Immanuel Kant (1724-1804) wurde heute vor 300 Jahren geboren. Margit Wasmaier-Sailer zollt dem Philosophen Respekt, sieht aber keinen Anlass zu Verehrungsbezeigungen.
„Fontenelle sagt: Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzu setzen: Vor einem niedrigen, bürgerlich gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum das? Sein Beispiel hält mir ein Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befolgung, mithin die Thunlichkeit desselben, ich durch die That bewiesen vor mir sehe. Nun mag ich mir sogar eines gleichen Grades der Rechtschaffenheit bewußt sein, und die Achtung bleibt doch. Denn da beim Menschen immer alles Gute mangelhaft ist, so schlägt das Gesetz, durch ein Beispiel anschaulich gemacht, doch immer meinen Stolz nieder, wozu der Mann, den ich vor mir sehe, dessen Unlauterkeit, die ihm immer noch anhängen mag, mir nicht so wie mir die meinige bekannt ist, der mir also in reinerem Lichte erscheint, einen Maßstab abgiebt. Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.“[1]
Moral als egalisierende Instanz
Immanuel Kant, der die reine Vernunfterkenntnis so feinsäuberlich von der Erfahrungswelt scheidet, legt in seinem Werk immer wieder sehr erhellende Beschreibungen von moralischen Erfahrungen vor und entschlüsselt paradoxerweise genau mit diesen Beschreibungen seine abstrakten moralphilosophischen Überlegungen. Hinter dem Rücken der Moralphilosophie taucht die Erfahrungswelt dann also doch wieder auf, ob nun willentlich oder nicht – Gott sei Dank jedenfalls! Das Zitat aus der „Kritik der praktischen Vernunft“ enthält eine dieser Beschreibungen: Es geht um die Achtung vor Menschen, deren Rechtschaffenheit in irgendeiner Weise zu Tage tritt. Wie Kant ausführt, flößt moralische Integrität unwillkürlich Respekt ein. Besitze ein Mensch sie in höherem Maße als er selbst, könne er nicht anders, als ihm Anerkennung zu zollen. Welchem Stand dieser Mensch auch angehöre – vor ihm bücke sich sein Geist. Kant hat sich in dieser Passage anregen lassen von Bernard le Bovier de Fontenelle, demzufolge eine höflichkeitsmäßige Verneigung vor einem Vornehmen nicht zu verwechseln sei mit einer geistigen Verneigung. Mit Fontenelle lässt Kant das Standesdenken hinter sich und ist darin ganz ein Kind seiner Zeit, die das gesellschaftliche Koordinatensystem neu abgesteckt hat. Die Aufklärung ist die Zeit der Demokratisierung und der Menschenrechte. Im kantischen Denken ist die egalisierende Instanz, der Dreh- und Angelpunkt einer neuen normativen Ordnung, die Moral: Die Moral trifft ihre Urteile ohne Ansehen der Person und wirkt auch insofern antielitistisch, als sie vermittelt über das Gewissen allen Menschen und nicht nur wenigen Auserwählten präsent ist. Um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein, bedürfe es keiner Wissenschaft und Philosophie, sondern allein des gesunden Menschenverstandes und des gemeinen Vernunfturteils, wie Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ herausstellt.[2]
Die tiefsten Motive des menschlichen Herzens kennt allein Gott
Interessanterweise geht Kant in der obigen Passage von der Möglichkeit aus, dass moralische Rechtschaffenheit sinnlich wahrgenommen werden kann: In sichtbaren Taten und durch beispielhaftes Verhalten könne sie zum Gegenstand der Anschauung werden und als solcher das Gefühl der Achtung auslösen. Generell ist Kant eher skeptisch, was die moralische Beurteilung des menschlichen Herzens betrifft. In besonderer Weise gilt das für die Selbsterkenntnis des Menschen, von der er sagt: „selbst die innere Erfahrung des Menschen an ihm selbst läßt ihn die Tiefen seines Herzens nicht so durchschauen, daß er von dem Grunde seiner Maximen, zu denen er sich bekennt, und von ihrer Lauterkeit und Festigkeit durch Selbstbeobachtung ganz sichere Kenntniß erlangen könnte.“[3] Der Mensch wird nach Kant nie erkennen können, ob er wirklich einen guten Willen hat; die tiefsten Motive des menschlichen Herzens kenne allein Gott – er aber kenne sie alle. Unbenommen dessen habe der Mensch durchaus ein Gespür für seinen Eigendünkel und seine Unlauterkeit – die Achtung vor der moralischen Größe eines Mitmenschen stelle sich gerade im Bewusstsein um die eigene Fehlbarkeit ein.
