Die verfassungsrechtliche Offerte, im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts eigenes Recht zu setzen und danach zu handeln, ist eine Freiheitschance. Diese muss aber aktiv ergriffen und gestaltet werden – und das ist anspruchsvoll. Die beiden Juristen Ansgar Hense und Karl Schmiemann entwerfen ein Szenario.
Die Aktualisierung einer bekannten Problemzone
Das Gutachten des Erzbistums Köln zur Missbrauchsverfolgung durch die örtliche Diözesanverwaltung hat in Bezug auf den diesbezüglichen Normenapparat Feststellungen und Bewertungen getroffen, die nicht überraschend sind für den, der sich intensiv mit der eben für diesen Bereich einschlägigen rechtlichen Regelungen auseinandersetzt. Und es wird sich im Rahmen weiterer Aufarbeitungen zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche noch wiederholt herausstellen, dass mangelnde Klarheit, fehlende Vollständigkeit und eingeschränkte Übersichtlichkeit der Regelwerke erschreckende praktische Auswirkungen in der Praxis hatten oder auch haben.
Jenseits des so belastenden Feldes sexuellen Missbrauchs wirft dieses Gutachten somit exemplarisch die Fragen auf, wie es um den kirchlichen Legislativapparat im Allgemeinen bestellt ist, worin Defizite, die auch hier festzustellen sein werden, ihre Ursachen haben und schließlich, wie sie wirkungsvoll weggeräumt werden könnten? Das ist besonders deshalb im Wege kirchlicher Selbstreflexion und Selbstoptimierung geboten, weil es keine dem Bundesverfassungsgericht vergleichbare außerpäpstliche Kritik- und Verwerfungsebene in den Teilkirchen gibt.
Die Kirche besitzt – verfassungsrechtlich geschützt – eigene Regelungs- und somit vom Staat unabhängige Legislativkompetenz mit in Teilen erheblichen Bindungswirkungen nicht nur für die subjektiven Anwenderkreise des jeweiligen kirchlichen Normapparats, sondern im Einzelfalls auch für Dritte und darüber hinaus für die staatlichen Rechtsebenen.
Die kirchliche Eigenständigkeit ist – innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens des „für alle geltenden Gesetzes“ – mit einem weitreichenden Steuerungsmoment ausgestattet und verfügt über ein hohes Verbindlichkeitspotential. Ohne kirchengesetzliche Regelungen keine Verwaltungsakte, ohne sie keine notwendigen Regelungen für Verwaltungsverfahren, ohne beides kein Plateau für die geforderte kirchliche Gerichtsbarkeit. Der gegenwärtige Entwurf für eine kircheneigene Verwaltungsgerichtsbarkeit sieht – momentan jedenfalls – keine Regelungen vor, die die Überprüfung einzelner Normbereiche ermöglichen würde. Wo die Qualitätsprüfung eines kirchlichen Gesetzes direkt nicht möglich ist, wächst auf der rechtssetzenden Ebene die Pflicht zur stetigen Qualitätskontrolle, womit neben dem Bereich des Erlasses gesetzlicher Regelungen auch deren Evaluation und ständige Betreuung mit in den Blick zu nehmen wären.
Kirchliche Normgebung als Auftrag und Chance
Die verfassungsrechtliche Offerte, im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts eigenes Recht zu setzen und danach zu handeln, ist eine Freiheitschance, eigene Regelungskonzepte nach dem eigenen Selbstverständnis zu schaffen.
Daraus folgt einerseits eine legislative Selbstverantwortung, dass ein gesetzgebender Gestaltungswille des kirchlichen Gesetzgebers bestehen muss, andererseits korrespondiert der Freiheit der Selbstverwaltung auch eine Gestaltungspflicht. Wer sich selbst und im Rahmen der für alle geltenden Gesetze unabhängig vom Staat verwalten will, muss die Grundlagen dazu auch mit hinreichend vergleichbarer Legislativqualität wie im staatlichen Bereich regeln.
Dabei sind die Grenzen einzuhalten, die es nach kirchlichem und geltendem weltlichen Recht einschließlich seiner Rechtsprechung zu beachten gilt. Normgebung der Kirche ist nicht „legibus solutus“. Sie ist als komplexer Akt geprägt und determiniert durch unterschiedliche Wechselbezüglichkeiten. Wer nicht oder nichts regelt oder auch nur unvollständig oder mangelhafte Qualität promulgiert, provoziert einerseits Fragen nach dem Schutz seines rechtlichen und besonders verfassungsrechtlichen Status und ruft anderseits zugleich Fragen der Glaubhaftigkeit seines Wirkungswillens hervor. Die Frage nach der Transparenz und der Plausibilität des Agierens kann dabei Problemlagen potenzieren.
