche, Wien-Mauer, Österrreich, 1971–1976; Foto: Wolfgang Leeb, 2011 (DAM-online.de)