Gleichzeitig mit der Frage, ob die Kirchenrechtswissenschaft in erster Linie Rechtswissenschaft oder Theologie ist, verhandeln Judith Hahn und Adrian Loretan in ihrem neuen Buch die Frage mit, was Kirchenrecht ist, wozu es dient und im Dienst welcher Zukunft von Kirche es steht. Deshalb ist die von Daniel Kosch vorgestellte Publikation nicht nur für Fachleute von Interesse.
Die Redensart «Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte» wird oft mit einem hämischen Unterton verwendet. Anders liegen die Dinge im Fall des «Streites», den Judith Hahn und Adrian Loretan in ihrem Buch austragen, das ideal in die Reihe der «Quaestiones disputatae» passt. Denn dieser «Streit», der seinen «Sitz im Leben» in Frühstücksgesprächen an Fachtagungen hatte, war für Autorin und Autor spürbar produktiv und bereichernd. Und bei jenen, die ihn als Lesende:r aufmerksam verfolgen, hinterlässt er nicht Schadenfreude, sondern den Eindruck, wie bereichernd es ist, wenn unterschiedliche Positionen nicht (wie in Sammelbänden üblich) nebeneinandergestellt werden, sondern miteinander ins Gespräch kommen.
Thema der freundschaftlichen Disputation der in Bonn lehrenden Kirchenrechtlerin Judith Hahn und des in Luzern lehrenden Kirchen- und Staatskirchenrechtlers Adrian Loretan ist die Frage, ob die Kirchenrechtswissenschaft primär als Rechtswissenschaft (so Loretan) oder als Theologie (so Hahn) zu verstehen und zu betreiben ist. Auf den ersten Blick mag diese wissenschaftstheoretische Frage abgehoben und praxisfern klingen. Aber schon nach der Lektüre der Einleitung ist klar, dass sie weitreichende Folgen hat. Versteht man die Kanonistik mit Loretan als Rechtswissenschaft, rücken der Dialog mit der neuzeitlichen, fundamental vom Menschenrechtsdenken geprägten Rechtswissenschaft und rechtsphilosophische Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Versteht man Kirchenrechtswissenschaft jedoch mit Hahn als praktische Theologie und Kirchenrecht als Applied Ecclesiology, kommt stärker der Betroffenenstandpunkt und damit die Frage in den Blick, «welche ekklesiologischen Normen die Entstehung eines bestimmten Rechts bedingen» (91).
Leserinnen und Lesern, die sich eher selten mit Kirchenrecht und kaum je mit dem Selbst- und Wissenschaftsverständnis der Kanonistik befassen, kommt sehr entgegen, dass die beiden Sichtweisen auf dreierlei Weise miteinander ins Gespräch gebracht werden: Zum einen in Form einer gemeinsamen Einleitung (7ff.), zum zweiten in Form von ausführlichen Interviews, in denen Autorin und Autor sich gegenseitig befragen (13ff. und 79ff.) und drittens in Form von Essays, in denen sie ihre Sicht darlegen, begründen und ihre praktischen Konsequenzen erläutern (29ff. und 107ff.). Dabei werden Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Formen der Präsentation in Kauf genommen, was den Vorteil hat, dass zentrale Anliegen und deren Implikationen deutlicher erkennbar werden.
Herangehensweisen, die sich nicht ausschliessen
Zudem zeigt sich, dass die beiden Herangehensweisen sich nicht ausschliessen: Hahn beont ausdrücklich, dass «eine theologische Deutung von Recht ja nicht zur Folge haben muss, Recht in seiner Rechtlichkeit nicht ernst zu nehmen» (81). Und Loretan argumentiert, dass «die kanonistische Rechtswissenschaft die Grundlagenwissenschaft» sei und «für die dringend benötigten Strukturreformen der Kirche» «theologische Kritik, wie grundlegend sie auch immer ist», nicht ausreiche, weil es «der institutionellen und rechtlichen Veränderungen bedürfe» (45f.). Dieses Argument lässt erkennen, dass er den Dialog mit der neuzeitlichen Rechtswissenschaft nicht nur aus wissenschaftstheoretischen, sondern auch aus theologischen und kirchenpolitischen Gründen für wichtig hält.
«Die Rechtswissenschaft der Kirche hat neu einen rechtsphilosophischen Perspektivenwechsel zu vollziehen, um mit der modernen Rechtswissenschaft der westlichen Rechtsstaaten auch in Zukunft im Dialog bleiben zu können. Von einem bisher theologisch vorausgesetzten absoluten Gottesstandpunkt ist zu einer subjektiven Perspektive der Freiheit der Menschen als Ebenbilder Gottes zu gelangen» (72).
Diesen Perspektivenwechsel versteht Loretan als rechtlich zwingende, aber bisher nicht vollzogene Konsequenz aus der Anerkennung der Religionsfreiheit und der Menschenrechte durch das Zweite Vatikanische Konzil. Zudem hält er ihn für unumgänglich, damit «die systemischen Ursachen der sexualisierten Gewalt in der Kirche nach Jahrhunderten endlich überwunden werden können», die Gläubigen nicht mehr «nur Zuschauer einer priesterlichen Liturgie und Kirche» bleiben, und die «absolutistische Machtstruktur der Klerikerkirche» überwunden werden kann (77).
