Das Beispiel des ehemals berühmten und einflussreichen Tübinger Theologen Karl Adam zeigt: Freiheit, Demokratie und menschliche Autonomie schätzte man auch auf reformtheologischer Seite lange nicht. Von Lucia Scherzberg.
Schaut man auf die Geschichte der Theologie im 20. Jahrhundert, scheinen sich die Probleme endlos zu wiederholen. Eine reformorientierte Theologie steht gegen eine beharrende, und meistens unterliegt die erstere im Konflikt. Die reformorientierten Theologen und inzwischen auch Theolog*innen wollen eine Öffnung der Kirche hin zur modernen Gesellschaft. Die konservative Seite fürchtet, dass die Substanz des Glaubens beschädigt und die Identität der katholischen Kirche verloren geht. Im Laufe der Zeit entstand eine „große Erzählung“ von den Vorläufern des Zweiten Vatikanischen Konzils, deren Anliegen im Konzil endlich zum Zuge gekommen seien.
Die „große Erzählung“ von den Vorläufern des Konzils
Gemeint sind die Reformtheologen der Jahrhundertwende im Umfeld der sog. Modernismuskrise, der Aufbruch der katholischen Theologie in den 1920er Jahren unter dem Stichwort „Raus aus dem Ghetto!“ und Reformgruppen aus den 1930er und 1940er Jahren, die teils mit dem Nationalsozialismus zusammenbrachen, teils bis in die 1950er Jahre hinein aktiv waren. Schon unmittelbar nach dem Konzil ging es allerdings mit der Konfrontation der theologischen „Lager“ weiter. Und bis in die Gegenwart des Synodalen Weges in der deutschen Kirche scheint sich nicht viel geändert zu haben.
Die Frage ist, ob die „große Erzählung“ tatsächlich zutrifft. Hatten die Reformtheolog*innen wirklich die gleichen Ziele? Im wilhelminischen Kaiserreich strebten, z.B. Herman Schell oder Albert Ehrhard nach einer Gleichstellung des Katholizismus mit dem Protestantismus. Sie wollten, dass die katholische Kirche und ihre Mitglieder nicht mehr als hoffnungslos rückständig betrachtet wurden. Dazu gehörte dann aber auch die unbedingte Identifikation mit der deutschen Nation.
Die katholischen Reformbestrebungen in den 1920er Jahren profitierten von den neuen Verhältnissen in der jungen Republik, strebten aber nicht nach Demokratie oder rechtsstaatlichen Verhältnissen in der Kirche, auch wenn viel von der Mündigkeit der Laien und von Kirche als Gemeinschaft die Rede war. Im Gegenteil war die Bejahung der hierarchischen Struktur und der Autorität in der Kirche zumeist ungebrochen. Von 1933 bis 1945 liebäugelte so manche Reformgruppe mit dem Nationalsozialismus und betrachtete ihn als Katalysator für die angestrebte Erneuerung der Kirche.
Ein prominentes Beispiel: Karl Adam
Am Beispiel Karl Adams, eines überaus prominenten, aber zumindest im deutschsprachigen Gebiet meist in Vergessenheit geratenen Theologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, möchte ich die Frage stellen, ob seine Theologie tatsächlich „modern“ war. Karl Adam, 1876 geboren, durchlief in seiner theologischen Karriere alle oben genannten Phasen. Seine historisch-kritischen Qualifikationsarbeiten zu dogmengeschichtlichen Themen entstanden zur Zeit der Modernismuskrise, einer seiner Lehrer war Albert Ehrhard. Der junge Wissenschaftler geriet mehrfach durch Denunziationen in Konflikt mit den kirchlichen Behörden. Diese Auseinandersetzungen verliefen glimpflich, weil die staatliche Regierung in Form des bayerischen Königshauses zu seinen Gunsten intervenierte.