Normative Unklarheiten, Nichteinhaltung von Gesetzgebungsstandards u.a.m. schaffen nicht nur Verunsicherung und Streit. Sie begeben sich – und das ist das eigentlich Bedauerliche – auch der Chance zur Gestaltung dessen, was sie im Sinne des kirchlichen Kerngeschehens und Sendungsauftrags zu befördern haben. Die kreative, normative Umsetzung kirchlicher Aufgabenstellungen ist kein reiner Selbstzweck, sondern hat – jenseits aller juristischen Fragestellungen und rechtsgrundsätzlichen Herausforderungen im Kraft- und Spannungsfeld von Recht und Moral – auch eine ganz erhebliche Glaubwürdigkeitsdimension
Die legislative Phase „0“
Auch kirchliche Normierung wirft zuerst die Fragen nach Regelungsbedarf und -umfang auf. Das gilt besonders für bischöfliche Gesetze, die ohne Parlament und Opposition und somit ohne verpflichtende Debatte erlassen werden (können), was zwangsläufig sogleich die Frage aufwerfen muss, wie diözesane Gesetze überhaupt zustande kommen (sollten)? Wie werden Regelungsbedarfe, aber auch Normierungspflichten, festgestellt? Wer ist daran zu beteiligen und wie erfolgt die dazu notwendige Dokumentation, wie hoch ist der Grad der Publizität? Wie viel braucht es an kirchengesetzlicher Normierung oder noch besser, auch nicht?
Wer diese legislative Phase „0“ nicht klar hat, begibt sich auf ungeklärtes Territorium. Dessen Unwägbarkeiten und Untiefen müssen am Ende durch aufwendige Maßnahmen ausgeglichen werden.
Ohne Kompetenz kein kirchliches Gesetz
Wer Gesetze erlässt, sollte sich stets zuerst klar machen, ob er hierfür auch zuständig ist und über die erforderliche Befugnis verfügt. Vorschnell formulierte Erwartungshaltungen oder Wünsche allein berechtigen noch nicht zum legislativen Tätigwerden. Automatisierte kirchliche Gesetze ohne Klärung der eigenen Zuständigkeiten und Befugnisse lösen beträchtliche Rechtsfolgen im Falle des Gesetzesvollzuges aus.
Die Gesetzgebungskompetenz des Bischofs ist zwar grundsätzlich umfassend, aber eben auch nicht unbegrenzt. Dazu bedarf es stets vorweg der Klärung der gesetzgeberischen Ebenen, ihrer Reichweite und der durch ihre Legislativakte ausgelösten Verbindlichkeit. Das muss zuerst zur Frage führen, in welchem Verhältnis Diözesanrecht zu weltkirchlichen Normierungen steht, was selbstverständlich die weitere Frage aufwirft, welchem Qualitätsstandards sich wiederum solche Weltkirchennormen zu unterwerfen haben, um juristisch anschlussfähig zu sein, bis hin zur Frage nach der grundlegenden Normierung für die Diversität solcher Normung.
Für die darunter liegende – mittlere – Regelungsebene der Bischofskonferenz, die sich oberhalb des Diözesanrechts befindet, bedarf es der Klarheit über Kompetenzabgrenzung und Schnittstellen, zumal nicht selten gerade nicht mit eigener Rechtsetzungsbefugnis agiert werden darf. Gerade der überdiözesanen Ebene kommt besondere Bedeutung und Verantwortung zu, da der weltliche Rechtskreis ein konsistentes, einheitliches Handeln der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland erwartet. Die mittlere Ebene lässt sich ferner nicht einfach aufsplitten nach dem Motto: hier die Bischofskonferenz und dort der Verband der Diözesen Deutschlands. Rechtssetzung bzw. die Organisation einer „Simultangesetzgebung“ auf der Ebene der Diözesen ist eine hochkomplexe Aufgabe und Herausforderung, die auch kirchliche Regelungsautonomien austarieren muss. Letztlich basiert sie darauf, dass es – vergleichbar dem föderalen Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens – eine Bereitschaft und einen Willen zu dem vom weltlichen Recht erwarteten hohen Grad an Einheitlichkeit gibt.