Realistischer Blick auf die Möglichkeiten menschlicher Charakterbildung
Achtung – auch das ist noch eine Anmerkung wert – hat nach Kant nichts mit Lobhudelei zu tun. Der Rechtschaffene ist kein „moral saint“[4], er ist kein Held und auch kein Heiliger. Vielmehr ist er ein Mensch wie alle anderen auch, mit Ecken und Kanten. Die Rechtschaffenheit zeigt sich womöglich inmitten von Charakterzügen, die diese zunächst nicht unbedingt erwarten lassen. Ein Beispiel hierfür ist der von Gram umwölkte und um sich selbst kreisende Grübler, der die Not anderer Menschen kaum noch sieht, sich aber dennoch – aus reinem Pflichtgefühl heraus – dazu entschließt, Hilfe zu leisten.[5] Das Beispiel ist so gelagert, dass sich die Rechtschaffenheit als mühsam errungene Haltung von einer charakterlich geschwächten Verfassung abhebt. Insgesamt ist Kant ein recht realistischer Blick auf die Möglichkeiten menschlicher Charakterbildung zu attestieren. Seine Achtung gilt Menschen, die gerade nicht über den Dingen schweben. Nach Kants Auffassung ist das menschliche Leben stets von Anfechtung bedroht und daher ein fortwährendes Ringen um Tugend. Das Attribut der Heiligkeit bleibt aus seiner Sicht Gott allein vorbehalten. Dass es Kant bei der Achtung vor dem Rechtschaffenen zwar um eine angemessene Ehrerbietung, nicht aber um Verehrung geht, wird an seiner Schilderung ebenfalls deutlich: Die Begegnung mit ihm schlägt seinen eigenen Stolz nieder – sie befördert keinerlei Anhänglichkeit. Diese Erdung, ja Entzauberung der Moral, zeigt sich auch auf der Ebene der Motivation: Nach Kant sollte sich Tugendhaftigkeit nicht aus einer Anhänglichkeit an moralische Vorbilder speisen, denn dies wäre nichts anderes als moralische Schwärmerei. Vielmehr gehe es darum, das Joch des Gesetzes zu tragen, das als von der Vernunft auferlegtes gleichwohl ein leichtes sei. Darum, um nicht mehr, aber auch um nicht weniger, gehe es.[6]
Aller Respekt, aber keine Verehrungsbezeigungen
Kant war ganz sicher kein fehlerfreier Mensch. Aus heutiger Sicht sind ihm vor allem seine rassistischen Thesen und sein Antijudaismus vorzuwerfen. Selbst wenn man beides in den historischen Kontext einordnen kann, ist er von diesen intellektuellen Irrwegen nicht freizusprechen. Kants Werk ist an den Maßstäben zu messen, die er selbst vorgelegt hat – seine vorurteilsbeladenen anthropologischen oder religiösen Hierarchisierungen verfehlen diese Maßstäbe in eklatanter Weise. Schon zu Kants Zeit waren andere Einstellungen möglich. Gerade Kant mit seinem genauen Sinn für die Würde der Person und die Rechte aller Menschen muss sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Es besteht anlässlich von Kants 300. Geburtstag also kein Anlass zu Verehrungsbezeigungen. Wohl aber verdient Kants klare Sicht auf das, was Moralität im Kern ausmacht und worin ihre religiöse Dimension besteht, allen Respekt. Die über sein Werk verstreuten Beispiele legen eindrücklich Zeugnis davon ab, dass er wusste, wovon er spricht.
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[1] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1908 [Nachdruck 1968]. 76-77.
[2] Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1903 [Nachdruck 1968]. 404.
[3] Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Gesammelte Schriften. Bd. 6. Hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1907 [Nachdruck 1968]. 63.
[4] Susan Wolf: Moral Saints. In: The Journal of Philosophy 8 (1982). 419-439.
[5] Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1903 [Nachdruck 1968]. 404.
[6] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1908 [Nachdruck 1968]. 84-85.
Margit Wasmaier-Sailer ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Luzern. 2018 publizierte sie eine Monographie über «Das Verhältnis von Moral und Religion bei Johann Michael Sailer und Immanuel Kant».