In der Herangehensweise an die Thematik notwendiger Reformen der Kirche und des Kirchenrechts wird eine weitere grundlegende Differenz zwischen den Ansätzen und Hahn und Loretan erkennbar, die nicht die wissenschaftstheoretische Verortung der Kanonistik, sondern das Verständnis des (Kirchen)Rechts selbst betrifft.
Natur- und Vernunftrecht oder Kulturrecht?
Loretan argumentiert primär natur- und vernunftrechtlich und betont mit Berufung auf Jürgen Habermas mehrfach, dass das moderne, auf Vernunft und der Autonomie des Subjektes beruhende Rechtsverständnis und die Menschenrechte ihr Fundament schon in der mittelalterlichen Kanonistik haben. An diese natur- und vernunftrechtliche Tradition, von welcher die Kirche sich nach der Französischen Revolution verabschiedet habe, gelte es wieder anzuknüpfen, wozu das Zweite Vatikanische Konzil die Grundlagen geschaffen habe, während die «strukturelle Veränderung der Kirche durch die Menschenrechte der Gläubigen uns noch bevor[steht]» (15).
Hahn hingegen ist gegenüber «Naturrechtstheorien eher skeptisch, weil sie im Grunde immer verdeckt mit dem Machtargument arbeiten. Einfach gesagt: im Zweifel darüber, was das natürliche Gerechte ist, entscheidet der Stärkere» (97). Sie betont: «Rechte sind kulturelle Errungenschaften» und auch Naturrecht sei «in dem Sinn Kulturrecht, insoweit wir es bei ‘Natur’ immer mit kulturell gedeuteter Natur zu tun haben» (99). Recht entstehe «ja nie in idealen Diskurskonstellationen» (103) und «die Annahme, dass es universale Werte gibt», bedeute nicht zugleich, dass man «auf der Basis dieser Werte zu denselben normativen Schlüssen kommt» (106). Dementsprechend stellt Hahn infrage,
«ob kanonistische Entwürfe eine realistische Chance haben, das kirchliche Recht nachhaltig zu reformieren oder dazu beizutragen. […] Wenn sich die dem Recht zugrunde liegenden Kirchenvorstellungen nicht ändern, ändert sich auch das Recht nicht bzw. nicht nachhaltig. […] Eine Änderung der Kirchenvorstellungen muss lehramtlich initiiert werden. Das setzt an einigen Stellen fundamentale Veränderungen der kirchlichen Lehre voraus. […] Die Bereitschaft dazu ist aktuell kaum zu erkennen. Hier fehlt es meines Erachtens bereits an der Bereitwilligkeit des Lehramts, von der wissenschaftlichen Theologie zu lernen. Wenn sich also die lehramtliche Anthropologie und Ekklesiologie völlig ungeneigt zeigen, das 19. Jahrhundert zu verlassen und dazuzulernen, sehe ich auch nicht, wie der Gesetzgeber von der wissenschaftlichen Kanonistik lernen könnte. Und das eben nicht nur, weil offensichtlich die Bereitschaft fehlt, sich wissenschaftlich belehren zu lassen, sondern auch, weil rechtliches Lernen nur auf der Basis einer veränderten kirchlichen Lehre erfolgreich sein kann» (95).
Mit der Frage, wie die Aufgabe der Kirchenrechtswissenschaft zu verstehen ist, verhandeln Hahn und Loretan immer auch die Frage mit, was Kirchenrecht ist, wozu es dient und im Dienst welcher Zukunft von Kirche es steht.
Die Ansätze von Hahn und Loretan unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Frage, ob die Kanonistik primär theologisch oder rechtswissenschaftlich zu verorten ist. Mindestens so weitreichend ist die Differenz zwischen einem stärker rechtsphilosophischen, natur- und vernunftrechtlichen und einem stärker kulturwissenschaftlich-soziologisch geprägten Zugang zum Kirchenrecht, der «nach der Norm hinter der Norm fragt» (93). Diese Differenz hat weitreichende Auswirkungen auf das kirchenrechts-politische Fazit der beiden Beiträge.
Jener von Loretan mündet in einer Art kategorischem Imperativ: «Was nach aussen […] als Stand der Gerechtigkeitsdiskussion gepredigt wird, muss nach innen im Kirchenrecht umgesetzt werden» (78).
Der Anspruch von Hahn ist bescheidener. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Veränderung des Kirchenrechts nur auf Basis einer veränderten kirchlichen Lehre erfolgreich und daher Sache des Lehramtes ist (94f.), und legt den Akzent auf die «wissenschaftsimmanente Aufgabe», sich an der Klärung des Verhältnisses von Recht und Religion zu beteiligen und «das Verständnis der rechtlichen Dimension von Religion sowie der religiösen Bedeutungsebenen von Religion zu vertiefen». Die Kanonistik könne «der Kirchenentwicklung nutzen […] Hierin findet sie aber nicht ihren Grund» (142).
Mit der Frage, wie die Aufgabe der Kirchenrechtswissenschaft zu verstehen ist, verhandeln Hahn und Loretan de facto immer auch die Frage mit, was Kirchenrecht ist, wozu es dient und im Dienst welcher Zukunft von Kirche es steht. Das macht die Lektüre gleichzeitig anregend und anspruchsvoll.
Judith Hahn/Adrian Loretan, Kanonistik – Rechtswissenschaft oder Theologie? (Quaestiones Disputatae 336), Freiburg i. Br. 2024, 144 Seiten.
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Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).