Sophia Gollers und Milena Bücken über eine Studie zur Prävention sexualisierter Gewalt in den katholischen NRW-Bistümern mit der zentralen Erkenntnis: Regeln allein reichen nicht!
Die Anstrengungen der katholischen Kirche zur Prävention sexualisierter Gewalt haben das Bekanntwerden zahlreicher Taten zum erschütternden Ausgangspunkt (Dreßing et al. 2018; Ruh 2020, 31). Den Frauen und Männern, die ihre eigene Betroffenheit öffentlich gemacht haben, ist es zu verdanken, dass Entscheidungsträger in der katholischen Kirche in Deutschland vor über zehn Jahren entschieden haben, die Prävention sexualisierter Gewalt fest zu verankern. Viele haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende in Nordrhein-Westfalen engagieren sich seitdem in diesem Feld. Die Frage bleibt: Wie wirksam ist diese Präventionsarbeit? Die Studie PräNRW, die von den nordrhein-westfälischen (Erz‑)Bistümern in Auftrag gegeben wurde, sollte genau das untersuchen.
Wie kann gezählt und analysiert werden, was nicht passiert ist?
Jede Forschung zu Prävention steht aber vor einer zentralen Herausforderung: Wie kann gezählt und analysiert werden, was nicht passiert ist? Denn wenn etwas nicht geschieht, wirkt Prävention. Wenngleich also eine statistische Erfassung verhinderter Taten unmöglich bleibt, können die Bedingungen, die Übergriffe und Gewalt erschweren oder begünstigen, durchaus erkundet und ausgewertet werden. Ebenso können Veränderungen in Kulturen und Strukturen einer Organisation erfasst und bewertet werden, die Gewalt verhindern können – oder eben nicht. Und schließlich bleibt der Blick auf die Realität: Trotz aller Präventionsmaßnahmen wird es nie ganz gelingen, sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch zu vermeiden. Deshalb gilt es auch zu erfassen, zu welchen Übergriffen es trotzdem gekommen ist.
Bedingungen, die Übergriffe und Gewalt erschweren oder begünstigen
Um Antworten auf die Frage Kann Prävention wirken? zu finden, nutzte die Studie vielfältige Zugänge und Methoden: Interviews, Gruppendiskussionen, eine Online-Befragung und die Auswertung von Präventionsmaßnahmen und bekanntgewordenen Taten sexualisierter Gewalt. Im Zentrum standen vor allem die Perspektiven und Wahrnehmungen derjenigen, die von den Präventionsbemühungen der katholischen Kirche in NRW berührt sind – sei es als Kind oder Jugendlicher, als schutzbedürftige erwachsene Person, als Fachkraft oder verantwortliche Bistumsleitung. Die Ergebnisse lassen sich in drei Thesen bündeln:
- Die kritischen öffentlichen Diskurse um sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der katholischen Kirche seit dem Jahr 2010 zeigen in den nordrhein-westfälischen (Erz‑)Bistümern folgenreiche Wirkung
Das Bewusstsein für die eigene Verantwortung in der Prävention sexualisierter Gewalt ist bei den Leitungen der (Erz‑)Bistümer deutlich spürbar. Die Kirche – als große und vielgestaltige Organisation – hat getan, was Organisationen tun können, sie hat Prävention organisiert: Verbindliche Regeln wurden verabschiedet, Konzepte entwickelt, Strukturen der Verantwortung und Ansprechbarkeit geschaffen und Materialien erarbeitet. Doch Regeln und Papiere allein schützen niemanden; erst durch das Engagement der Haupt- und Ehrenamtlichen vor Ort werden diese Vorgaben mit Leben gefüllt und sind auch für die Kinder, Jugendlichen sowie schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen erlebbar. Sie kennen die Strukturen der Präventionsarbeit und teilen vermutete und bekannte Taten sexualisierter Gewalt nicht nur häufiger, sondern auch bei einer deutlich geringeren Schwelle der Gewalt mit.
Insgesamt positive Einschätzung der Maßnahmen
Menschen, die sich der katholischen Kirche in NRW verbunden fühlen, schätzen diese Präventionsarbeit insgesamt positiv ein: Etwa zwei Drittel der über 5.000 Teilnehmenden der Online-Befragung hat eine Verbesserung des Schutzes vor sexualisierter Gewalt wahrgenommen und erkennt an, dass die katholische Kirche in Nordrhein-Westfalen bereits viel für die Präventionsarbeit leistet. Kritische Stimmen gibt es auch, sie bleiben aber die Minderheit: Nur rund 10 % der Befragten stehen nicht klar hinter den Präventionsaktivitäten und dem damit verbundenen Ressourceneinsatz.
Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe auch heute noch Realität
Die Ergebnisse zeigen, dass das Präventionsengagement der katholischen Kirche insgesamt nicht (mehr) in Frage gestellt und quer durch die Strukturen von einer großen Mehrheit mit Überzeugung getragen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass durch die Studie nicht auch erhebliche Kritikpunkte und Verbesserungsnotwendigkeiten bezüglich der Strukturen, Vorgaben und deren Umsetzung deutlich gemacht werden können.
- Rund 15 Jahre später ist die Gestaltung und Umsetzung von Präventionsarbeit in den Mühen der Ebenen angekommen
Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe prägen auch heute noch das Leben von Menschen, die sich in katholischen Kontexten bewegen – das zeigen die Forschungswerkstätten mit Kindern, Jugendlichen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen ebenso wie die Auswertung der Daten zur Intervention. Deshalb muss eine „gewaltpräventive Organisationskultur“ (Caspari 2021) immer wieder eingefordert, gestaltet und verbessert werden.
Wie geht gewaltpräventive Organisationskultur?