Aber auch für die nachgeordnete diözesane Gesetzgebungs- und Gestaltungsebene – der Welt der administrativen oder der delegierten Dekrete – bedarf es der Klarheit zur Qualität der jeweiligen Norm und ihrer Ermächtigungsgrundlage analog der staatlichen Rechtsordnung. Dazu gehört auch eine hinreichende Abgrenzung von dekretierten Normwerken zu bloßen Verwaltungsregelungen, Richtlinien und sonstigen administrativen Vorschriften, um ein paar praktische Detailfragen anzusprechen.
Werden die Ebenen nicht klar erkannt und abgegrenzt oder in diesem komplexen Gefüge Zuständigkeiten und Befugnisse verkannt, läuft kirchliche Gesetzgebung – und damit dann auch die Normanwendung – in eine Richtung, die Fragen und Zweifel an der eigenen Organisationsfähigkeit aufwirft.
Wer regelt, muss wissen für wen!
Auch kirchliche Normierung hat sich über den subjektiven Anwendungsbereich klar zu werden und diesen dann erkennbar zu umschreiben.
Damit verbindet sich die weitere direkte Frage: Wie weit reicht bischöfliche Gesetzgebungskompetenz eigentlich? Jede bischöfliche Norm hat im HiFi-Modus zugleich negativ zu verproben, wer von ihr nicht nur nicht erfasst wird, sondern auch nicht erfasst werden darf. Dies löst unmittelbar weitere Fragen aus: Welche Folgen ergeben sich daraus für jene Rechtssubjekte, die nicht gebunden werden?
Noch heikler wird es, wenn Rechtssubjekte angehalten werden sollen, sich bischöflicher Gesetzgebungsmacht zu unterwerfen: Ist deren Weigerung dann zu sanktionieren? Wie sind bzw. können die Sanktionen beschaffen sein, was die noch heiklere Frage in den Mittelpunkt stellt, welche Rechtsfolgen sich mit einer solchen Weigerung verbinden lassen oder unmittelbar eo ipso eintreten und schließlich nicht nur, ob das theologisch erlaubt ist, sondern auch vertretbar wäre?
Wer nicht klar hat, wen er legislativ verpflichten oder dessen Bereich er gestalten darf, betritt höchstunsicheres Gelände und schafft im Einzelfall vielleicht auch Schadensersatzpflichten.
Gesetze ohne Klarheit verwirren!
Wer etwas regeln sollte oder gar muss und dabei auch den Anwenderkreis geklärt hat, dessen Arbeit fängt erst an. Kirchliche Gesetze müssen, wie das für jede Legislative gilt, klar sein. Bewegen sich kirchliche Gesetze unterhalb dieses Qualitätsradars, erzeugen sie nicht nur bloß (Nach-) Fragen, sondern sie riskieren auch den Umsetzungserfolg und nicht zuletzt sind sie in der Gefahr, vor allem Akzeptanz zu verlieren. Daher bedarf es für den kirchlichen Bereich der allgemeinen Klarheit darüber, was eine gesetzliche Norm von hoher Qualität auszeichnet und was der Normgeber besser vermeiden sollte, um nicht Verwirrung zu schaffen und potenziellen Schaden zu erzeugen. Dazu gehört auch die rechtzeitige Anpassung von kirchlichen Gesetzen, qualitative Evaluation, aber auch der Mut zur Aufhebung, damit der Wald der Gesetze immer wieder auch gelichtet wird. Rechtsbereinigung tut not. Nicht zuletzt bedarf es daher auch einheitlicher Standards in den Diözesen zur Rechtsförmigkeit kirchlicher Gesetze, wie dieses für den staatlichen Bereich zum Standard guter Gesetzgebungstechnik gehört.
Die maßstabsetzende und handlungssteuernde Funktion des Rechts beeinflusst auch die Aufsicht. Nur normativ gut vorgespurt kann Aufsicht nicht nur reine Kontrolle bedeuten, sondern auch handlungsbegleitende Beratung werden, die Möglichkeitsräume erschließt.
Wer nicht klar regelt, verschafft der Praxis Rechtsunsicherheit und verschenkt die Freiheitschancen, die mit dem Recht auch verbunden sind.