Als Adam den Antimodernisten-Eid ablegen sollte, stürzte ihn das in eine existenzielle Krise. Mit dem Ersten Weltkrieg, dessen Beginn er mit Begeisterung erlebte, änderte sich seine theologische Grundeinstellung. Er gab das historisch-kritische Arbeiten zugunsten einer „Wesensschau“ des Katholischen auf, die nur von innen heraus betrieben werden konnte. Kirche als Gemeinschaft und ein heldisch-maskulin getönter Christus waren die Gegenstände seiner berühmtesten Bücher, die auf fast der ganzen Welt gelesen wurden.
Option für den Nationalsozialismus
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, begrüßte Adam dies enthusiastisch und verglich es mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Das deutsche Volk sei nun wieder geeint und eine wirkliche Gemeinschaft unter einer messianischen Führergestalt. 1940 schloss sich der prominente Professor einer Gruppe nationalsozialistischer Priester an, die in Österreich entstanden war und nach dem Verbot durch die dortigen Bischöfe verdeckt in verschiedenen Teilen des Deutschen Reiches arbeitete. Mit einem der führenden Priester der Gruppe stand er in engem Austausch und entwickelte einen radikalen Antisemitismus. Nach dem Krieg schwieg Adam stets über die Zeit des Nationalsozialismus und konnte seine Laufbahn ungehindert fortsetzen. Er wurde sogar in eine der vorbereitenden Kommissionen für das Zweite Vatikanische Konzil berufen, konnte aber aufgrund einer fortschreitenden Demenz nicht mehr mitarbeiten.
Adam selbst betrachtete die „Moderne“ nach seinem theologischen Umschwung hauptsächlich als negativ. Ihre Wurzeln sah er in der Aufklärung und bezeichnete sie als „zersetzend“, „kalt“, „lebensfremd“ und „unfruchtbar“, darüber hinaus als religionsfeindlich und unsozial. Als sozial galt ihm nun nicht wie vor dem Ersten Weltkrieg Caritas, Wohlfahrt oder Nächstenliebe, sondern nur das, was der „Volksgemeinschaft“ diente. In seiner Antrittsvorlesung als Professor der Dogmatik in Tübingen 1919 lehnte er eine Begründung des Glaubens mit Hilfe der Vernunft ab und betonte, dass das irrationale Erlebnis entscheidend für den Glauben sei. Dieses Erlebnis stellte er nicht als individuelles und individualisierendes vor, sondern als kollektives, z.B. im Pfingsterlebnis der Jünger.
Feindbild Autonomie
Ein besonderes Feindbild war dem Dogmatiker der autonome Mensch der Moderne. Diesen hielt er für entwurzelt und abgetrennt vom Absoluten im religiösen Bereich und von der „Volksgemeinschaft“ im weltlichen Bereich. Die historische Kritik betrachtete er nun als „zersetzend“, insbesondere dann, wenn sie den historischen Jesus vom Christus der Verkündigung trennen wolle. Denn in der Geschichte lebe und wirke der „ganzheitliche“ Christus. Einen besonderen Schwerpunkt legte Adam allerdings auf die Menschlichkeit Jesu. Diese entfaltete er breit als Maskulinität und Heldentum: Jesus zeichneten körperliche Fitness, Willensstärke und eiserne Disziplin aus.
Für das parlamentarische System der Weimarer Republik hatte Adam nur Verachtung übrig. „Parteihader“ und kaltes politisches Denken zerreiße die Gemeinschaft des deutschen Volkes. Zunehmend betrachtete er die „Volksgemeinschaft“ als eine auf dem „Blut“ beruhende, aus der Jüdinnen und Juden ausgeschlossen waren. Der Theologe suchte nun nach Verbindungen zwischen katholischem Christentum und deutschem Volkstum und fand sie in dem traditionellen theologischen Schema von Natur und Gnade. In diesem baut die göttliche Gnade auf der „Natur“ des Menschen auf. „Natur“ meint hier so etwas wie eine Grundausstattung des Menschen und auch jedes anderen Lebewesens, die es erlaubt, ziel- und zweckgemäß zu leben – ein Gedanke, der auf Aristoteles zurückgeht. Für die Gemeinschaft mit Gott ist jedoch die Gnade notwendig, dies kann der Mensch nicht aus eigener Kraft herstellen. Adam verstand Natur nun biologistisch-rassistisch als „deutsche Natur“ und schrieb dieser eine besondere Eignung zum Empfang der göttlichen Gnade zu.