Für die Entwicklung und Qualifizierung der Präventionsarbeit der katholischen Kirche in NRW lassen sich aus der Studie folgende konkrete Themen und Aufgaben ableiten:
(a) Prävention und Intervention sind keine abgegrenzten Aufgaben, sondern hängen vielfältig und eng zusammen. Wo sie nicht miteinander verzahnt werden, entstehen Reibungen – und wo diese nicht zeitnah bearbeitet werden, leidet der Schutz vor sexualisierter Gewalt. Die Herausforderung besteht also darin, klare und nachvollziehbare Zuständigkeiten zu schaffen, ohne die inhaltlichen und personellen Verbindungen zu verlieren. Dafür braucht Prävention nicht nur Regeln, sondern auch gemeinsame Orte für Kontroversen und Reflexion.
(b) Ohne eine systematische Erfassung der Vorfälle, Verdachtsfälle und Interventionen bleibt jede Einschätzung zum Gelingen der Präventionsarbeit vage. Sowohl fallbezogen als auch strukturell lassen sich daraus wesentliche Erkenntnisse für die Präventionsarbeit ableiten – nicht nur für die Qualitätssicherung der aktuellen Praxis, sondern auch für ihre Weiterentwicklung.
(c) Die moralischen und strukturellen Grundlagen der katholischen Kirche haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Präventionsarbeit. Zwei Beispiele genügen, um diese Spannungen zu verdeutlichen: Zum einen klaffen katholische Sexualmoral und weltliche Moralvorstellungen, die die Wirklichkeit der allermeisten Katholikinnen und Katholiken in irgendeiner Weise prägen, noch immer auseinander. Zum anderen unterscheiden sich die Vorstellungen über die Gleichheit der Geschlechter und die Ausgestaltung von Geschlechterrollen zwischen katholischer Kirche und weltlichen Wertvorstellungen deutlich. Diese Diskrepanzen können nicht aufgelöst werden. Für den Diskurs um die Wirksamkeit von Prävention aber müssen sie ernst genommen und bearbeitet werden.
- Prävention kann nur wirken, wenn Beteiligung und Mitwirkungen gelingen
Gehört werden, mitreden können und ernst genommen werden sind unabdingbare Voraussetzungen, damit Schutz vor Grenzverletzungen und Gewalt in Beziehungen gelingen kann – insbesondere dann, wenn diese Beziehungen ungleich sind, wie zwischen Kindern und Erwachsenen. Dass Partizipation ein zentraler Faktor für die Wirksamkeit von Prävention ist, gilt in der Forschung mittlerweile als unumstritten. In der katholischen Kirche steht eine tatsächlich gelebte Beteiligungskultur jedoch noch sehr am Anfang. Kinder, Jugendliche und schutz- oder hilfebedürftige Erwachsene nehmen vielfach wahr, dass ihre Beteiligung oft die Ausnahme bleibt, wenig systematisch und von Personen abhängig ist.
Nachholbedarf bei kirchlicher Beteiligungskultur
Nicht nur in den Äußerungen der Haupt- und Ehrenamtlichen, sondern auch in den Konzepten und Materialien zur Prävention zeigt sich hier noch viel Entwicklungsbedarf. Es braucht Orte und Gelegenheiten, an denen eine aktive und wirksame Beteiligung entwickelt und erprobt werden kann. Es braucht Strukturen, die die Mitgestaltung an Entscheidungsprozessen und im Alltag absichert. Und es braucht eine Kultur, in der die Stimmen der jungen sowie schutz- oder hilfebedürftigen Menschen wahrgenommen und gehört werden. Denn „nur wer beteiligt ist und sich beschweren kann, kann sich auch geschützt fühlen“ (Schrapper et al. 2022).
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Literaturverzeichnis
Bücken, Milena/Gollers, Sophia/Grafe, Bianca/Meysen, Thomas/Schrapper, Christian (im Erscheinen): Kann Prävention wirken? Forschung zur systematischen Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen sowie schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen in der katholischen Kirche in Nordrhein-Westfalen (PräNRW). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Caspari, Peter (2021): Gewaltpräventive Einrichtungskulturen: Theorie, Empirie, Praxis. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Dreßing, Harald/Saliz, Hans Joachim/Dölling, Dieter/Hermann, Dieter/Kruse, Andreas/Schmitt, Eric/Bannenberg, Britta/Hoell, Andreas/Voß, Elke/Collong, Alexandra/Horten, Barbara/Hinner, Jörg (2018): Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Forschungsprojekt (MHG-Studie), in: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_ downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf 1.
Ruh, Ulrich (2020): Chronik der Ereignisse: Deutschland – deutschsprachiger Raum – Europa, in: Hilpert, Konrad/Leimgruber, Stephan/Sautermeister, Jochen/Werner, Gunda (Hrsg.): Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche. Analysen – Bilanzierungen – Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Herder GmbH, S. 31–35.
Schrapper, Christian/Ahrens, Melanie/Hauß, Silja (2022): Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen gewährleisten. Qualitätsstandards und ein Handlungskonzept für die Beratung von Trägern in Niedersachsen. Schwerpunktbericht im Rahmen der niedersächsischen Landesjugendhilfeplanung, Münster: Institut für Soziale Arbeit e. V. (ISA).
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Bild: Projekt-Flyer
Dr. Milena Bücken ist Erziehungswissenschaftlerin und forscht zum Themenfeld Sexualität und Macht. Sie leitet den Arbeitsbereich Kinder- und Jugendhilfe im Institut für soziale Arbeit e.V.
Sophia Gollers ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für soziale Arbeit e.V. und arbeitet in unterschiedlichen Forschungsprojekten zu den Themen Prävention und Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt.
- 07.2024 ↩