Arbeitsweisen kirchlicher Gesetzgeber
In den Diözesen gibt es keine einheitlichen Standards zur Frage, wie der legislative Verfahrensgang einzurichten ist, damit kirchliche Gesetze die ihnen zuzumessenden Qualitäten aufweisen. Dazu gehören nicht nur Fragen der Zuständigkeit für den Erarbeitungs- und Beteiligungsprozess. Auch die Zeitdimension spielt eine Rolle. Gesetzgebungsprojekte und -prozesse werden nicht deshalb einfacher, weil das kirchenverfassungsrechtliche monokratische Konzept auf aufwendige Gesetzgebungsarbeiten in Form von parlamentarischen Beratungen u.a.m. verzichten kann. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Stellung und Funktion von Diözesanjustitiarinnen/Diözesanjustitiaren bei der Erstellung des legislativen „Endprodukts“. Schließlich bedarf gesetztes Recht der Implementierung. Es muss das Normwissen vermittelt werden und nicht alle Normbetroffenen und Rechtsanwender sind Juristen, von denen methodische Fähigkeiten und Fertigkeiten schöpferischer Rechtsanwendung erwartet werden können. All dies benötigt grundsätzlich ausreichend Zeit.
Wer den Weg zum Gesetz nicht ordnet, schafft das hohe Risiko sich zu verirren und legt den Grundstein für an sich vermeidbare Rechtsanwendungsprobleme.
Die legislative „Nachbetreuung“
Bei jedem baulichen Werk gibt es eine Nachphase, während das fertig gestellte Bauwerk schon in die Nutzung übergegangen ist. Diese Objektbetreuung als letzter Phase jedes baulichen Erfolgs lässt sich analog auf kirchliche Gesetze übertragen und ist nicht per se gleichzusetzen mit Evaluation, die unter anderen Gesichtspunkten am Ende einer zeitlichen Phase erst einsetzt. Auch der staatliche Rechtskreis kennt das Postulat der Selbstbeobachtungspflicht des Gesetzgebers, aus der dann eine Nachbesserungspflicht des Gesetzes folgen kann. Die legislative Nachbetreuung im hier verstandenen Sinne ist eine ständige Beobachtung des Gesetzesvollzugs in der Praxis und ist darauf auszurichten, dass es sinnvollen Anpassungsbedarf geben kann, der nicht zwangsläufig eine ausdrückliche Gesetzesänderung auslösen muss. Hinweise auf normative Gestaltungs- oder Auslegungsoptionen können zeigen, dass Stabilität der Rechtsordnung nicht a priori Flexibilitätserfordernissen zuwiderlaufen muss.
Wer die Nachbetreuung kirchlicher Gesetze in diesem Sinne sicherstellt, vermeidet frühzeitig normative Unterwetterlagen.
Einordnung zur Bedeutsamkeit legislativbezogener Selbstreflexion
Das Kölner Gutachten zum Umgang mit Missbrauch hat auch herausgearbeitet, dass der desolate und undurchsichtige kirchengesetzliche Regelungsapparat die lückenlose Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Kirche erschwert und teilweise sogar verhindert hat.
Kirchlichen Gesetzen, in welchen Bereichen auch immer, kommt ein hoher Stellenwert für das Gefüge kirchlicher Aufgabenverwirklichung zu. Nun sind kirchliche Gesetze nicht per se minderer Qualität oder unter Generalverdacht zu stellen. Aber es gibt Klärungsbedarfe und Verbesserungsnotwendigkeiten, die spätestens durch das Missbrauchsgutachten grundlegend und mit rechtsgrundsätzlicher Dimension aufgeworfen werden.
In einem sehr lesenswerten Vortrag zum Thema „Der unbeliebte, aber unentbehrliche Jurist“ hat der Freiburger Rechtsphilosoph und evangelische Kirchenrechtler Erik Wolf vor gut fünfzig Jahren die „verständig abwägende Rechtsvernunft“ der Juristinnen und Juristen hervorgehoben. Der alte Grundsatz „ubi societas, ibi ius“ ersetzt nicht die vielen, fundamentalen Facetten theologischer Selbstreflexion für die Selbstbeschreibung und den Vollzug von Kirche. Die aktuellen Vorgänge in all ihrer Unbeschreiblichkeit zeigen aber auch, dass die rechtliche Dimension von Kirche nicht nur „auf dem Papier steht“, sondern verantwortungsvoll gelebt und beständig „re-formiert“ werden muss. Daran in einem glaubwürdigen Sinne zu arbeiten, ist ebenso Aufgabe wie Aufgegebenes.
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Prof. Dr. Ansgar Hense ist Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands. Justitiar Karl Schmiemann leitet die Rechtsabteilung des Erzbistums Hamburg. Beide Autoren geben in diesem Beitrag ihre persönliche Auffassung wieder.
Das Bild zeigt den Eingangsbereich des Landgerichts Halle/Saale. Quelle: Albrecht E. Arnold – pixelio.de