Vieles von dem, was heutige Menschen als „modern“ empfinden oder definieren, beispielsweise die Autonomie der Einzelnen, eine demokratisierte Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Verhältnissen, Gleichheit und allenfalls flache Hierarchien, wurde von Adam vehement abgelehnt. War seine Theologie also nicht modern? Die Grundstimmung innerhalb der Reformbewegungen in der Weimarer Republik, auch der nicht-kirchlichen, wäre in diesem Sinne auch nicht modern. Folgt man jedoch bestimmten theoretischen Konzepten zur Modernisierung von Gesellschaften, zeigt sich, dass in der Weimarer Republik Fortschrittsoptimismus und Verwissenschaftlichung des Alltags auf der einen und die Kritik an Fortschritt, Wissenschaft, Rationalität und Kultur nebeneinander existierten.
Nebeneinander von Fortschrittsoptimismus und wissenschaftskritischem Irrationalismus
Der Modernisierungsprozess der Gesellschaft durch Industrialisierung, Wissenschaft etc. führte zu Verwerfungen, die uns heute wohlbekannt sind. Dies rief Gegenreaktionen hervor, die in ihrem antimodernen Gewand aber ebenfalls Produkt der Moderne sind. Ebenso kann es Gegensätze innerhalb von modernen Konzepten geben, z.B. zwischen Freiheit und Kontrolle oder Rationalität und Emotionalität. So ist ein kultur- und wissenschaftskritischer Irrationalismus genauso „modern“ wie die wissenschaftliche Rationalität.
In diesem Sinne ist Adams Theologie tatsächlich gerade in ihren antimodernen Elementen modern. Wir finden auch die Widersprüche der Moderne wieder. Er lehnte beispielsweise die neuzeitliche Vernunft ab, propagierte aber einen ebenso modernen Irrationalismus und Vitalismus. Die Freiheit seines eigenen Denkens, insbesondere gegenüber dem kirchlichen Lehramt, war ihm besonders wichtig, auf der anderen Seite schätzte er Autorität, Hierarchie und Disziplin.
Auch wenn dies nur Spekulation sein kann: Wäre Karl Adam heute Delegierter auf dem Synodalen Weg, wäre er vermutlich nicht auf der Seite derer, die Gewaltenteilung und rechtsstaatliche Verhältnisse in der Kirche fordern, oder für die die Selbstbestimmung der Menschen ein wichtiges Rechtsgut ist. So einfach ist es also nicht mit der Kontinuität der verschiedenen „Lager“.
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Lucia Scherzberg ist Professorin für Systematische Theologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und Mitherausgeberin von theologie.geschichte.
Portraitphoto Scherzberg: Beate Wehrle
Beitragsphoto: Alexius J. Bucher
Weiterführende Literatur:
Lucia Scherzberg, Karl Adam und die Ambivalenz der Moderne, in: Magnus Lerch/Christian Stoll (Hg.), Gefährdete Moderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf die katholische Reformtheologie der Zwischenkriegszeit, Freiburg 2021, 240-264
Dies., Karl Adam und der Nationalsozialismus (2011), 2. Aufl. Darmstadt 2023, auch: https://theologie-geschichte.de/ojs2/index.php/tg_beihefte/issue/viewIssue/53/21
Dies., Zwischen Partei und Kirche. Nationalsozialistische Priester in Österreich und Deutschland 1938-1944, Frankfurt/M 2020